Falsche Welt
Wer das Buch Austerlitz aufschlägt und sich vom Dichter mit auf die Fahrt nach Antwerpen nehmen läßt, mag sich schon bald vorkommen wie die schöne junge Lilofee, die Quartier am Grunde des Sees beziehen muß. Der Leser wird in den Nachtzoo entführt, den er sich, wohl zu Unrecht, als unterirdische Anlage vorstellt. Mit dem Leben unter Wasser wird er tatsächlich erst siebzig Seiten später vertraut, aber schon hier kann er sich, in Form einer Trockenübung, auf die dort herrschenden Lebens- und Lichtverhältnisse einstellen. In dem künstlichen Halbdunkel sind verschiedene Tiere zu erkennen, die hinter der Verglasung ihr von einem fahlen Mond beschienenes Dämmerleben führen. Der Dichter gibt vor, sich an die einzelnen Tierarten nicht zu entsinnen, zählt sie dann aber doch in detaillierter Ausführlichkeit auf. Wirklich gegenwärtig geblieben sei ihm nur der Waschbär, der mit ernstem Gesicht an einem Bächlein saß und immer wieder denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Von allen Tieren aber seien die auffallend großen Augen in der Erinnerung geblieben und jener unverwandt forschende Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt.
Der Text könnte hier enden, es wäre dann eine kleine in sich geschlossene Geschichte wie La cour de l’ancienne école, wie diese mit offenem Ende. Allerdings würde man schon gerne erfahren, was die Maler und Philosophen mit reiner Anschauung und reinem Denken zustande bringen, also fahren wir fort. Als Eröffnungsszene des ganzen Buches läßt sich das Nocturama prinzipiell zu allen nachfolgenden Motiven in Beziehung setzen, wenn auch nicht in der jeweils gleichen Weise. Die Beziehung kann eng sein oder aber lose, sie kann auf Ähnlichkeit beruhen oder auf Kontrast. Der Bericht vom versunkenen Ort Llanwddyn scheint eine besonders enge Affinität zum Nocturama zu haben.
Schaut man herab von der Staumauer von Vyrnwy, so muß man wissen, daß vielleicht hundert Fuß unter dem dunklem Wasser noch mindestens vierzig Häuser und Höfe stehen, ferner die Kirche zum heiligen Johann und drei Kapellen und drei Bierschenken, und man stellt sich vor, daß die Dorfbewohner drunten in der Tiefe weiterhin in ihren Häusern sitzen und auf der Gasse herumgehen, aber ohne sprechen zu können und mit viel zu weit offenen Augen. Nachts vor dem Einschlafen ist es uns, als seien auch wir untergegangen in dem dunklen Wasser, nicht anders als die armen Seelen von Vyrnwy, die Augen weit offen, um hoch über uns einen schwachen Lichtschein zu sehen und das von den Wellen gebrochene Spiegelbild des steinernen Turms, der so furchterregend für sich allein an dem bewaldeten Ufer steht.
Die gleichen weit geöffneten Augen im Nachtzoo und unter Wasser. Die Augen der Nachttiere setzen sich fort in den Augen der Maler und Philosophen, die Augen der Seelen am Grund auf der Suche nach einem schwachen Lichtschein hoch oben verlängern sich in die Augen Dafydds, des jungen Austerlitz. Mehr noch als der Waschbär, so wird man urteilen, sind die Wassermänner und -frauen in einer falschen Welt. Beim Waschbären scheint klar zu sein, was zu tun wäre, man müßte ihn in die rechte Welt der Freiheit entlassen, mit den Wasserseelen aber verbündet sich Austerlitz, der sich selbst im überirdischen Leben am falschen Ort sieht, und am Grunde des Sees womöglich sogar einen richtigeren erahnt. Wo ist die richtige und wo ist die falsche Welt, vielleicht ist es auch mit dem Waschbären so einfach nicht.
Beim Philosophen des reinen Denkens kann man an Kant und seine reine Vernunft denken, abgebildet ist aber Wittgensteins Augenpaar. Sebald hat im Gespräch bekannt, die Person Wittgenstein habe ihn immer fasziniert, Wittgensteins Philosophie aber sei ihm fremd und verschlossen geblieben. Vielleicht war ihm aber doch Wittgensteins Zielbestimmung der Philosophie vertraut, die darin bestehe, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Motivisch klingt dabei Platons Höhlengleichnis an, das die Philosophie ständig neu ermuntert, im Kern ist Wittgensteins Diktum aber wohl eine herabgetönte Variation auf Kants triumphalen Auszug aus der Unmündigkeit, die obendrein noch selbstverschuldet sein soll. Dem Waschbären wird man die Mündigkeit seiner Gattung nicht absprechen, und von der Schuld an seiner Lage wird er ausdrücklich freigesprochen. Ob die Fliege, der die ihr zur Verfügung stehende Vernunft innerhalb des Fliegenglases nicht geholfen hat, mit dieser außerhalb des Glases viel anfangen kann, bleibt die Frage. Was findet sie vor außerhalb des Glases, was der Waschbär außerhalb des Zoos. Es gebe kein richtiges Leben im falschen, heißt es, gibt es eine richtiges Welt neben oder hinter der falschen? Die Philosophen haben neben die falsche Welt immer wieder richtige Welten gestellt in Form von Utopien, die sich aber ihrerseits schon bald samt und sonders als Irrtum erwiesen haben. Wittgenstein macht denn auch in Kenntnis der Philosophiegeschichte keinerlei Versprechen zur Situation außerhalb des Fliegenglases.
Die Bilder der Maler, um uns ihnen zuzwenden, zumal diejenigen Pisanellos (das abgebildete Augenpaar ist dasjenige Jan Peter Tripps), mögen im Dichter den Wunsch erwecken, alles aufgeben zu können außer dem Schauen, aber die reine Anschauung ist nicht sein Metier. Wie der Philosoph ist er der Sprache verpflichtet und damit dem Denken, wenn auch nicht in der reinen Form. Wie der Maler geht er aus von der Anschauung, kann sie aber bei der Übertragung in Sprache nicht rein halten. In der Sprache, dies- oder auch jenseits der reinen Anschauung und des reinen Denkens, erschafft der Dichter fiktionale und als solche falsche Welten, die uns nicht selten aber gegenüber der realen, in der wir leben, als richtiger und vertrauenswürdiger erscheinen. Geborgen im Text, sind wir nicht sicher, ob wir nach einem Ausweg aus diesem Fliegenglas suchen sollen.
Der Text könnte hier enden, es wäre dann eine kleine in sich geschlossene Geschichte wie La cour de l’ancienne école, wie diese mit offenem Ende. Allerdings würde man schon gerne erfahren, was die Maler und Philosophen mit reiner Anschauung und reinem Denken zustande bringen, also fahren wir fort. Als Eröffnungsszene des ganzen Buches läßt sich das Nocturama prinzipiell zu allen nachfolgenden Motiven in Beziehung setzen, wenn auch nicht in der jeweils gleichen Weise. Die Beziehung kann eng sein oder aber lose, sie kann auf Ähnlichkeit beruhen oder auf Kontrast. Der Bericht vom versunkenen Ort Llanwddyn scheint eine besonders enge Affinität zum Nocturama zu haben.
Schaut man herab von der Staumauer von Vyrnwy, so muß man wissen, daß vielleicht hundert Fuß unter dem dunklem Wasser noch mindestens vierzig Häuser und Höfe stehen, ferner die Kirche zum heiligen Johann und drei Kapellen und drei Bierschenken, und man stellt sich vor, daß die Dorfbewohner drunten in der Tiefe weiterhin in ihren Häusern sitzen und auf der Gasse herumgehen, aber ohne sprechen zu können und mit viel zu weit offenen Augen. Nachts vor dem Einschlafen ist es uns, als seien auch wir untergegangen in dem dunklen Wasser, nicht anders als die armen Seelen von Vyrnwy, die Augen weit offen, um hoch über uns einen schwachen Lichtschein zu sehen und das von den Wellen gebrochene Spiegelbild des steinernen Turms, der so furchterregend für sich allein an dem bewaldeten Ufer steht.
Die gleichen weit geöffneten Augen im Nachtzoo und unter Wasser. Die Augen der Nachttiere setzen sich fort in den Augen der Maler und Philosophen, die Augen der Seelen am Grund auf der Suche nach einem schwachen Lichtschein hoch oben verlängern sich in die Augen Dafydds, des jungen Austerlitz. Mehr noch als der Waschbär, so wird man urteilen, sind die Wassermänner und -frauen in einer falschen Welt. Beim Waschbären scheint klar zu sein, was zu tun wäre, man müßte ihn in die rechte Welt der Freiheit entlassen, mit den Wasserseelen aber verbündet sich Austerlitz, der sich selbst im überirdischen Leben am falschen Ort sieht, und am Grunde des Sees womöglich sogar einen richtigeren erahnt. Wo ist die richtige und wo ist die falsche Welt, vielleicht ist es auch mit dem Waschbären so einfach nicht.
Beim Philosophen des reinen Denkens kann man an Kant und seine reine Vernunft denken, abgebildet ist aber Wittgensteins Augenpaar. Sebald hat im Gespräch bekannt, die Person Wittgenstein habe ihn immer fasziniert, Wittgensteins Philosophie aber sei ihm fremd und verschlossen geblieben. Vielleicht war ihm aber doch Wittgensteins Zielbestimmung der Philosophie vertraut, die darin bestehe, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Motivisch klingt dabei Platons Höhlengleichnis an, das die Philosophie ständig neu ermuntert, im Kern ist Wittgensteins Diktum aber wohl eine herabgetönte Variation auf Kants triumphalen Auszug aus der Unmündigkeit, die obendrein noch selbstverschuldet sein soll. Dem Waschbären wird man die Mündigkeit seiner Gattung nicht absprechen, und von der Schuld an seiner Lage wird er ausdrücklich freigesprochen. Ob die Fliege, der die ihr zur Verfügung stehende Vernunft innerhalb des Fliegenglases nicht geholfen hat, mit dieser außerhalb des Glases viel anfangen kann, bleibt die Frage. Was findet sie vor außerhalb des Glases, was der Waschbär außerhalb des Zoos. Es gebe kein richtiges Leben im falschen, heißt es, gibt es eine richtiges Welt neben oder hinter der falschen? Die Philosophen haben neben die falsche Welt immer wieder richtige Welten gestellt in Form von Utopien, die sich aber ihrerseits schon bald samt und sonders als Irrtum erwiesen haben. Wittgenstein macht denn auch in Kenntnis der Philosophiegeschichte keinerlei Versprechen zur Situation außerhalb des Fliegenglases.
Die Bilder der Maler, um uns ihnen zuzwenden, zumal diejenigen Pisanellos (das abgebildete Augenpaar ist dasjenige Jan Peter Tripps), mögen im Dichter den Wunsch erwecken, alles aufgeben zu können außer dem Schauen, aber die reine Anschauung ist nicht sein Metier. Wie der Philosoph ist er der Sprache verpflichtet und damit dem Denken, wenn auch nicht in der reinen Form. Wie der Maler geht er aus von der Anschauung, kann sie aber bei der Übertragung in Sprache nicht rein halten. In der Sprache, dies- oder auch jenseits der reinen Anschauung und des reinen Denkens, erschafft der Dichter fiktionale und als solche falsche Welten, die uns nicht selten aber gegenüber der realen, in der wir leben, als richtiger und vertrauenswürdiger erscheinen. Geborgen im Text, sind wir nicht sicher, ob wir nach einem Ausweg aus diesem Fliegenglas suchen sollen.