Donnerstag, 18. Oktober 2012

Fragmente aus dem Orient

Baumparadiese

In der Goldenen Taube zu Verona trägt sich Selysses, ohne seinen Übermut weiter zu begründen, unter falschem Namen ein und zwar als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker von Landeck. Erläuternd wurde bereits ausgeführt, daß Selysses in Limone mit dem Paß auch seine Identität verloren, diese auch in Mailand nach der Ausstellung eines Ersatzdokuments nicht wiedergefunden hatte, um sie dann in Verona ausdrücklich zu verleugnen. Vermerkt wurde ferner, daß nach der Verwandlung in den Orientfachmann Fallmerayer die morgenländischen Motive im weiteren Verlauf der Erzählung All’estero deutlich zunehmen. Gleichwohl bleibt die Verwandlung rätselhaft.
Fallmerayer hatte in seiner Zeit einen guten Ruf als Prosaist. Hebbel nennt es bewundernswürdig, wie er den Menschen und die Natur, wie sie sich gegenseitig bedingen, mit fast dramatischer Energie darstelle. Ein anderer Rezensent spricht von der ruhigen und doch durchpulsten Sprache der Fragmente aus dem Orient. Der heutige Leser wird nicht widersprechen wollen, aber doch, wie beim Goldwaschen, ein Sieb für notwendig halten, um etwa die Stellen abzuseihen, an denen es nach Kara Ben Nemsi im wilden Kurdistan klingt. Man könnte meinen, Sebald, dessen Sprache schon unangemessener beschrieben wurde als mit ruhig und doch durchpulst und dem die von Hebbel konstatierte gegenseitige Bedingung von Mensch und Natur sicher zugesagt hat, habe für seine eigenen Orientfragmente ein solches Sieb zum Einsatz gebracht. Stellt man sich Fallmerayers Prosa durch die genannte Prozedur gehörig verschlankt vor, könnte der Eindruck entstehen, Sebald habe sich bei seinen Fragmenten aus dem Orient und insbesondere bei der Darstellung der Stadt Konstantinopel von ihr inspirieren lassen.

Konstantinopel oder Istanbul ist keine Stadt, die Selysses, wie Venedig, Mailand und Verona, im Auftrag Sebalds aktuell bereist. Es ist das Konstantinopel des Jahres 1913 und ob es nicht eher ein unbestimmtes osmanisches Konstantinopel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist, läßt sich nicht entscheiden anhand dessen, was wir vernehmen, und ob alle aufscheinenden Bilder auch nur irgendwann in der Stadt anzutreffen waren, kann heute kaum noch jemand verläßlich bestätigen oder aber verneinen. Mensch und Natur, so heißt es, bedingen sich gegenseitig in dieser Stadt, so viel Bauwerk, so viel verschiedenes Grün. Pinienkronen hoch in der Luft. Akazien, Korkeichen, Sykomoren, Eukalyptus, Wacholder, Lorbeer, wahre Baumparadiese, Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. Unvermittelt tut sich eine Art Kanzel auf und mit ihr der ausgedehnteste Panoramablick.
Fallmerayer sieht bei der Darstellung von Trapezunt drei Zypressen und viele Feigenbäume, reichlich Efeugebüsch, Kohl, Haselstauden, und Quitten ohne Symmetrie und Ordnung mitten im Steingeklüft, und auch in dem kleinen Garten vorzugsweise die Feige, die Quitte, ferner den Pfirsich, die Kirsche, die Orange, den Granatapfel, die Zitrone, die Maulbeere, die Olive und die Ulme, die in Kolchis besonders häufig und prachtvoll wächst. Ein wenig weiter strotzt die Myrte, prangt die Nelke, rankt das Immergrün und die Weinrebe, duftet der wilde Thymian und gedeiht ungepflegt der Oleander und der Lorbeerstrauch. Überall Quellen im Gestein, kleine Wasserstürze vom Berg hinab, wundervolles Spielwerk der Felsenbildung.

Große Teile der Stadt Konstantinopel sind ganz aus Holz, Häuser aus braun und grau verwitterten Balken und Brettern, mit flachen Giebeldächern und vorstehenden Altanen, und auch in Kolchis strebt man, Fallmerayers Bericht zufolge, nicht nach Symmetrie und architektonischer Eleganz der Außenseite. Je melancholischer der Eindruck auf die Vorübergehenden, desto besser für den Besitzer. Man will allein sein in Ruhe und Genuß. Man sieht kaum Bauten von mehr als einem Stockwerk. Häufig sind es gar nur Erdgeschosse, so daß in mancher Straße nichts als braune Ziegeldächer und rauchlose Schornsteine aus Schieferplatten zu sehen sind.
In beiden Fällen also üppige Vegetation und Wasserspiele, in beiden Fällen anspruchslose, melancholische Architektur. Würden sich die Beschreibungen auf die wiedergegebenen Textstellen beschränken und wäre nicht bekannt, daß wir das eine Mal in Konstantinopel und das andere Mal in Trapezunt sind, könnte es scheinen, als hätten sich zwei Autoren mit ähnlicher Sichtweise derselben Stadt angenommen. Wenn Sebald, der sich ein eigenes Bild vom osmanisches Reich nicht machen konnte, Fallmerayer als Augenzeuge in die Pflicht genommen hätte, wäre daran nicht Verwunderliches, auch nicht, wenn er dabei nicht ausschließlich auf Konstantinopel unmittelbar betreffende Textstellen vertraut hätte. Zur osmanischen Hauptstadt selbst läßt Fallmerayer im übrigen wissen, ein unübersehbares Gewimmel von Holzziegeldächern und Holzgezimmer, von Gärten, Zypressenwäldern, Kegelbergen und Lusttälern, von bleigedeckten, goldblitzenden Spitztürmen und Tempelkuppen schließe der Name Stambul ein, ein Sitz der Widersprüche sei es, Land und Wasser, Licht und Schatten und lange Karawanenzüge, vorüberschiffende Delphine: auch das recht nah an Adelwarths Tagebuch.

Verschiedentlich war schon festzustellen, daß sich einzelne Motive in Sebalds Büchern erst im Nachherein erklären. So gibt sich der Artist Giorgio Santini erst dann als San Giorgio zu erkennen, als der Heilige am Ende der Schwindel.Gefühle in der Londoner Nationalgalerie auf Pisanellos Bild den gleichen Strohhut auf dem Kopf trägt, den Santini mehr als hundert Seiten zuvor im Mailänder Konsulat in den Händen dreht. Die in kleinen Bakelitdosen verwahrten toten Motten in Austerlitz’ Wohnung erhalten erst dann ihren Sinn, als am Ende des Buches die Vermutung geäußert wird, sie seien vom benachbarten Judenfriedhof eingeflogen. Hier hätten wir es gleichwohl insofern mit einer neuen Qualität zu tun, als sich der Fallmerayer der Schwindel.Gefühle erst ein ganzes Buch später in der Erzählung Ambros Adelwarth zu erkennen gibt.
Das erwähnte Verfahren der Prosaverschlankung geht über das Erwartbare hinaus, da die zum Teil skizzenhaften Tagebuchaufzeichnungen Adelwarths nicht den üblicherweise in allen Einzelheiten ausgebauten Satzmustern Sebalds entsprechen. Zwar weitet sich der Blick in der Stadt Istanbul, aber auch hier bleiben unvollständige Sätze ohne Verb, die dem Vortrag Flüchtigkeit und zugleich vorwärtsdrängende Dichte verleihen, in der Schönheit und Melancholie des welken osmanischen Reichs sich in besonderem Glanz zeigen.

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