Samstag, 13. Oktober 2012

Jerusalem

Abrahamitische Religionen

Sebald hat sich als im bürgerlichen Leben religions- und glaubensfrei bekannt. Nicht im Widerspruch, aber doch im auffälligen Kontrast dazu führen die katholischen Heiligen ein reges Leben in seinem Werk. Gleich im ersten Satz der veröffentlichten Dichtung schließt sich der Flügel des Altars der Pfarrkirche Lindenhardt, und auf dem Tafelbild treten uns die vierzehn Nothelfer und Nothelferinnen entgegen. Der heilige Georg verläßt Grünewald Gemälde und wird in den Bildern Pisanellos zu einem heimlichen Protagonisten der Schwindel.Gefühle. Im gleichen Buch liegt der heilige Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und über die Sümpfe schreitet die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand. Verstreut über das Werk begegnen uns der heilige Hieronymus und andere Heilige mehr.

Nichts ist Selysses in der Kindheit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Unter all den längst namenlosen Seelen sind die Heiligen wie Pfeiler der Ewigkeit und sorgen für eine schöne Totenordnung, da sich jede Seele auf einen Heiligen bezieht. Selysses, der nach allem, was wir wissen, auf den Vornamen Georg hört, ist sehr einverstanden mit seinem Schutzheiligen schon im Leben. Zur Linken steht für die alte Welt, die Georg auf Grünewalds Tafelbild verlassen hat, der heilige Antonius in dunklem Gewand und mit strengem Blick, rechts San Giorgio unter dem Strohhut im Licht mit den ausdrücklichen Merkmalen der herzbewegenden Weltlichkeit und der schutzlosen Unschuld.
Der vom heiligen Georg, mit Pisanellos Hilfe, bewirkte Augenblick eines glücklichen Gleichgewichts der Zeiten ist schnell dahin, das Projekt Moderne verläuft nicht in den gewünschten Bahnen, und daher hat auch der christliche Strafprediger nicht ausgedient. Einen solchen, katholischer Provenienz, sieht Sebald in Thomas Bernhard, ein wohl durchaus origineller Beitrag zur Bernhardforschung: Ich sehe ihn, immer wenn ich an ihn denke, irgendwie auf einer Kanzel, wie er also das Sonntagspublikum sozusagen fix und fertig macht, bis sie also nicht mehr schnaufen können. Mit Emyr Elias hat Sebald einen kalvinistischen Confrère Bernhards in die Welt gesetzt: Am Sonntag führte er der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen, so daß nicht wenige am Ende des Gottesdienstes mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen.

Jüdische Heilige werden nicht aktiv im Werk, es sei denn, man wollte Kafka, der in seinen Tagebüchern die Geschichte eines Zaddik erzählt und die Begegnung mit einem Rabbi in Marienbad schildert, als einen solchen ansehen; ein Heiliger der Literatur ist er in jedem Fall. Auf den jüdischen Friedhöfen herrscht nicht die schöne, von den Heiligen gewährleistete Totenordnung, sondern die Schönheit der Namen, die ihnen die Deutschen vielleicht mehr als alles andere mißgönnt haben: Wertheimer, Friedländer, Leuthold, Goldstaub. Wenig erinnert an die mit dem Wort Friedhof verbundenen Vorstellungen, man schaut auf seit langen Jahren verlassen daliegende, allmählich in sich zerfallende und versinkende Gräberfelder, hohes Gras, Wiesenblumen, Baumschatten in einer leichten Bewegung der Luft.

Das jüdisches Leben ist auf das engste mit dem mosaischen Glauben verbunden. Am Sabbat spielen einige der Männer, was für sehr kühn und fortschrittlich gilt, eine Partie Billard. Der Ferdinand Lion raucht sogar eine Zigarre. Anschließend gehen sie gemeinsam in die Synagoge. Die Frauen packen zusammen und machen sich mit den Kindern in der einbrechenden Dämmerung auf den Weg nach Haus. In der Dunkelheit schon hocken wir auf der vorderen Treppe und sehen zu, wie sich am Himmel die Gewitterwolken übereinanderschieben. Nachdem der Vater zurück ist, wird die aus vielen bunten Wachssträngen geflochtene Kerze zum Sabbatausgang angezündet. Wir riechen an den Gewürzbüchschen und gehen hinauf ins Bett.

Ci vediamo a Gerusalemme, ruft der Venezianer Malachio, bevor er abdreht mit seinem Boot. Eine Verabredung zu einem realen Wiedersehen in Jerusalem steht nicht unbedingt hinter dieser alten Grußformel der Juden. Warum aber verwendet Malachio sie, wo doch zumindest Selysses, nach allem was wir wissen, kein Jude ist. Selysses fragt sich, was Malachio mit diesen Worten gemeint haben mag und versucht, vergebens, sich an sein Gesicht zu erinnern. Ambros Adelwarth und Cosmo Solomon gehen der Sache auf den Grund und reisen ins Heilige Land.

In Jerusalem finden sie einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nach Norden liegen die russische Kathedrale, das russische Männer- und Frauenhospiz, das französische Hospital de St. Louis, das jüdische Blindenheim, die Kirche und das Hospiz des hl. Augustinus, die deutsche Schule, das deutsche Waisenhaus, das deutsche Taubstummenasyl, the School of the London Mission of the Jews, die Abessinische Kirche, the Anglican Church, College and Bishop’s House, das Dominikanerkloster, das Seminar und Kirche St. Stephan, das Rothschildsche Institut für Mädchen, die Gewerbeschule der Alliance Israélite, die Kirche Notre Dame de France und am Teich von Bethesda der St. Anna Convent ... : und viele andere mehr, eine seltsame Insel frommer Institutionen, allem Anschein nach unbewohnt und abgetrennt vom Rest der Welt und der Stadt, sofern man von einem Rest der Stadt überhaupt sprechen kann:

Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.

Manchester war eines der Sammelstellen für die über die Erde hin verstreuten Juden. Das vormalige Judenviertel war gleich hinter der Victoria Station um das sternförmige Gefängnis Strangeways gelegen. Das von seinen Bewohnern aufgegebene Quartier wurde seither von der Stadtverwaltung Manchester dem Erdboden gleich gemacht. An der Wand einer der wenigen verbleibenden Ruinen läßt sich noch das Schild einer Anwaltskanzlei mit den Namen Glickmann, Grunwald und Gottgetreu entziffern. Noch zu Beginn des Jahrhunderts galt Manchester in allen Ländern als ein an Unternehmergeist und Fortschrittlichkeit nicht zu überbietendes Industriejerusalem. Es fragt sich, ob der jüdische Teil der Bevölkerung sich dieser Einschätzung anschließen konnte unter Löschung der fernen Idee Jerusalems in den Köpfen. Sie wären betrogen worden, um das moderne Industriejerusalem steht es inzwischen, in der Schilderung Sebalds, kaum besser als um die Stadt im heiligen Land.

Das gegenwärtige, von den Juden wieder in Besitz genommene Jerusalem betritt der Dichter nicht. Der Tempel läßt sich dort nicht neu erbauen, zu lange schon ist er in seiner Zerstörtheit der Tempel der Juden, jeder Versuch der Restaurierung wäre eine Profanierung. Möglich ist allenfalls, sich vom Tempel ein Bild zu machen im Modellbau, so wie Alec Garrad ihn betreibt, oder besser noch die Traumgestalt Frohmann, der ein aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe bereits fertiggestelltes Modell des Tempels auf dem Schoß hält, wie vielleicht jeder Jude es Herzen mit sich trägt.
Auf die Herausforderung unserer Tage, sich auch mit der dritten abrahamitischen Religion zu beschäftigen, hat Sebald sich nur bedingt eingelassen. Die Begegnung mit den morgenländischen Männern in Den Haag läßt Fragen offen. Das Wohlgefallen des Dichters findet offensichtlich das von Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth besuchte Stadt Istanbul. Der Besuch findet statt im Jahre 1913, noch bevor die Zeit sich wendete und, wie eine Natter durchs Gras, der Funken die Zündschnur entlanglief. Es ist die schöne Herbststadt des welken osmanischen Reiches. Die Minarette scheinen sich im Wind zu wiegen wie die Masten der großen Segelschiffe. Auf der Galerie eines der Minarette erscheint ein zwergenhafter Muezzin und nickt grüßend den Reisenden zu, bevor er seinen Vortrag beginnt, ein ganz und gar freundliches Bild.

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