Donnerstag, 21. Februar 2013

Paradieren

Reine Stirn der Engel

People paraded up and down, seeing and being seen.

Es hat den Eindruck, als sei Selysses, der so viel wahrnimmt, selbst kaum sichtbar. Als er in Oberitalien glaubt, zwei Augenpaare würden seinen Tarnschutz durchdringen, gerät er in Panik. Auch die Sebaldmenschen, die Ausgewanderten, sind verborgen. Aurach verbringt den Tag im Atelier und begibt sich erst in der Dunkelheit des Abends in das Wadi Halfa, sehen kann ihn aber ohnehin niemand, da Manchester menschenleer ist. Wenn Bereyter seine Erblindung und den ihn erwartenden mausgrauen Prospekt begrüßt, so möglicherweise auch weil er die Blicke der anderen nicht mehr spüren wird. Die Blicke der anderen sind Kafkas Entsetzen, und der Einfall des Dichters, er solle vor den auf dem Marktplatz angetretenen Bewohnern Desenzanos paradieren, erscheint als ein ebenso komischer wie robuster Therapievorschlag. Im Bahnhof von Antwerpen erkennen sich gleichsam im Wege einer doppelten Negation mit Selysses und Austerlitz zwei Unsichtbare. In einer Erzählwelt der Versteckten fällt es auf, wenn jemand, und sei es auch ein Komparse, sich vor anderen darstellt.
Beyle kaufte sich einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen, und in dieser Aufmachung ging er in Volterra herum und versuchte, Métilde, sooft als nur möglich, wenigstens aus einiger Distanz zu sehen. Beyle glaubte sich zunächst tatsächlich unerkannt, stellte dann aber mit noch größerer Befriedigung fest, daß Métilde ihm vielsagende Blicke zuschickte. - Offenbar liegt eine eigenartige Verkennung der Umstände vor, Stendhal sieht seine grelle Aufmachung als Tarnanzug, aus dem heraus er inkognito den Anblick der Geliebten verehren kann, tatsächlich schlägt er ihr an den verschiedenen Ecken und Enden der kleinen toskanischen Stadt Volterra vor den Augen der Öffentlichkeit ein Pfauenrad nach dem anderen. Die extrovertiert-farbige Vorstellung endet in grauer Verbannung, mit einem sehr trockenen Billett wird er aus dem Liebesdienst entlassen, auf seiner Schreibtischplatte liegt fortan, zum Andenken an Métilde, ein Gipsabdruck ihrer linken Hand. Die leichte Krümmung des Ringfingers aber verursacht ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte. Die Gaffe der bunten Parade in Volterra erweist sich unter der Hand, wenn man das sagen darf, als Glücksfall. Stendhal wird in Zukunft viel Zeit am Schreibtisch verbringen und für uns seine schönen Bücher schreiben, Métildes Gipshand wird sich in die Hand Mme Gherardis verwandeln, an deren Seite er, weiterhin am Schreintisch sitzend, eine beglückende Reise durch Oberitalien unternimmt, wobei sie nach Möglichkeit die Einsamkeit suchen. Bei einer Bootsfahrt auf dem See fern von den Blicken der Menschen wird Mme Gherardi ausführen, die Liebe sei eine Chimäre, nach der es uns umso mehr verlange, je weiter wir uns entfernen von der Natur.
Die Mathild ihrerseits hat sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja, die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. - Mathild ist nicht Métilde und schon gar nicht Stendhal, und doch scheint sie die begonnene Geschichte weiterzuerzählen. Der Ort W. im Allgäu ist keine südliche Stadt mit einer Rambla, auf der die Menschen paradieren, um zu sehen und gesehen zu werden, aber auch der Dorfanger reicht für die Veröffentlichung der Person. Wir stellen uns vor, daß Mathild Seelos beim Mayrbeck eintritt, um ein Brot zu besorgen, dann herübergeht zum Ebentheuer, um nach ihrer defekten Uhr zu sehen, von dort zum Dr. Rambousek für eine neue Verschreibung, mit provokanter Langsamkeit zurück zum Mayrbeck, weil es noch ein süßer Wecken sein soll und schließlich zum Café Alpenrose, wo sie im Obergeschoß ihre Wohnung hatte, in die sie nie jemanden hinaufließ. Es ist die augenblickhafte Extrovertierung der Eingezogenheit, die aufreizende Enthüllung des Verborgenen, das aber verborgen bleibt. Stendhal wird aus seiner neugewonnenen Eingezogenheit Buch nach Buch heraussenden, vielleicht findet sich auch das eine oder andere unter dem Literarischen des letzten Jahrhunderts in Mathilds Bibliothek, die erst nach ihrem Tod entdeckt wird. Ob sie, die gleichfalls nicht als Einsiedlerin geboren wurde, selbst etwas zu Papier gebracht hat, ist nicht bekannt.

Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. – Le Strange übertrifft Stendhal an Buntheit und Mathild an Eingezogenheit. Eigentlich stellt man sich ihn hinter hohen Hecken verborgen vor, aber es muß sich doch eine Position, einen Einblickswinkel gefunden haben, der die Beobachtung seines einsamen Treibens erlaubte, ohne sein Wissen und wider seinen Willen, nichts liegt ihm ferner als zu paradieren, da ist man sich sicher und kann sich doch nicht sicher sein. Wie auch immer, wir können uns freuen, Zeugen einer farbenprächtigen Demonstration des gänzlich Verborgenen zu sein.

Bei keiner der drei Szenen handelt es sich um ein sorgloses, dem Flanieren verwandtes Paradieren auf der Esplanade. Für Stendhal bedeutet die mißlingende Parade in Volterra den Übergang in die Abgeschiedenheit des Schriftstellerdaseins, im Garten des Klosters der Minori Osservanti hoch überhalb des Albaner Sees zeichnet er langsam mit einem Stock die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Sand. Mathild demonstriert ihre Abgeschiedenheit provokant in Schwarz, Le Strange, ohne Zeugen, wie er glaubt oder auch nicht, in bunten Farben. Sieht man ab von dem in seiner ursprünglichen Extrovertiertheit in Sebalds Werk ohnehin auffälligen Stendhal, ist die Veröffentlichung des Verborgenen Aufgabe der Komparsen*, nicht der Hauptdarsteller. Dr. Selwyn, in seiner Gartenexistenz Le Strange in mancher Hinsicht ähnlich, wirkt, obzwar großgewachsen, wie ein ganz kleiner Mensch und teilt damit die Neigung der Sebaldmenschen, der Male Leads, zum Verschwinden.

Samstag, 16. Februar 2013

Bürger

Zeitwanderer
Widzę i opisuję

Der deutsche Begriff des Bürgers wird im Französischen bekanntlich durch die zwei Begriffe des Bourgeois und des Citoyen aufgefangen. In der nach der Zahl Achtundsechzig benannten Zeit gab es ausschließlich den Bourgeois, der in jeder Form zu bekämpfen war von denen, die sich als die anderen sahen, der Citoyen hatte ein weiteres Mal die Gestalt des Revolutionärs angenommen. Irgendwann, vermutlich in den frühen Achtzigern, war dann der Bourgeois über Nacht durch den Citoyen, zu deutsch: mündiger Bürger, als der Lichtgestalt, dem Heiligen der sich sakralisierenden säkularen Demokratie, ersetzt worden und umfaßt seither alle und jeden einschließlich der Bevölkerungsgruppe, für die der Fernsehkritiker Kalkofe jede Woche neue, ebenso drastische wie zutreffende Bezeichnungen entwickelt, Dumpfbacken die mildeste. Wenige Jahre später hat dann der Markt einen ähnlichen Transsubstationsprozeß durchlaufen, der Quell allen Unheils wurde zum Engel des Heils über der Agora. Erst nach einer längeren Schockstarre vermochten erste Wiedererweckte in der neuen Erscheinung am gesellschaftlichen Himmel den neoliberalen Luzifer zu erkennen.

Im Essaywerk zeigt Sebald sich als Kapitalismuskritiker, äußert sich dabei aber weniger unmittelbar Marx folgend als in der Explikation von Stifter und Keller. Im Erzählwerk kommt das Thema kaum offen zur Sprache, auch vom simplen Geld ist so gut wie nicht die Rede, allenfalls, ähnlich wie bei Bernhard, im Motiv großer Vermögen, die ungenutzt bleiben (Le Strange) dem Versuch der Vernichtung unterzogen (Cosmo Solomon) oder verschenkt werden, wie im Fall Wittgensteins, der zwar keine Gestalt im Erzählwerk ist, es aber doch als Schatten durchwandert. Ansonsten verliert sich die Kapitalismusbetrachtung in der Naturgeschichte der Zerstörung, und der Ton der Kritik macht dem der Weltklage Platz.

In der fraglichen achtundsechziger Zeit hat sich Sebald, nach allem, was man erkennen kann, als Citoyen verstanden, der begann, sich durch die Entlarvung von Sternheim u.a. als Bourgeois selbst eine bürgerliche Existenz als Hochschullehrer aufzubauen. Als er später in den Beruf des Dichters ergreift, bleibt in seiner Prosa die Unterscheidung von Bourgeois und Citoyen taub. Austerlitz, Bereyter u.a. sind sicher keine Bourgeois, ihnen fehlt aber auch das den Citoyen auszeichnende Merkmal der aktiven Teilnahme am Gemeinwesen, läßt man sie gewähren, macht sich ein ausgeprägter Hang zur Weltflucht bemerkbar. Auch Dumpfbacken begegnen nur selten, sie scheinen auf die Region Kissingen begrenzt, der Brotzeiter schon im Zug dahin und dann am Ort der Metzgermeister Michael Schultheis, von dem es hieß, er habe sich großer Beliebtheit erfreut, sei dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen und habe seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet, zwei beeindruckende Exemplare der Gattung. Auf den Begriff des Bürgers könnte insofern verzichtet werden, wenn nicht der Übergang einiger mythischer Gestalten in bürgerliche Existenzen und umgekehrt die Verwandlung bürgerlicher Existenzen in mythische Gestalten zu beobachten und zu beschreiben wäre.

In Lindenhardt verläßt der Heilige Georg Grünewalds Altarbild und tritt seinem Namenspaten Selysses entgegen. In Verona trifft Selysses San Giorgio wieder vor dem Drachenkampf, in der Londoner Nationalgalerie dann hat der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, sein Leben bereits ausgehaucht, und San Giorgio trägt als unverkennbares Zeichen für das Ende der heroischen Zeit und den Eintritt ins bürgerliche Leben einen Strohhut auf den Kopf. Zuvor hatte Selysses ihn schon im Konsulat zu Mailand getroffen, ohne ihn freilich zu erkennen, mit den gleichen Strohhut in der Hand, jetzt nicht mehr San Giorgio, sondern Giorgio Santini, seines Zeichen Hochseilartist. Begleitet ist er von seiner Frau, seinen drei jugendhaften Töchtern und der Nonna. Hochseilartist ist sicher kein Beruf aus der Mitte des bürgerlichen Raums, auf der anderen Seite zeichnet sich Santini durch eine überaus korrekte, wenn auch ein wenig ins Extravagante gehende Bekleidung aus, und auch Auftreten und Verhalten seiner Begleiterinnen sind tadellos. Als Künstler und Familienmensch ist er ein Spiegelbild des Selysses, die Familie allerdings nach italienischer Sitte ein wenig umfänglicher gestaltet. Tiefere Einsichten in seine Verankerung im bürgerlichen Leben erhalten wir aber nicht. Selysses muß einige Worte mit Santini gewechselt haben, dem Leser wird aber nur ein knappes Ergebnis übermittelt. Die weiblichen Familienmitglieder schweigen beharrlich, die Töchter gehen im Wartesaal zwischen den Sesseln und Tischen umher, die eine mit einem bunten Windrädchen, die andere mit einem ausziehbaren Teleskop und die dritte mit einem Sonnenschirm. Auf eine ungewisse Weise scheinen die drei Schwestern noch der mythischen Welt verbunden.

Auf dem Dachboden der Mathild erträumt sich das Kind Selysses einer Jäger, der, was er nicht wissen kann, dem von Kafka im Tagebuch festgehaltenen Jäger Hans Schlag aufs Wort entspricht: Eine große runde Mütze aus Krimmerpelz saß tief auf seinem Kopf. Ein starker Schurrbart breitete sich steif aus. Gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug, es erinnerte an das Geschirr eines Pferdes, zusammenhielt. So ist Selysses arglos und ohne Ahnung, als er den Jäger Hans Schlag in seinem Heimatort W. antrifft, wo er den gutbürgerlichen Beruf eines Wildhüters im Rahmen der Bayerischen Fortverwaltung ausübt. Das Maß seiner Verankerung im bürgerlichen Leben bleibt allerdings unklar. Eine Wohnung scheint er nicht zu haben, bis tief in die Nacht sitzt er in der Wirtschaft, das Liebeswerk mit der Romana wird im Holzschopf verrichtet. Der Rucksack, den er immer bei sich trägt, ist dem Beruf geschuldet, ordnet ihn aber auch der Gruppe der Sebaldmenschen zu, die sich an diesem Wittgenstein entlehnten Emblem erkennen. Der Försterdackel ist zu jeder Tages- und Nachtzeit am Rucksack festgebunden, so daß sich die Frage artgerechter Tierhaltung aufdrängt. Der Name des Hundes, Waldmann, sowie der Umstand, daß die nach dem Tode des Jägers aufgefundene Taschenuhr eine Takte aus dem Lied Üb immer treu und Redlichkeit spielt, scheinen eine hohen Grad der Verbürgerlichung, fast schon der Vergartenzwergung anzuzeigen, die am Oberarm eintätowierte Barke andererseits fusioniert den Jäger Hans Schlag posthum mit Kafkas ungleich bekannterem Jäger Gracchus, der im Allgäu endlich den ersehnten Tod gefunden hätte. Der mythologische Hintergrund der rundum rätselhaften Gestalt weitet sich damit noch einmal immens.
Während Hans Schlag und Giorgio Santini sich auf den weiten langen Weg aus der Vor- und Frühgeschichte in die Gegenwart begeben haben, ohne daß sich genau abschätzen ließe, wie weit sie gekommen sind, haben sich Malachio und Salvatore Altamura, der eine Astrophysiker und Prophet, der andere Heiland und Redaktionsmitarbeiter, den Anschein nach auf ein Leben als Berufspendler an der Grenze der Äonen eingerichtet. Die Ashburys in Irland wiederum scheinen sich auf dem Rückweg in eine mythische Vergangenheit zu befinden, die drei Schwestern Catherine, Clarissa und Christina sitzen als wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder da und Mrs. Ashbury auf der Bibliotheksstaffelei stehend zwischen den am Plafond angebrachten raschelnden Samenbehältern wie eine in den Himmel auffahrende Heilige. Den längsten Weg aber legt der Major George Wyndham Le Strange (GWS) zurück.

Wir sehen in ihm einen Halbbruder des Dichters WGS sowie auch des Artisten Giorgio Santini (GS), allesamt Abkömmlinge des San Giorgio (SG). Erneut ist er in den dunklen Wald eingedrungen, bei Bergen Belsen, und hat einen ungleich übleren Drachen zur Strecke gebracht. Nach der Kriegstat macht er sich auf den Weg zurück in die mythische Welt, vorbei am Heiligen Georg mit dem vorwärtsgewandten Blick hin zum Heiligen Franz zunächst und dann zum Heiligen Hieronymus, der im Erdloch lebt.

Es sind durchweg Komparsen im Werk, die sich zwischen der mythologischen und der realen Welt hin- und herbewegen, ähnliche Lebensverläufe der Hauptdarsteller hätten einen Genrewechsel hin zum Fantasyfach erfordert. Da der Dichter uns aber anhält, die Nebendarsteller nicht geringer zu achten als die Protagonisten, stellt sich die Frage, wie sich die beiden Rollenfächer zueinander verhalten. Auch die eigentlichen Sebaldmenschen, die Ausgewanderten und die in ihrer Eingezogenheit, haben eine weit geöffnete Vergangenheit, die sich ins Dunkel verliert. Austerlitz hat mit seinen Bemühungen um Erhellung nur begrenzten Erfolg, und zweifelsfrei benennbare Gründe für Bereyters Tod auf den Schienen ergeben sich nicht. Der Major Le Strange nimmt eine Schlüsselstellung ein zwischen den Komparsen und den Protagonisten. Jederzeit hätte er in die Liga der Ausgewanderten aufsteigen können, als Eingezogener, gänzlich nach Innen Ausgewanderter allerdings, so wie Mathild Seelos. Selysses hätte Florence Barnes’ Vertrauen erworben und einiges mehr über sein und ihr Leben erfahren, vielleicht wäre ein Tagebuch aufgetaucht. Die expliziten mythologischen Bezüge zum Urvater San Giorgio, die ihm zum Halbbruder Giorgio Santinis und des Selysses machen, hätten dann aber gekappt werden müssen.

Sebald beruft sich für sein Werk auf die bürgerliche Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts im süddeutschen Sprachraum, Stifter und Keller. Einerseits bewegen wir uns, sprachlich und motivisch, in einer bürgerlichen Welt, andererseits entziehen sich seine Figuren immer wieder in einen geheimen Rückraum hinter der Welt.

Mittwoch, 13. Februar 2013

Schrecken der Kindheit

Metzger und Bader

Salta i corre
I no es fa mal.

Die Folterkammer in der Festung Breendonk ruft bei Selysses ein Bild aus der Kindheit wach. Indem ich in diese Grube hinabstarrte, auf den glattgrauen Steinboden, das Abflußgitter in seiner Mitte und den Blechkübel, der daneben stand, hob sich aus der Untiefe das Bild unseres Waschhauses in W. empor und zugleich, hervorgerufen durch den eisernen Haken, der an einem Strick von der Decke hing, das der Metzgerei, an der ich immer vorbei mußte auf dem Weg in die Schule und wo man am Mittag oft den Benedikt sah in einem Gummischurz, wie er die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch. Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. - Eine monochrome Erzählwelt aus einem Guß, könnte es scheinen, vom Grauen der Kindheit ins Grauen der Welt und wieder zurück, es soll Leser geben, die Sebalds Bücher in dieser Weise erleben.
Liest man die weitaus detailreichere Darstellung der Ortschaft W. in den Schwindel.Gefühlen, hat man den Eindruck, alle Gewerbetreibenden im Dorf seien erfaßt und bemerkt erst nachträglich das Fehlen des Metzgers. Niemand sonst von den Versammelten aber kann die Schrecken der Kindheit gleichwertig vertreten, sicher nicht der Mayrbeck, der alljährlich zu Allerheiligen die Seelenwecken produziert und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Aus Weißbrotteig waren diese Seelenwecken gebacken und so klein, daß man sie leicht in einer geschlossenen Hand verbergen konnte. Die Hand noch bestäubt vom Wecken hat das Kind Selysses in der Mehlkiste der Großeltern gegraben, um das dort nach seiner Vermutung verborgene Geheimnis zu ergründen. Von der aus dem Böhmischen stammenden Modistin Valerie Schwarz, trotz ihrer geringen Körpergröße mit einer Brust ausgestattet von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal gesehen hat, und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, mag ein gewisser Schrecken ausgegangen sein, missen möchte man diesen Schrecken, zurückschauend, eher nicht. Beim Schmied kann man nie sicher sein, ob er das Feuer auch wirklich zu zähmen vermag, aber er ist abwesend. Aus der Schmiede roch es nach verbranntem Horn. Das Essenfeuer war ganz in sich zusammengesunken, und das Werkzeug, die schweren Hämmer, Zangen und Raspeln lagen und lehnten herrenlos überall herum. Nirgends rührte sich etwas. Das Wasser im Bottich, in den der Schmied sonst jeden Augenblick mit dem glühenden Eisen, daß es zischte, hineinfuhr, war so still und glänzte von dem schwachen Widerschein, der vom offenen Tor auf seine Oberfläche fiel, so tiefschwarzdunkel, als hätte noch nie jemand es angerührt und als sei ihm bestimmt, in solcher Unversehrtheit bewahrt zu bleiben. Ein reiches Gefühl des Unheimlichen, aber kein Schrecken der Kindheit. Für den muß letzten Endes der Bader Köpf herhalten. Der Rasiersessel stand leer. Das Rasiermesser lag, aufgeklappt, auf der marmorierten Platte des Waschtischs. Vor nichts fürchtete ich mich mehr, als wenn der Köpf, bei dem ich mir jeden Monat einmal die Haare schneiden lassen mußte, mir mit diesem an dem Lederriemen frisch abgezogenen Messer den Hals ausrasierte. Derart tief hat diese Furcht in mich sich eingegraben, daß mir, als ich viele Jahre zum ersten Mal eine Darstellung der Szene sah, in welcher Salome das abgeschnittene Haupt des Johannes hineinträgt, sogleich der Köpf in Erinnerung gekommen ist. Und daß ich mich vor einigen Jahren im Bahnhof Santa Lucia aus freien Stücken habe rasieren lassen, das ist mir nach wie vor eine ganz und gar unbegreifliche Ungeheuerlichkeit. – Ersichtlich ist der Schrecken der Kindheit hier in eine heitere Richtung gelenkt, in der ihm durch heilsame humoristische Übersteigerung aller Schrecken genommen wird.

In Ritorno in Patria werden viele Türen zur Kindheit geöffnet, hinter einigen kommt Schönes zum Vorschein, hinter anderen Rätselhaftes und hinter wieder anderen Beängstigendes. Keine ist die eine Tür, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. Cioran kannte in seiner radikalnihilistischen Weltschau einen blinden Fleck, der bei ihm naturgemäß nur die Form des Seligen annehmen konnte, und das war seine Kindheit in der Ortschaft Răşinari unweit Hermannstadt. Offenbar war es ihm gelungen, die Tür zur Kindheit immer nur auf eine bestimmte, ihn rettende Weise zu öffnen. Selysses wird die Tür in der Folteranlage Breendonk aus der Hand gerissen, und für einen Augenblick wenigstens fließt das Grauen ungehemmt.

Freitag, 1. Februar 2013

Prophet und Heiland

Gesprächspartner 

Proffwyd Iddewig yn y Beibl oedd Malachi


In Wien findet Selysses niemanden, mit dem er sprechen kann, selbst die Telephone bleiben stumm. Bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel. Diese Situation ändert sich im weiteren Verlauf des Buches und der Reise nicht von Grund auf. Mit Empfangsdamen, Taxifahrern, Gendarmen, Bibliotheksangestellten werden belanglose Worte gewechselt. Die Bedienerin in der Bahnhofsgaststätte Innsbruck, der gegenüber er eine gar nicht unfreundliche Bemerkung über den Tiroler Zichorienkaffee fallen läßt, hängt ihm auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul an. Dort, wo er ein Gespräch beginnen möchte, wie mit der Franziskanerin und dem jungen Mädchen im Zug nach Mailand oder mit der Winterkönigin im Zug rheinabwärts, bleibt er dumm und stumm, selbst dann, wenn ihm, wie im Fall der Winterkönigin, die Last des Gesprächsbeginns eigentlich schon abgenommen wurde. Gesprächspartner in einem ausführlicherem Sinn sind der Dichter und Anstaltsinsasse Ernst Herbeck in Klosterneuburg, Lukas Seelos in der Ortschaft W. und Luciana Michelotti in Limone. Die Gespräche mit Luciana beanspruchen nur wenige Worte und sind von verschwiegener Bedeutsamkeit. Sie zeichnen sich im übrigen dadurch aus, daß Selysses’ Gesprächanteile zu überwiegen scheinen, während in anderen Gesprächen seine Beiträge weitgehend unterschlagen werden. Das gilt insbesondere für die Unterhaltungen mit Malachio in Venedig und mit Salvatore Altamura in Verona. Die dadurch verursachten Gesprächslücken erhöhen das erratische Moment im Fortgang der Schwindel.Gefühle noch einmal erheblich. Das Gefühl des Befremdlichen geht aber noch tiefer, so als sei man in eine womöglich nicht ungefährliche Unterströmung geraten.

Malachio trifft Selysses eines Abends in einer Bar an der Riva, und ehe man sich versieht, sind die beiden in einem Boot draußen auf dem Wasser. Ein erster Gesprächsabschnitt wird dem Leser vorenthalten, er erfährt stattdessen im Überblick, daß Malachio in Cambridge Astrophysik studiert hat - offenbar als ein Kommilitone Gerald Fitzpatricks, der zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht das Licht des Werkes erblickt hat - und daß er alles aus der größten Entfernung sieht, nicht nur die Sterne. Im Boot dreht sich das Gespräch dann um Wunder des aus dem Kohlenstoff entstandenen Lebens, das dann wieder in Flammen aufgeht. Beim Blick auf den Inceneritore Comunale, erhält Selysses auf seine Frage, ob hier auch mitten in der Nacht noch gefeuert werde, die Antwort: Sì, di continuo. Brucia continuamente. Malachio merkt an, er habe in letzter Zeit viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels, und ein weites Feld lag voller Totengebein, und des Gebeins lag sehr viel auf dem Feld, sie waren sehr verdorrt. Antworten habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen. Mancher mag sich die Gedankenwelt eines Astrophysikers anders vorgestellt haben. Malachio verabschiedet sich dann mit dem Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme, und noch Stunden später fragt Selysses sich, was er damit gemeint haben könnte.
Das Zusammentreffen mit Salvatore Altamura in Verona ist offenbar verabredet, für den Leser aber ebenso unerwartet wie das mit Malachio. Der Nachname Altamura wird nur einmal genannt, anschließend ist es nur noch Salvatore, ein engerer Freund des reisenden Selysses, muß man folgern. Salvatore sitzt vor der Bar mit einer grünen Markise und liest, die Brille in die Stirn geschoben, in einem Buch, das er so nah vor sein Gesicht hielt, daß es unvorstellbar war, wie er auf diese Weise etwas zu entziffern vermochte. Seinem Bedürfnis zu lesen wisse er um diese Tageszeit einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen, er rette sich in die Prosa wie auf eine Insel. Wenn er die ersten Sätze anfange zu lesen, so sei es, als rudere er weit auf das Wasser hinaus. Malachios Bootsfahrt ist gleichsam in die Metapher eingeschlossen. Das Gespräch mit Salvatore hat die Gestalt eines dreiteiligen Vortrags. Der erste Teil des Vortrags betrifft den Inhalt von Sciascias Buch 1912+1 und schließt an Selysses’ Studien zum Jahr 1913 an; im zweiten Teil geht es um die GRUPPE LUDWIG, offenbar der Anlaß des Treffens: aber es interessiert Sie ja eine ganz andere Geschichte; im dritten Teil geht es mit der Oper Aida zurück ins Jahr 1913 mit der Eröffnung der Festspiele in Verona. Di morte l’angelo a noi s’appressa, mit diesen Worten steht Salvatore auf und verabschiedet sich. Selysses aber ist noch lange sitzen geblieben auf der Piazza mit dem Bild des hereinbrechenden Engels, das Salvatore ihm hinterlassen hatte.
Soweit gekommen, fragt man sich, warum der in Venedig aus dem Nichts auftauchende, wenn nicht gar vom Himmel gefallene, und ebenso wieder verschwindende Astrophysiker Malachio, der den Namen eines biblischen Propheten (Malachi, Maleachi) mit der Bedeutung Bote Gottes trägt, sich, als gäbe es bei seinem Beruf nichts Näherliegendes, mit Engelsfragen beschäftigt, und warum in Verona der Heiland, il Salvatore, sich unter Hinterlassung eines Engelsbildes verabschiedet. Sebald hat mehrfach in einer bündigen, Zweifel nicht zulassenden Weise bekannt, daß ihm religiöse Gläubigkeit fremd ist, eine theologische Exegese seines Werkes verbietet sich insofern. Gleichwohl läßt sich nicht übersehen, daß er immer wieder und ganz besonders im Italienteil der Schwindel.Gefühle über die Trümmer- und Schädelstätten des Katholischen Erbes geht, vorbei an Skeletten, die in den großen Bildwerken der Vergangenheit ihr Leben bewahrt haben und jederzeit vor unseren Augen auferstehen können. Gleich bei der Einfahrt nach Italien, im Friaul, träumt Selysses von Tiepolos Gemälde Santa Tecla libera Este della peste, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Der weitere Verlauf der Bildererzählung gabelt sich dann. Pisanellos Bilder von San Giorgio vor und nach dem Drachenkampf führen in einer Schleife zurück zu Giorgio Santini, der Gegenwartserscheinung des Heiligen Georgs im Gewand des Artisten, und von dort zu dessen Namensmündel Selysses respektive Sebald. Die Engel am Himmel über Giottos Compianto sul Cristo morto andererseits, deren lautlose Klage seit nahezu siebenhundert Jahren über dem unendlichen Unglück erhoben wird, kehren wieder als die Engel der mehr als fraglichen Wiederauferstehung bei Malachio und als der Opernengel des Todes, dessen Bildnis Salvatore hinterläßt.
In seinem neuen Beruf als Astrophysiker steht Maleachi in der Nachfolge der theologisch verwalteten vorkopernikanischen Kosmologie, von der Abschied zu nehmen er offensichtlich nicht bereit ist, anders als sein Studienfreund Gerald, der Austerlitz einen inspirierten sternenkundlichen Vortag über die sinnfreien Tiefen des Alls hält. Malachios Fernblick findet den Weg in das von einem mythischen Licht erhellte Dunkel der vorkopernikanischen Geschichte. Es bedarf vertiefter Bibelkenntnisse, um Malachios Engel in der Heiligen Schrift zu entdecken. Der Laie dringt bis Hesekiel 37 vor und hat den Eindruck, der Herr führe den Propheten ohne Engelshilfe an den Rand des Beinfeldes. Es ist nicht auszuschließen, daß Sebald die Engel aus eigener Macht herbeizitiert hat, da er sie für die Entfaltung des Motivs in Giottos Bild von der Beweinung Christi benötigte; Arrondierungen dieser Art sind dem Dichter nicht fremd. Das Bild von der Beweinung stellt die Frage nach der Auferstehung, ohne sie zu beantworten, wie Malachio auch muß uns die bloße Frage reichen. Die Engel diverser froher Verkündigungen kommen nicht zu Wort und Bild, Giottos Fresko von der Auferstehung Christi steht nicht auf dem Besichtigungsplan, der Auferstehungsvorgang stagniert, und so hält die lautlose Klage der Engel unverändert und unbeeinträchtigt an bis zum heutigen Tag.

Der Heiland, il Salvatore, findet sich nicht zurecht in der Gegenwart, er flüchtet sich in die Schrift, die er nur mit größter Mühe zu entziffern vermag. In seinem dreiteiligen Vortrag berichtet von lauter Untaten und Sünden. Dem Angelion ist das Eu abhanden gekommen, und nichts, nebenbei bemerkt, läßt glauben, verselbständigt habe es sich in EU verwandelt. Nichts auch weist darauf hin, daß nach 1913 Rettung oder Erlösung noch möglich sei. Der Gang der Erzählung legt nahe, Salvatore habe den Engel während seines Vortrags gedankenverloren auf eine Serviette gezeichnet, tatsächlich ist es ein weiterer Engel Giottos*. Trägt Salvatore Giottos Engel als Votivbilder mit sich, erklärt er den italienischen Meister zum offiziellen Himmelsmaler des Herrn? Der Engel ist kopflos und scheint vom Wind getrieben, als handele es sich um Benjamins Engel in einer Seitenansicht.
In der frühen Phase des Buches hatten sich Passanten aufgrund optischer Ähnlichkeiten in halluzinatorischer Übersteigerungen in den Dichter Dante oder den König Ludwig verwandelt, hier haben durch Giottos Fresco aufgeweckte Namensähnlichkeiten den gleichen Effekt. Trotz ihrer transzendenten Unternähung, die den Gesprächen den Charakter einer Verkündigungen verleiht, sind Malachio und Salvatore Altamura daher nicht von der Liste der regulären Gesprächspartner zu streichen. Die Realitätssuggestion der Prosa hat keinen Riß, und auch wenn den Leser nie das Gefühl des nicht ganz Geheuren verläßt, kann er nach der Enttarnung des Propheten und des Heilands jederzeit zu dem Zustand zurückkehren, als der eine ein bloßer Venezianer und der andere ein schlichter Bewohner Veronas war, when Jesus was sweet Mary’s son and Cain was just a man. Freilich staunt man über die diffizile Schichtung der Erzählebenen, fast wie im Falle Johann Sebastian Bachs, der bei der Überwindung größter kompositorischer Schwierigkeiten jederzeit noch Kraft und Zeit für verzwickte Zahlenspiele im Notenbild hatte. Wird die Musik aufgeführt, hört man davon nichts – oder doch? Stellt man zusätzlich in Rechnung, daß Selysses sich künstlerisch im Bild des Artisten spiegelt, läßt sich kaum mehr sagen, was Spiel und was Ernst ist. Aber auch Giorgio Santini kehrt nach einer kurzen Weile der Identität mit San Giorgio und ungeachtet seiner erstaunlichen Leistungen auf dem Hochseil zurück in eine betont bürgerliche Existenz mit Frau, drei Töchtern und Nonna. Von den Rückverwandlungen wird nicht erzählt, aber auch von den Verwandlungen ist im strengen Sinne nicht erzählt worden.

*Auskunft Christian Wirths