Reine Stirn der Engel
People paraded up and down, seeing and being seen.
Es hat den Eindruck, als sei Selysses, der so viel wahrnimmt, selbst kaum sichtbar. Als er in Oberitalien glaubt, zwei Augenpaare würden seinen Tarnschutz durchdringen, gerät er in Panik. Auch die Sebaldmenschen, die Ausgewanderten, sind verborgen. Aurach verbringt den Tag im Atelier und begibt sich erst in der Dunkelheit des Abends in das Wadi Halfa, sehen kann ihn aber ohnehin niemand, da Manchester menschenleer ist. Wenn Bereyter seine Erblindung und den ihn erwartenden mausgrauen Prospekt begrüßt, so möglicherweise auch weil er die Blicke der anderen nicht mehr spüren wird. Die Blicke der anderen sind Kafkas Entsetzen, und der Einfall des Dichters, er solle vor den auf dem Marktplatz angetretenen Bewohnern Desenzanos paradieren, erscheint als ein ebenso komischer wie robuster Therapievorschlag. Im Bahnhof von Antwerpen erkennen sich gleichsam im Wege einer doppelten Negation mit Selysses und Austerlitz zwei Unsichtbare. In einer Erzählwelt der Versteckten fällt es auf, wenn jemand, und sei es auch ein Komparse, sich vor anderen darstellt.
Beyle kaufte sich einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen, und in dieser Aufmachung ging er in Volterra herum und versuchte, Métilde, sooft als nur möglich, wenigstens aus einiger Distanz zu sehen. Beyle glaubte sich zunächst tatsächlich unerkannt, stellte dann aber mit noch größerer Befriedigung fest, daß Métilde ihm vielsagende Blicke zuschickte. - Offenbar liegt eine eigenartige Verkennung der Umstände vor, Stendhal sieht seine grelle Aufmachung als Tarnanzug, aus dem heraus er inkognito den Anblick der Geliebten verehren kann, tatsächlich schlägt er ihr an den verschiedenen Ecken und Enden der kleinen toskanischen Stadt Volterra vor den Augen der Öffentlichkeit ein Pfauenrad nach dem anderen. Die extrovertiert-farbige Vorstellung endet in grauer Verbannung, mit einem sehr trockenen Billett wird er aus dem Liebesdienst entlassen, auf seiner Schreibtischplatte liegt fortan, zum Andenken an Métilde, ein Gipsabdruck ihrer linken Hand. Die leichte Krümmung des Ringfingers aber verursacht ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte. Die Gaffe der bunten Parade in Volterra erweist sich unter der Hand, wenn man das sagen darf, als Glücksfall. Stendhal wird in Zukunft viel Zeit am Schreibtisch verbringen und für uns seine schönen Bücher schreiben, Métildes Gipshand wird sich in die Hand Mme Gherardis verwandeln, an deren Seite er, weiterhin am Schreintisch sitzend, eine beglückende Reise durch Oberitalien unternimmt, wobei sie nach Möglichkeit die Einsamkeit suchen. Bei einer Bootsfahrt auf dem See fern von den Blicken der Menschen wird Mme Gherardi ausführen, die Liebe sei eine Chimäre, nach der es uns umso mehr verlange, je weiter wir uns entfernen von der Natur.
Die Mathild ihrerseits hat sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja, die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. - Mathild ist nicht Métilde und schon gar nicht Stendhal, und doch scheint sie die begonnene Geschichte weiterzuerzählen. Der Ort W. im Allgäu ist keine südliche Stadt mit einer Rambla, auf der die Menschen paradieren, um zu sehen und gesehen zu werden, aber auch der Dorfanger reicht für die Veröffentlichung der Person. Wir stellen uns vor, daß Mathild Seelos beim Mayrbeck eintritt, um ein Brot zu besorgen, dann herübergeht zum Ebentheuer, um nach ihrer defekten Uhr zu sehen, von dort zum Dr. Rambousek für eine neue Verschreibung, mit provokanter Langsamkeit zurück zum Mayrbeck, weil es noch ein süßer Wecken sein soll und schließlich zum Café Alpenrose, wo sie im Obergeschoß ihre Wohnung hatte, in die sie nie jemanden hinaufließ. Es ist die augenblickhafte Extrovertierung der Eingezogenheit, die aufreizende Enthüllung des Verborgenen, das aber verborgen bleibt. Stendhal wird aus seiner neugewonnenen Eingezogenheit Buch nach Buch heraussenden, vielleicht findet sich auch das eine oder andere unter dem Literarischen des letzten Jahrhunderts in Mathilds Bibliothek, die erst nach ihrem Tod entdeckt wird. Ob sie, die gleichfalls nicht als Einsiedlerin geboren wurde, selbst etwas zu Papier gebracht hat, ist nicht bekannt.
Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. – Le Strange übertrifft Stendhal an Buntheit und Mathild an Eingezogenheit. Eigentlich stellt man sich ihn hinter hohen Hecken verborgen vor, aber es muß sich doch eine Position, einen Einblickswinkel gefunden haben, der die Beobachtung seines einsamen Treibens erlaubte, ohne sein Wissen und wider seinen Willen, nichts liegt ihm ferner als zu paradieren, da ist man sich sicher und kann sich doch nicht sicher sein. Wie auch immer, wir können uns freuen, Zeugen einer farbenprächtigen Demonstration des gänzlich Verborgenen zu sein.
Bei keiner der drei Szenen handelt es sich um ein sorgloses, dem Flanieren verwandtes Paradieren auf der Esplanade. Für Stendhal bedeutet die mißlingende Parade in Volterra den Übergang in die Abgeschiedenheit des Schriftstellerdaseins, im Garten des Klosters der Minori Osservanti hoch überhalb des Albaner Sees zeichnet er langsam mit einem Stock die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Sand. Mathild demonstriert ihre Abgeschiedenheit provokant in Schwarz, Le Strange, ohne Zeugen, wie er glaubt oder auch nicht, in bunten Farben. Sieht man ab von dem in seiner ursprünglichen Extrovertiertheit in Sebalds Werk ohnehin auffälligen Stendhal, ist die Veröffentlichung des Verborgenen Aufgabe der Komparsen*, nicht der Hauptdarsteller. Dr. Selwyn, in seiner Gartenexistenz Le Strange in mancher Hinsicht ähnlich, wirkt, obzwar großgewachsen, wie ein ganz kleiner Mensch und teilt damit die Neigung der Sebaldmenschen, der Male Leads, zum Verschwinden.
People paraded up and down, seeing and being seen.
Es hat den Eindruck, als sei Selysses, der so viel wahrnimmt, selbst kaum sichtbar. Als er in Oberitalien glaubt, zwei Augenpaare würden seinen Tarnschutz durchdringen, gerät er in Panik. Auch die Sebaldmenschen, die Ausgewanderten, sind verborgen. Aurach verbringt den Tag im Atelier und begibt sich erst in der Dunkelheit des Abends in das Wadi Halfa, sehen kann ihn aber ohnehin niemand, da Manchester menschenleer ist. Wenn Bereyter seine Erblindung und den ihn erwartenden mausgrauen Prospekt begrüßt, so möglicherweise auch weil er die Blicke der anderen nicht mehr spüren wird. Die Blicke der anderen sind Kafkas Entsetzen, und der Einfall des Dichters, er solle vor den auf dem Marktplatz angetretenen Bewohnern Desenzanos paradieren, erscheint als ein ebenso komischer wie robuster Therapievorschlag. Im Bahnhof von Antwerpen erkennen sich gleichsam im Wege einer doppelten Negation mit Selysses und Austerlitz zwei Unsichtbare. In einer Erzählwelt der Versteckten fällt es auf, wenn jemand, und sei es auch ein Komparse, sich vor anderen darstellt.
Beyle kaufte sich einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen, und in dieser Aufmachung ging er in Volterra herum und versuchte, Métilde, sooft als nur möglich, wenigstens aus einiger Distanz zu sehen. Beyle glaubte sich zunächst tatsächlich unerkannt, stellte dann aber mit noch größerer Befriedigung fest, daß Métilde ihm vielsagende Blicke zuschickte. - Offenbar liegt eine eigenartige Verkennung der Umstände vor, Stendhal sieht seine grelle Aufmachung als Tarnanzug, aus dem heraus er inkognito den Anblick der Geliebten verehren kann, tatsächlich schlägt er ihr an den verschiedenen Ecken und Enden der kleinen toskanischen Stadt Volterra vor den Augen der Öffentlichkeit ein Pfauenrad nach dem anderen. Die extrovertiert-farbige Vorstellung endet in grauer Verbannung, mit einem sehr trockenen Billett wird er aus dem Liebesdienst entlassen, auf seiner Schreibtischplatte liegt fortan, zum Andenken an Métilde, ein Gipsabdruck ihrer linken Hand. Die leichte Krümmung des Ringfingers aber verursacht ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte. Die Gaffe der bunten Parade in Volterra erweist sich unter der Hand, wenn man das sagen darf, als Glücksfall. Stendhal wird in Zukunft viel Zeit am Schreibtisch verbringen und für uns seine schönen Bücher schreiben, Métildes Gipshand wird sich in die Hand Mme Gherardis verwandeln, an deren Seite er, weiterhin am Schreintisch sitzend, eine beglückende Reise durch Oberitalien unternimmt, wobei sie nach Möglichkeit die Einsamkeit suchen. Bei einer Bootsfahrt auf dem See fern von den Blicken der Menschen wird Mme Gherardi ausführen, die Liebe sei eine Chimäre, nach der es uns umso mehr verlange, je weiter wir uns entfernen von der Natur.
Die Mathild ihrerseits hat sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja, die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. - Mathild ist nicht Métilde und schon gar nicht Stendhal, und doch scheint sie die begonnene Geschichte weiterzuerzählen. Der Ort W. im Allgäu ist keine südliche Stadt mit einer Rambla, auf der die Menschen paradieren, um zu sehen und gesehen zu werden, aber auch der Dorfanger reicht für die Veröffentlichung der Person. Wir stellen uns vor, daß Mathild Seelos beim Mayrbeck eintritt, um ein Brot zu besorgen, dann herübergeht zum Ebentheuer, um nach ihrer defekten Uhr zu sehen, von dort zum Dr. Rambousek für eine neue Verschreibung, mit provokanter Langsamkeit zurück zum Mayrbeck, weil es noch ein süßer Wecken sein soll und schließlich zum Café Alpenrose, wo sie im Obergeschoß ihre Wohnung hatte, in die sie nie jemanden hinaufließ. Es ist die augenblickhafte Extrovertierung der Eingezogenheit, die aufreizende Enthüllung des Verborgenen, das aber verborgen bleibt. Stendhal wird aus seiner neugewonnenen Eingezogenheit Buch nach Buch heraussenden, vielleicht findet sich auch das eine oder andere unter dem Literarischen des letzten Jahrhunderts in Mathilds Bibliothek, die erst nach ihrem Tod entdeckt wird. Ob sie, die gleichfalls nicht als Einsiedlerin geboren wurde, selbst etwas zu Papier gebracht hat, ist nicht bekannt.
Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. – Le Strange übertrifft Stendhal an Buntheit und Mathild an Eingezogenheit. Eigentlich stellt man sich ihn hinter hohen Hecken verborgen vor, aber es muß sich doch eine Position, einen Einblickswinkel gefunden haben, der die Beobachtung seines einsamen Treibens erlaubte, ohne sein Wissen und wider seinen Willen, nichts liegt ihm ferner als zu paradieren, da ist man sich sicher und kann sich doch nicht sicher sein. Wie auch immer, wir können uns freuen, Zeugen einer farbenprächtigen Demonstration des gänzlich Verborgenen zu sein.
Bei keiner der drei Szenen handelt es sich um ein sorgloses, dem Flanieren verwandtes Paradieren auf der Esplanade. Für Stendhal bedeutet die mißlingende Parade in Volterra den Übergang in die Abgeschiedenheit des Schriftstellerdaseins, im Garten des Klosters der Minori Osservanti hoch überhalb des Albaner Sees zeichnet er langsam mit einem Stock die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Sand. Mathild demonstriert ihre Abgeschiedenheit provokant in Schwarz, Le Strange, ohne Zeugen, wie er glaubt oder auch nicht, in bunten Farben. Sieht man ab von dem in seiner ursprünglichen Extrovertiertheit in Sebalds Werk ohnehin auffälligen Stendhal, ist die Veröffentlichung des Verborgenen Aufgabe der Komparsen*, nicht der Hauptdarsteller. Dr. Selwyn, in seiner Gartenexistenz Le Strange in mancher Hinsicht ähnlich, wirkt, obzwar großgewachsen, wie ein ganz kleiner Mensch und teilt damit die Neigung der Sebaldmenschen, der Male Leads, zum Verschwinden.