Samstag, 16. Februar 2013

Bürger

Zeitwanderer
Widzę i opisuję

Der deutsche Begriff des Bürgers wird im Französischen bekanntlich durch die zwei Begriffe des Bourgeois und des Citoyen aufgefangen. In der nach der Zahl Achtundsechzig benannten Zeit gab es ausschließlich den Bourgeois, der in jeder Form zu bekämpfen war von denen, die sich als die anderen sahen, der Citoyen hatte ein weiteres Mal die Gestalt des Revolutionärs angenommen. Irgendwann, vermutlich in den frühen Achtzigern, war dann der Bourgeois über Nacht durch den Citoyen, zu deutsch: mündiger Bürger, als der Lichtgestalt, dem Heiligen der sich sakralisierenden säkularen Demokratie, ersetzt worden und umfaßt seither alle und jeden einschließlich der Bevölkerungsgruppe, für die der Fernsehkritiker Kalkofe jede Woche neue, ebenso drastische wie zutreffende Bezeichnungen entwickelt, Dumpfbacken die mildeste. Wenige Jahre später hat dann der Markt einen ähnlichen Transsubstationsprozeß durchlaufen, der Quell allen Unheils wurde zum Engel des Heils über der Agora. Erst nach einer längeren Schockstarre vermochten erste Wiedererweckte in der neuen Erscheinung am gesellschaftlichen Himmel den neoliberalen Luzifer zu erkennen.

Im Essaywerk zeigt Sebald sich als Kapitalismuskritiker, äußert sich dabei aber weniger unmittelbar Marx folgend als in der Explikation von Stifter und Keller. Im Erzählwerk kommt das Thema kaum offen zur Sprache, auch vom simplen Geld ist so gut wie nicht die Rede, allenfalls, ähnlich wie bei Bernhard, im Motiv großer Vermögen, die ungenutzt bleiben (Le Strange) dem Versuch der Vernichtung unterzogen (Cosmo Solomon) oder verschenkt werden, wie im Fall Wittgensteins, der zwar keine Gestalt im Erzählwerk ist, es aber doch als Schatten durchwandert. Ansonsten verliert sich die Kapitalismusbetrachtung in der Naturgeschichte der Zerstörung, und der Ton der Kritik macht dem der Weltklage Platz.

In der fraglichen achtundsechziger Zeit hat sich Sebald, nach allem, was man erkennen kann, als Citoyen verstanden, der begann, sich durch die Entlarvung von Sternheim u.a. als Bourgeois selbst eine bürgerliche Existenz als Hochschullehrer aufzubauen. Als er später in den Beruf des Dichters ergreift, bleibt in seiner Prosa die Unterscheidung von Bourgeois und Citoyen taub. Austerlitz, Bereyter u.a. sind sicher keine Bourgeois, ihnen fehlt aber auch das den Citoyen auszeichnende Merkmal der aktiven Teilnahme am Gemeinwesen, läßt man sie gewähren, macht sich ein ausgeprägter Hang zur Weltflucht bemerkbar. Auch Dumpfbacken begegnen nur selten, sie scheinen auf die Region Kissingen begrenzt, der Brotzeiter schon im Zug dahin und dann am Ort der Metzgermeister Michael Schultheis, von dem es hieß, er habe sich großer Beliebtheit erfreut, sei dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen und habe seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet, zwei beeindruckende Exemplare der Gattung. Auf den Begriff des Bürgers könnte insofern verzichtet werden, wenn nicht der Übergang einiger mythischer Gestalten in bürgerliche Existenzen und umgekehrt die Verwandlung bürgerlicher Existenzen in mythische Gestalten zu beobachten und zu beschreiben wäre.

In Lindenhardt verläßt der Heilige Georg Grünewalds Altarbild und tritt seinem Namenspaten Selysses entgegen. In Verona trifft Selysses San Giorgio wieder vor dem Drachenkampf, in der Londoner Nationalgalerie dann hat der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, sein Leben bereits ausgehaucht, und San Giorgio trägt als unverkennbares Zeichen für das Ende der heroischen Zeit und den Eintritt ins bürgerliche Leben einen Strohhut auf den Kopf. Zuvor hatte Selysses ihn schon im Konsulat zu Mailand getroffen, ohne ihn freilich zu erkennen, mit den gleichen Strohhut in der Hand, jetzt nicht mehr San Giorgio, sondern Giorgio Santini, seines Zeichen Hochseilartist. Begleitet ist er von seiner Frau, seinen drei jugendhaften Töchtern und der Nonna. Hochseilartist ist sicher kein Beruf aus der Mitte des bürgerlichen Raums, auf der anderen Seite zeichnet sich Santini durch eine überaus korrekte, wenn auch ein wenig ins Extravagante gehende Bekleidung aus, und auch Auftreten und Verhalten seiner Begleiterinnen sind tadellos. Als Künstler und Familienmensch ist er ein Spiegelbild des Selysses, die Familie allerdings nach italienischer Sitte ein wenig umfänglicher gestaltet. Tiefere Einsichten in seine Verankerung im bürgerlichen Leben erhalten wir aber nicht. Selysses muß einige Worte mit Santini gewechselt haben, dem Leser wird aber nur ein knappes Ergebnis übermittelt. Die weiblichen Familienmitglieder schweigen beharrlich, die Töchter gehen im Wartesaal zwischen den Sesseln und Tischen umher, die eine mit einem bunten Windrädchen, die andere mit einem ausziehbaren Teleskop und die dritte mit einem Sonnenschirm. Auf eine ungewisse Weise scheinen die drei Schwestern noch der mythischen Welt verbunden.

Auf dem Dachboden der Mathild erträumt sich das Kind Selysses einer Jäger, der, was er nicht wissen kann, dem von Kafka im Tagebuch festgehaltenen Jäger Hans Schlag aufs Wort entspricht: Eine große runde Mütze aus Krimmerpelz saß tief auf seinem Kopf. Ein starker Schurrbart breitete sich steif aus. Gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug, es erinnerte an das Geschirr eines Pferdes, zusammenhielt. So ist Selysses arglos und ohne Ahnung, als er den Jäger Hans Schlag in seinem Heimatort W. antrifft, wo er den gutbürgerlichen Beruf eines Wildhüters im Rahmen der Bayerischen Fortverwaltung ausübt. Das Maß seiner Verankerung im bürgerlichen Leben bleibt allerdings unklar. Eine Wohnung scheint er nicht zu haben, bis tief in die Nacht sitzt er in der Wirtschaft, das Liebeswerk mit der Romana wird im Holzschopf verrichtet. Der Rucksack, den er immer bei sich trägt, ist dem Beruf geschuldet, ordnet ihn aber auch der Gruppe der Sebaldmenschen zu, die sich an diesem Wittgenstein entlehnten Emblem erkennen. Der Försterdackel ist zu jeder Tages- und Nachtzeit am Rucksack festgebunden, so daß sich die Frage artgerechter Tierhaltung aufdrängt. Der Name des Hundes, Waldmann, sowie der Umstand, daß die nach dem Tode des Jägers aufgefundene Taschenuhr eine Takte aus dem Lied Üb immer treu und Redlichkeit spielt, scheinen eine hohen Grad der Verbürgerlichung, fast schon der Vergartenzwergung anzuzeigen, die am Oberarm eintätowierte Barke andererseits fusioniert den Jäger Hans Schlag posthum mit Kafkas ungleich bekannterem Jäger Gracchus, der im Allgäu endlich den ersehnten Tod gefunden hätte. Der mythologische Hintergrund der rundum rätselhaften Gestalt weitet sich damit noch einmal immens.
Während Hans Schlag und Giorgio Santini sich auf den weiten langen Weg aus der Vor- und Frühgeschichte in die Gegenwart begeben haben, ohne daß sich genau abschätzen ließe, wie weit sie gekommen sind, haben sich Malachio und Salvatore Altamura, der eine Astrophysiker und Prophet, der andere Heiland und Redaktionsmitarbeiter, den Anschein nach auf ein Leben als Berufspendler an der Grenze der Äonen eingerichtet. Die Ashburys in Irland wiederum scheinen sich auf dem Rückweg in eine mythische Vergangenheit zu befinden, die drei Schwestern Catherine, Clarissa und Christina sitzen als wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder da und Mrs. Ashbury auf der Bibliotheksstaffelei stehend zwischen den am Plafond angebrachten raschelnden Samenbehältern wie eine in den Himmel auffahrende Heilige. Den längsten Weg aber legt der Major George Wyndham Le Strange (GWS) zurück.

Wir sehen in ihm einen Halbbruder des Dichters WGS sowie auch des Artisten Giorgio Santini (GS), allesamt Abkömmlinge des San Giorgio (SG). Erneut ist er in den dunklen Wald eingedrungen, bei Bergen Belsen, und hat einen ungleich übleren Drachen zur Strecke gebracht. Nach der Kriegstat macht er sich auf den Weg zurück in die mythische Welt, vorbei am Heiligen Georg mit dem vorwärtsgewandten Blick hin zum Heiligen Franz zunächst und dann zum Heiligen Hieronymus, der im Erdloch lebt.

Es sind durchweg Komparsen im Werk, die sich zwischen der mythologischen und der realen Welt hin- und herbewegen, ähnliche Lebensverläufe der Hauptdarsteller hätten einen Genrewechsel hin zum Fantasyfach erfordert. Da der Dichter uns aber anhält, die Nebendarsteller nicht geringer zu achten als die Protagonisten, stellt sich die Frage, wie sich die beiden Rollenfächer zueinander verhalten. Auch die eigentlichen Sebaldmenschen, die Ausgewanderten und die in ihrer Eingezogenheit, haben eine weit geöffnete Vergangenheit, die sich ins Dunkel verliert. Austerlitz hat mit seinen Bemühungen um Erhellung nur begrenzten Erfolg, und zweifelsfrei benennbare Gründe für Bereyters Tod auf den Schienen ergeben sich nicht. Der Major Le Strange nimmt eine Schlüsselstellung ein zwischen den Komparsen und den Protagonisten. Jederzeit hätte er in die Liga der Ausgewanderten aufsteigen können, als Eingezogener, gänzlich nach Innen Ausgewanderter allerdings, so wie Mathild Seelos. Selysses hätte Florence Barnes’ Vertrauen erworben und einiges mehr über sein und ihr Leben erfahren, vielleicht wäre ein Tagebuch aufgetaucht. Die expliziten mythologischen Bezüge zum Urvater San Giorgio, die ihm zum Halbbruder Giorgio Santinis und des Selysses machen, hätten dann aber gekappt werden müssen.

Sebald beruft sich für sein Werk auf die bürgerliche Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts im süddeutschen Sprachraum, Stifter und Keller. Einerseits bewegen wir uns, sprachlich und motivisch, in einer bürgerlichen Welt, andererseits entziehen sich seine Figuren immer wieder in einen geheimen Rückraum hinter der Welt.

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