Altamira
Bourdieu, geboren in der nahe den Pyrenäen gelegenen Ortschaft D., die eher kleiner noch ist als die Ortschaft W. am Fuß der Alpen, führt Duchamp und den Zöllner Rousseau als extreme Vertreter des Kunstfeldes vor. Der eine, so die Annahme, wäre aus eigener Kraft gar nicht hineingelangt, le Douanier Rousseau est entièrement fait par le champ dont il est le jouet. Marcel Duchamp wiederum ist die reine Verkörperung des unruhigen Feldes, rompant continûment avec les conventions, s’agirait-il de celles de l’avangarde, il ne cesse d’affirmer sa volonté d’aller plus loin, de dépasser toutes les tentatives passées et présentes, dans une sorte de révolution permanente. In einigen polemischen, gegen Sartre, Gadamer und andere gerichteten Passagen der Règles de l’art klingt es so, als sei Bourdieu angesichts der Erfolge und des großen Ertrags seiner Feldlehre zu der Überzeugung gelangt, es sei der einzig richtige Ansatz. Wenn wir aber die Höhle von Altamira betreten und uns umschauen, so wissen wir nicht, ob der Stier und die Gazelle von einem paläolithischen Duchamp oder von einem paläolithischen Zöllner Rousseau gemalt wurden, oder vielleicht der Stier von einem Duchamp und die Gazelle vom Zöllner, der überwältigenden Eindruck der Malereien wird dadurch nicht geringer. Durch die Odyssee führt uns der bärtige und augenlose Dichter, aber auch wenn er in dieser Gestalt eine Fiktion ist und wir von dem wahren Autor und dem Feld, in dem er gestanden ist, so gut wie nichts mit Sicherheit wissen, müssen wir deswegen die rosenfingrige Morgenröte nicht von uns weisen, andere Formen der Betrachtung und des Ausdrucks ästhetischer Freude sind möglich. Was aber notgedrungen möglich ist, bleibt auch dann möglich, wenn die Not entfällt. Das ist ohnehin klar, und eines strengen Beweises, wie er hier geführt wurde, bedarf es im Grunde nicht.
Sebald und Herbeck bilden ein Paar, das dem Paar Duchamp und Douanier Rousseau in mancher Hinsicht ähnelt. Sebald bewegt sich, wenn man Bourdieus Feldbegriff eine etwas andere Ausrichtung und zugleich eine konkrete Bildlichkeit verleihen will, schon in seinem ersten Prosawerk so souverän wie sonst nur der junge Austerlitz auf dem Rugbyfeld, wenn er die Reihen der Mitspieler durchquert wie keiner sonst. Naturgemäß aber gehören Kafka, Stendhal, Büchner, Browne, Bernhard und andere zu Sebalds Team, nur eine Mannschaft ertüchtigt sich auf dem Feld, der Gegner fehlt. Was Herbeck anbelangt, so wäre er, wie der Zöllner, ohne die Entdeckung durch anerkannte Literaten wie Gerhard Roth und vor allem auch Sebald selbst gar nicht erst auf das Spielfeld gelangt.
Der empfängliche Leser wird in den Schwindel.Gefühlen den Besuch bei Ernst Herbeck in Klosterneuburg als eine Art Fremdkörper empfinden, als den einzigen auf alltägliche Weise lebenswahren, nicht untergründigen und Schwindelgefühle erregenden Erzählabschnitt. Stendhal zieht sich in Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe mit der von ihm erdachten Mme Gherardi in die eigene Literatur zurück, Kafka überantwortet sich dem Jäger Gracchus, der Artist Santini erweist sich als San Giorgio, der Venezianer Malachio und der Veronese Altamura verbergen in sich den Heiland und seinen Propheten. Ernst Herbeck dagegen ist Ernst Herbeck, aber wer ist er? Sebald ist der Frage in dem Aufsatz Des Häschen Kind, der kleine Hase nachgegangen.
Abgeschmackt kämen ihm die meisten Produkte der neueren Literatur schon nach kurzer Zeit vor, so beginnt Sebald den Aufsatz, ähnlich wie auch Bourdieu auf die oft rapiden Alterungsprozesse auf den Feldern der Kunst und der Literatur eingeht, eine fatale Entwicklung, vor der Leute wie Duchamp, die sich ständig an der Spitze der Neuerer abarbeiten, am wenigsten gefeit sind. Herbeck aber scheint völlig aus der Zeit gefallen und ihrem Zugriff entzogen. Er schreibt: Poesie lernt man vom Tiere aus, das sich im Wald befindet. Berühmte Geschichteschreiber sind die Gazellen – so mag auch bereits der Höhlenmaler in Altamira gedacht haben, als er die Tiere in eleganten Bildern voller Poesie an die Wände brachte.
Bourdieu geht den kleinbürgerlichen Elementen in den Bildwerken des Zöllners nach: Les moments qu’il fixe sont les dimanches de la vie petite-bourgeoise, et ses personnages sont pourvus de tous les accessoires inévitables de la fête, faux cols impeccables, moustaches luisantes de cosmétique, rédingotes noires -, und sieht von daher seine Auffassung bestätigt, Rousseau sei eine Art blinder Passagier im Feld. Ein besonders schneller Alterungsprozeß ergibt sich aus diesen Elementen der Zeitgebundenheit aber nicht, in manchen Augen mögen Rousseaus Dschungeltiere sich nicht schlechter behauptet haben als Duchamps Pissoir, das, um es mit einem gewagten Bild zu sagen, sein Pulver längst verschossen hat. Herbeck hat einen ähnlich vorschriftsmäßigen Kleidungsstil wie Rousseaus Sonntagsmenschen und fällt doch in eine ganz andere Kategorie. Er trug einen Glencheckanzug mit einem Wanderabzeichen am Revers. Auf dem Kopf hatte er einen kleinen Hut, eine Art Trilby, den er später abnahm und neben sich hertrug, genauso wie Selysses’ Großvater das beim sommerlichen Spazierengehen oft getan hatte. Das Photo, das, wollte man dem Text vertrauen, Herbeck zeigt, zeigt in Wahrheit Robert Walser. Schauen wir also auf Herbeck, so schauen wir auf ein Dichtertrio, denn Herbeck ist wie Walser und auch wie Selysses, weil der, wie wir aus Ritorno in patria wissen, seinen Großvater zum Verwechseln ähnelt. Herbeck ist gewissermaßen der Häuptling der kleinen Bande und hat, wie Sebald feststellt, ein Totemtier. Es ist nicht der Stier und nicht die Gazelle, sondern der Hase. Damit sind wir bei den von den Europäern im Paläolithikum angetroffenen Ureinwohnern Nordamerikas, deren Sandmalereien und Totemschnitzwerke, wie die Höhlenmalereien in Altamira, zwar und in besonderem Maße dem physikalischen Verschleiß in der Zeit, nicht aber dem Verschleiß im Kunstfeld unterliegen, und grad so unverwüstlich sind auch Herbecks Wortkunstwerke:
Der Hase habe, so heißt es, eine ambivalente Verfassung, in der Macht uns Ohnmacht, Kühnheit und Angst auf das engste miteinander verbunden sind. Wir treffen ihn leibhaftig in den Ringen des Saturn. Ich sehe den Rand des grauen Asphalts, jeden einzelnen Grashalm, sehe den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren, irgendwie gespaltenen, seltsam menschlichen Gesicht, und ich sehe in seinem im Fliehen rückwärtsgewandten, vor Furcht fast aus dem Kopf sich herausdrehenden Auge, mich selber, eins geworden mit ihm. Im Hasen, von dem Herbeck feststellt, daß er letzten Endes doch kein Tiger ist, erkennt auch Selysses sein Totemtier, seinen Urahn und damit in Herbeck seinen engen Verwandten. Wenn Ernst Herbeck in den Schwindel.Gefühlen niemand anderes als Ernst Herbeck ist, ohne einen mythologischen Schatten wie Santini, Malachio oder Altamura, so führt er uns andererseits, als der, der er ist, auf geradem Wege ins Paläolithikum.
In der vielleicht einzigen Bemerkung, die Niklas Luhmann dem französischen Distinktionssoziologen widmet, naturgemäß in seinem Kunstbuch, konzediert er, Bourdieus Analysen machten es möglich, über Bourdieu und seine Analysen zu sprechen, gibt aber zu bedenken, im Hause der Gastgeber würde man wohl kaum darüber sprechen, wie man sie einschätzt, wenn man Dürers Hasen über ihrem Klavier hängen sieht. Bourdieu und das Problem des Hasen, der Ring hat sich auf eine überraschende aber wohl wenig ergiebige Weise geschlossen.
Bourdieu, geboren in der nahe den Pyrenäen gelegenen Ortschaft D., die eher kleiner noch ist als die Ortschaft W. am Fuß der Alpen, führt Duchamp und den Zöllner Rousseau als extreme Vertreter des Kunstfeldes vor. Der eine, so die Annahme, wäre aus eigener Kraft gar nicht hineingelangt, le Douanier Rousseau est entièrement fait par le champ dont il est le jouet. Marcel Duchamp wiederum ist die reine Verkörperung des unruhigen Feldes, rompant continûment avec les conventions, s’agirait-il de celles de l’avangarde, il ne cesse d’affirmer sa volonté d’aller plus loin, de dépasser toutes les tentatives passées et présentes, dans une sorte de révolution permanente. In einigen polemischen, gegen Sartre, Gadamer und andere gerichteten Passagen der Règles de l’art klingt es so, als sei Bourdieu angesichts der Erfolge und des großen Ertrags seiner Feldlehre zu der Überzeugung gelangt, es sei der einzig richtige Ansatz. Wenn wir aber die Höhle von Altamira betreten und uns umschauen, so wissen wir nicht, ob der Stier und die Gazelle von einem paläolithischen Duchamp oder von einem paläolithischen Zöllner Rousseau gemalt wurden, oder vielleicht der Stier von einem Duchamp und die Gazelle vom Zöllner, der überwältigenden Eindruck der Malereien wird dadurch nicht geringer. Durch die Odyssee führt uns der bärtige und augenlose Dichter, aber auch wenn er in dieser Gestalt eine Fiktion ist und wir von dem wahren Autor und dem Feld, in dem er gestanden ist, so gut wie nichts mit Sicherheit wissen, müssen wir deswegen die rosenfingrige Morgenröte nicht von uns weisen, andere Formen der Betrachtung und des Ausdrucks ästhetischer Freude sind möglich. Was aber notgedrungen möglich ist, bleibt auch dann möglich, wenn die Not entfällt. Das ist ohnehin klar, und eines strengen Beweises, wie er hier geführt wurde, bedarf es im Grunde nicht.
Sebald und Herbeck bilden ein Paar, das dem Paar Duchamp und Douanier Rousseau in mancher Hinsicht ähnelt. Sebald bewegt sich, wenn man Bourdieus Feldbegriff eine etwas andere Ausrichtung und zugleich eine konkrete Bildlichkeit verleihen will, schon in seinem ersten Prosawerk so souverän wie sonst nur der junge Austerlitz auf dem Rugbyfeld, wenn er die Reihen der Mitspieler durchquert wie keiner sonst. Naturgemäß aber gehören Kafka, Stendhal, Büchner, Browne, Bernhard und andere zu Sebalds Team, nur eine Mannschaft ertüchtigt sich auf dem Feld, der Gegner fehlt. Was Herbeck anbelangt, so wäre er, wie der Zöllner, ohne die Entdeckung durch anerkannte Literaten wie Gerhard Roth und vor allem auch Sebald selbst gar nicht erst auf das Spielfeld gelangt.
Der empfängliche Leser wird in den Schwindel.Gefühlen den Besuch bei Ernst Herbeck in Klosterneuburg als eine Art Fremdkörper empfinden, als den einzigen auf alltägliche Weise lebenswahren, nicht untergründigen und Schwindelgefühle erregenden Erzählabschnitt. Stendhal zieht sich in Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe mit der von ihm erdachten Mme Gherardi in die eigene Literatur zurück, Kafka überantwortet sich dem Jäger Gracchus, der Artist Santini erweist sich als San Giorgio, der Venezianer Malachio und der Veronese Altamura verbergen in sich den Heiland und seinen Propheten. Ernst Herbeck dagegen ist Ernst Herbeck, aber wer ist er? Sebald ist der Frage in dem Aufsatz Des Häschen Kind, der kleine Hase nachgegangen.
Abgeschmackt kämen ihm die meisten Produkte der neueren Literatur schon nach kurzer Zeit vor, so beginnt Sebald den Aufsatz, ähnlich wie auch Bourdieu auf die oft rapiden Alterungsprozesse auf den Feldern der Kunst und der Literatur eingeht, eine fatale Entwicklung, vor der Leute wie Duchamp, die sich ständig an der Spitze der Neuerer abarbeiten, am wenigsten gefeit sind. Herbeck aber scheint völlig aus der Zeit gefallen und ihrem Zugriff entzogen. Er schreibt: Poesie lernt man vom Tiere aus, das sich im Wald befindet. Berühmte Geschichteschreiber sind die Gazellen – so mag auch bereits der Höhlenmaler in Altamira gedacht haben, als er die Tiere in eleganten Bildern voller Poesie an die Wände brachte.
Bourdieu geht den kleinbürgerlichen Elementen in den Bildwerken des Zöllners nach: Les moments qu’il fixe sont les dimanches de la vie petite-bourgeoise, et ses personnages sont pourvus de tous les accessoires inévitables de la fête, faux cols impeccables, moustaches luisantes de cosmétique, rédingotes noires -, und sieht von daher seine Auffassung bestätigt, Rousseau sei eine Art blinder Passagier im Feld. Ein besonders schneller Alterungsprozeß ergibt sich aus diesen Elementen der Zeitgebundenheit aber nicht, in manchen Augen mögen Rousseaus Dschungeltiere sich nicht schlechter behauptet haben als Duchamps Pissoir, das, um es mit einem gewagten Bild zu sagen, sein Pulver längst verschossen hat. Herbeck hat einen ähnlich vorschriftsmäßigen Kleidungsstil wie Rousseaus Sonntagsmenschen und fällt doch in eine ganz andere Kategorie. Er trug einen Glencheckanzug mit einem Wanderabzeichen am Revers. Auf dem Kopf hatte er einen kleinen Hut, eine Art Trilby, den er später abnahm und neben sich hertrug, genauso wie Selysses’ Großvater das beim sommerlichen Spazierengehen oft getan hatte. Das Photo, das, wollte man dem Text vertrauen, Herbeck zeigt, zeigt in Wahrheit Robert Walser. Schauen wir also auf Herbeck, so schauen wir auf ein Dichtertrio, denn Herbeck ist wie Walser und auch wie Selysses, weil der, wie wir aus Ritorno in patria wissen, seinen Großvater zum Verwechseln ähnelt. Herbeck ist gewissermaßen der Häuptling der kleinen Bande und hat, wie Sebald feststellt, ein Totemtier. Es ist nicht der Stier und nicht die Gazelle, sondern der Hase. Damit sind wir bei den von den Europäern im Paläolithikum angetroffenen Ureinwohnern Nordamerikas, deren Sandmalereien und Totemschnitzwerke, wie die Höhlenmalereien in Altamira, zwar und in besonderem Maße dem physikalischen Verschleiß in der Zeit, nicht aber dem Verschleiß im Kunstfeld unterliegen, und grad so unverwüstlich sind auch Herbecks Wortkunstwerke:
Der Hase habe, so heißt es, eine ambivalente Verfassung, in der Macht uns Ohnmacht, Kühnheit und Angst auf das engste miteinander verbunden sind. Wir treffen ihn leibhaftig in den Ringen des Saturn. Ich sehe den Rand des grauen Asphalts, jeden einzelnen Grashalm, sehe den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren, irgendwie gespaltenen, seltsam menschlichen Gesicht, und ich sehe in seinem im Fliehen rückwärtsgewandten, vor Furcht fast aus dem Kopf sich herausdrehenden Auge, mich selber, eins geworden mit ihm. Im Hasen, von dem Herbeck feststellt, daß er letzten Endes doch kein Tiger ist, erkennt auch Selysses sein Totemtier, seinen Urahn und damit in Herbeck seinen engen Verwandten. Wenn Ernst Herbeck in den Schwindel.Gefühlen niemand anderes als Ernst Herbeck ist, ohne einen mythologischen Schatten wie Santini, Malachio oder Altamura, so führt er uns andererseits, als der, der er ist, auf geradem Wege ins Paläolithikum.
In der vielleicht einzigen Bemerkung, die Niklas Luhmann dem französischen Distinktionssoziologen widmet, naturgemäß in seinem Kunstbuch, konzediert er, Bourdieus Analysen machten es möglich, über Bourdieu und seine Analysen zu sprechen, gibt aber zu bedenken, im Hause der Gastgeber würde man wohl kaum darüber sprechen, wie man sie einschätzt, wenn man Dürers Hasen über ihrem Klavier hängen sieht. Bourdieu und das Problem des Hasen, der Ring hat sich auf eine überraschende aber wohl wenig ergiebige Weise geschlossen.
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