Montag, 11. März 2013

Freundschaft

Zusammengekauerte Gestalt

so young and bold


Freundschaft, genauer gesagt Männerfreundschaft, war in der Antike ein großes Thema, Orest und Pylades, Herakles und Philoktet. Die Klassik hat in ihrer Rückbesinnung auf das Altertum auch dieses Motiv nicht vernachlässigt, Hyperion und Bellarmin, Goethe und Schiller. Die meisten begeisterten Leser hat in Deutschland wohl die transatlantische Freundschaft zwischen Old Shatterhand und Winnetou gefunden. Mit Holmes und Watson stand ein Freundespaar am Beginn der Detektivliteratur. Naturgemäß sind alle diese Verhältnissen, mit der möglichen Ausnahme desjenigen zwischen Goethe und Schiller, längst als homosexuell basiert verdächtigt wenn nicht entlarvt worden. Nach aufgeklärtem Verständnis wären sie damit aus dem Feld der Freundschaft in das der Liebesbeziehung übergewechselt und Freundschaft wäre mehr oder weniger zu einem Motiv der Kinder- und Jugendliteratur geschrumpft, der kleine Tiger und der kleine Bär können bis auf weiteres noch unbeschwert die besten Freunde sein. Da in Sebalds Werk das Motiv der Liebesbeziehungen, sowohl hetero- als auch homosexueller Art, programmatisch schwach entwickelt ist, könnte der Frage nachgegangen werden, ob im Wege eines Ausgleichs das Freundschaftsthema bei ihm Terrain zurückerobert hat.
Auch in Sebalds Werk sind die beiden Freundschaften, an die sich der Leser sogleich erinnert, Schul- und Jugendfreundschaften. Beide haben die gleiche Struktur, derjenige, der der Situation besser gewachsen ist, nimmt sich des Schwächeren an und hilft ihm auf dem Weg ins Leben. Sogar als alle Nachzügler längst fertig waren, hatte der Fritz nicht viel mehr als ein Dutzend Kreuzchen auf seinem Blatt. Nach einem stillschweigenden Blickwechsel führte ich geschwind sein fragmentarisches Werk zu Ende, wie ich in den zwei Jahren, die wir von diesem Tag an noch nebeneinander saßen, einen Gutteil seiner Rechen-, Schreib- und Zeichenarbeiten erledigte. Der Fritz hat an nichts so viel Interesse gehabt wie an allem, was mit Viktualien, mit ihrer Zubereitung und Einverleibung zu tun hatte. Es war beim Verzehren einer Kaiserbirne, daß der Fritz mir eröffnete, daß er Koch werden würde, und Koch ist er dann auch geworden, und zwar, wie ohne weiteres gesagt werden kann, ein Koch von Weltrenommé, der in New York ebenso gefragt war wie in Madrid oder London. Der Fritz und ich sind uns dann noch einmal wiederbegegnet, im Lesesaal des British Museum, wo ich der Geschichte der Beringschen Alaskaexpedition nachging, während der Fritz französische Kochbücher aus dem 19. Jahrhundert studierte. Als wir einmal zugleich von der Arbeit aufschauten, haben wir uns, trotz des inzwischen vergangenen Vierteljahrhunderts sogleich wiedererkannt.

Immerzu, in jeder freien Minute, ordnete Gerald in seiner Tuckbox die Sachen, die er von zu Hause mitgebracht hatte, und einmal, nicht lange nachdem er mir als Faktotum zugeteilt worden war, beobachtete ich ihn an einem trostlosen Samstagnachmittag, wie er am Ende eines Korridors Feuer zu legen versuchte an einem Stapel Zeitungen, der dort aufgeschichtet war auf dem Steinboden neben dem offenen, in einen Hinterhof hinausführenden Tür. In dem grauen Gegenlicht sah ich seine kleine, zusammengekauerte Gestalt und die Flämmchen, die an den Rändern der Zeitungen züngelten, ohne daß es recht brennen wollte. Als ich ihn zur Rede stellte, sagte er, am liebsten wäre ihm ein riesiges Feuer und an der Stelle des Schulgebäudes ein Haufen Trümmer und Asche. Von da an habe ich mich um Gerald gekümmert, habe ihm das Aufräumen und Stiefelputzen erlassen und den Tee selber gekocht und mit ihm getrunken. Gerald ging mir in der Dunkelkammer gern zur Hand, und ich sehe ihn noch, einen Kopf kleiner als ich, wie er neben mir in der von einem rötlichen Lämpchen schwach erleuchteten Kammer steht und mit der Pinzette die Bilder hin- und herbewegt in dem mit Wasser gefüllten Ausguß. Er erzählte mir bei diesen Gelegenheiten oftmals von seinem Zuhause, am liebsten aber von den drei Brieftauben, die dort, so meinte er, nicht weniger sehnlich seine Rückkehr erwarteten als er sonst die ihre. Die Liebe zu den Tauben hat ihn wohl daran gewöhnt, sich vornehmlich in den oberen Sphären wohlzufühlen. Er hat dann den Beruf eines Astrophysikers ergriffen, und seine Leidenschaft wurde das Fliegen. Später erzählte mir Gerald gern von den Ausflügen, die er in seiner Cessna machte über das schneeglänzende Gebirge oder die Vulkangipfel des Puy de Dôme, die schöne Garonne hinab bis nach Bordeaux. Daß er von einem dieser Flüge nicht heimkehrte, war ihm wohl vorherbestimmt. Es war ein schlimmer Tag, als ich von dem Absturz in den Savoyer Alpen erfuhr, und vielleicht der Beginn meines eigenen Niedergangs, meiner im Laufe der Zeit immer krankhafter werdenden Verschließung in mich selbst.
Das Ungleichgewicht am Beginn der beiden Freundschaften ist im Erwachsenenalter aufgehoben. Der Fritz ist längst ein Koch von Weltrang, bevor Selysses das von sich als Autor sagen kann. Die Freundschaft hat nur im Verborgenen fortbestanden und schließt den Abgrund zwischen zwei gänzlich verschiedenen Welten, steht Selysses doch, was die Viktualien anbelangt, vom Fritz fast so weit entfernt wie Paul Bereyter, dem Lehrer der beiden, von dem es heißt, niemand habe ihn jemals etwas essen sehen. Die Freundschaft zwischen Austerlitz und Fitzpatrick besteht fort bis zu Geralds frühem Tod und über den Tod hinaus, eine Kluft zwischen den Lebenswelten besteht nicht, beide sind Wissenschaftler, der eine im geistes- und der andere im naturwissenschaftlichen Bereich.

Herakles und die anderen an den antiken Freundespaaren Beteiligten waren Krieger, Hyperion ist in den in den griechischen Krieg gezogen, die Leistungen von Henrystutzen und Silberbüchse sind bekannt. Holmes hatte es nicht nur ständig mit Leichen zu tun, gegen Moriarty mußte er einen langen mörderischen Kampf ausfechten. Freundschaft gedeiht offenbar besonders gut vor dem Hintergrund des blutigen Kriegshandwerks oder doch eines kämpferischen Lebens. Sebald hat das Feld der Literatur als Krieger betreten, von Sternheim über Döblin zu Broch und Andersch zieht sich eine Spur der Vernichtung. Dann aber hat er Freunde zu sich ins Landhaus eingeladen, Hebel, Keller, Robert Walser und andere noch. Zum Emblem wird ihn sein Namenspatron, der kämpferische Heilige, der sich einen Strohhut aufsetzt, San Giorgio con cappello di paglia. Die Landhausstimmung setzt sich in das dichterische Werk hinein fort.

Von den Schwindel.Gefühlen hat Sebald als von einem Buch der Liebe gesprochen. Mit Stendhal und Kafka begegnen uns ein mehr oder weniger glücklicher und ein unglücklicher Meister des Metiers. Begleitend dazu bewegt sich auch Selysses, maßvoll, auf der Liebesbahn, er läßt sich von seinen Mitreisenden im Zug bezaubern, von dem jungen Mädchen mit der bunten Jacke und der Franziskanerin auf dem Weg nach Mailand und von der Winterkönigin auf der Rheinstrecke, und er erträumt zwei Trauungen, die frühe mit dem Lehrerfräulein Rauch und in schon reifem Alter die mit Luciana Michelotti. In den Ringen des Saturn fehlt das Liebesmotiv so gut wie ganz, zu verweisen wäre lediglich auf Chateaubriands Affäre in England und, falls als nötig erachtet, die Molluske am Strand. Es ist das Buch der einsamen Komparsen, Farrar, Garrad, Le Strange, Hamburger, die angesichts ihrer stationären Lebensweise kaum Gelegenheit haben, Liebesgeschichten zu beginnen oder Freundschaften einzugehen. Ihnen allen stattet Selysses Freundschaftsbesuche ab, dem bereits toten Le Strange naturgemäß nur in Gedanken.

Bereits tot sind auch Paul Bereyter und Ambros Adelwarth, als Selysses sich daranmacht, ihre Lebensgeschichte zu recherchieren und aufzuzeichnen. Die Vier langen Erzählungen und auch Austerlitz lassen sich als Dienst an den Protagonisten verstehen, wobei im Falle des Ambros Adelwarth nicht von einem Freundschafts-, sondern von einem Verwandtschaftsdienst, eine Rarität, wenn nicht eine Singularität im Werk des Dichters, dessen Blick über das familiäre Umfeld ansonsten hinweggeht. Hier aber sind sie alle vertreten, nicht nur der Ambros, auch die Theres, die Fini, der Kasimir, die Lina und die Rosa, fast so, als sei Blut dicker als Wasser. Paul Bereyter war bereits in der Freundschaft mit dem Fritz als Mentor so etwas wie der Dritte im Bunde. Erst nach seinem Tode aber kann ihm der erwachsene Selysses den Freundschaftsdienst einer Erzählung seiner Lebensgeschichte entrichten. Bei Dr. Selwyn geht die Freundschaft, die er als junger Mensch mit dem damals schon im vorgerückten Alter befindlichen Bergsteiger Naegeli geschlossen hatte, der unter umgekehrten Altersvorzeichen sich anbahnenden mit Selysses voran. Max Aurach und Austerlitz sind Berichte von einer langsam wachsenden, sich, anders als in der Jugend, nur von bloßer Bekanntschaft abhebenden Freundschaft zwischen dem jeweiligen Protagonisten und dem wandernden Selysses.

Am Horizont der Erzählungen toben die schlimmsten Verbrechensgewitter, Holocaust, Völkermord im Kongo, grausames Morden auf dem Balkan, Seeschlachten, Gruppe Ludwig, ein innerer Bezirk, in dem Selysses sich bewegt, ist weitgehend konfliktfrei und geprägt von einer Atmosphäre der Freundlichkeit und Freundschaft mit nur wenigen Übergriffen aus dem Außenbereich. Im Mailand wird Selysses Opfer eines Raubversuches, in Den Haag wird er Zeuge, wie ein morgenländischer Mann einen anderen mit dem Messer verfolgt, die Empfangsdamen sind zum Teil unmutig, die Engelwirtin in W. mustert den Gast mit unverhohlener Mißbilligung, im Hotel Boston richtet die Signora, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, skeptisch ihren Vogelblick auf ihn, die Bedienerin in den Innsbrucker Bahnhofsgaststätten hängt ihm auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul an: das sind schon die schwerwiegendsten Vorkommnisse, sonst herrscht Frieden unter den Menschen.
Wenn eingangs die insgesamt schwache Vertretung des Liebesgeschichtenmotivs eine korrespondierende Stärkung des Freundschaftsthemas vermuten ließ, so ist doch das eine nicht vertrieben vom anderen. Für Bereyter ist die Liebe zu Helen Hollaender mit ihrem unglücklichen Ausgang die wohl schlimmste Verletzung in seinem Leben, Selwyns Ehe hatte als Liebesgeschichte begonnen, und wenn man bereit ist, auch sparsamen Hinweisen nachzugehen, mag man ein Liebesverhältnis zwischen Aurach und der Flügelhornistin G.I. annehmen, der zu einem lebenslänglichen Junggesellentum verurteilte arme Poet Herbeck allerdings macht zur Einrichtung des Ehelebens nur ein paar vage und möglichst unverfängliche Anmerkungen. Bereyters Verhältnis zu Mme Landau ist bereits besser als Freundschaft beschrieben und Austerlitz’ Verhältnis zu Marie de Verneuil nimmt einen ähnlichen Weg. Liebe und Freundschaft verschwimmen ineinander, die furchtbare Separation der Geschlechter, das Unglück selbst der Heiligen, scheint behoben.

Ist Freundschaft das beste Wort für das Beobachtete, sollte man nicht eher von Brüderlichkeit, Fraternité sprechen? Abgesehen davon, daß Fraternité durch Sororité ergänzt werden müßte und dann durch einen dritten Begriff, der die beiden ersten übergreift und ihre Differenz neutralisiert, fehlt der revolutionäre Fanfarenklang ebenso wie der Anspruch des Allumfassenden, und auch Nächstenliebe könnte nur taugen, sofern man den Begriff wörtlich nimmt und nicht, wie verbreitet, im Sinne allgemeiner Menschenfreundlichkeit, die dem Dichter fremd ist. Immer wieder hört man sein Odi profanum vulgus, wobei vulgus der Angriffspunkt und profanum nicht etwa auf die einfachen Leute zielt. Er bekennt, von Jahr zu Jahr werde es ihm unmöglicher, sich unter ein Publikum zu begeben, das Ferienvolk erscheint ihm aus Hunden und Lemurengesichtern zu bestehen und die Arbeiter in den Goldminen der City einer in keinem Bestiarium beschriebenen Tierart zugehörig. Bei der Einrichtung der menschlichen Gattung ist dem Herrn ganz offensichtlich ein schwerer Kunstfehler unterlaufen, wie anders ließe sich unser von Grund auf kranker Verstand erklären.

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