Einem Schatten gleich
Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt: Für einmal ist es, im Interesse der etwas weniger empfänglichen Leser, offen ausgesprochen: die Reiseberichte des Selysses sind durchsetzt von mystischen Erlebnissen und metaphysischen Augenblicken. Anlaß der Rührung sind an der fraglichen Stelle ein paar Hühner mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Man kann die einzelnen Augenblicke als Punkte stehen lassen oder zu einem Bild zusammenfügen, etwa dem einer eigenwilligen Vogelwelt: Selysses sieht die kleinen Tiere auf dem Feld aus dem Reisebus in Gesellschaft der sich als große schwarze Rabenvögel darstellenden Tiroler Weiber, die sich untereinander in ihrer hinten im Hals artikulierten Vogelsprache unterhalten; in Wien hatte Selysses mit den Dohlen und mit einer weißköpfigen Amsel in den Anlagen vor dem Rathaus einiges geredet.
Dem metaphysischen Erleben der Weite und des sich öffnenden Raums stehen Erlebnisse der beschützenden Enge gegenüber. Die Krummenbacher Kapelle ist so klein, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, so in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille.
Der Ritorno in patria ist zugleich ein Ritorno al catolicismo, nicht im Sinne einer Erweckung, wohl aber als Erinnerung des großen, für viele Jahrhunderte verpflichtenden metaphysischen Angebots des Christentums. Selysses stößt bei seiner Reise durch Oberitalien auf den heiligen Franziskus, der mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig treibt, und auf die heilige Katharina mit ihrem Rädchen, in Venedig trifft er den Propheten Malachio und in Verona den Heiland, Salvatore, selbst. Vor allem aber versenkt er sich immer aufs Neue in die großen christlichen Bildwerke. In der Chiesa Sant’Anastasia will er sich das Fresco ansehen, das der Maler Pisanello über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini um das Jahr 1435 verfertigt hat. Die Kapelle existiert als solche heute nicht mehr, in den Torbogen ist eine mit einer Tür versehene Bretterwand eingebaut, hinter der sich jetzt der Aufenthaltsraum, wenn nicht gar die Wohnung der Mesnerin befindet. Mesnerin, das schöne Wort, etymologisch unbegründet klingt die heilige Messe an, die dunklen Vokale der Mansionaria sind längst verschliffen, gebaut ist das Wort nurmehr aus hellen Vokalen, drei an der Zahl, die sich einer Gruppe von fünf Konsonanten einpassen. Die Reformbarbaren haben das kostbare Wort übersehen, so daß ihm das schlimme, dem behenden BEHENDE zugedachte Schicksal erspart geblieben ist. Kümmern muß uns das hier, an diesem sicheren Zufluchtsort des Rechten und Wahren, allerdings ohnehin nicht.
Ältere Frauen behandelt der Dichter für gewöhnlich nicht sonderlich zuvorkommend. Von den Tirolerinnen, die zu ihm in den Bus einsteigen, redet er so schlecht, daß der Leser fast schon in die Handlung eingreifen möchte. Auch die ältere Frau im Zug nach Kissingen, die in aller Sorgfalt einen Apfel zum Verzehr vorbereitet, erregt eher sein Mißfallen, zwischen der Signora mit dem Vogelblick in der Rezeption des Hotels Boston in Mailand und dem Dichter besteht ein Verhältnis herzlicher wechselseitiger Abneigung, und auch die Mesnerin in der Chiesa Sant’Anastasia erweckt keinerlei Begeisterung. Jedenfalls ist die Mesnerin, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, und einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor mir, dem einzigen Besucher, hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag verschwunden. Während der Zeit, in der ich das Fresco betrachtete, kam sie, mit einer Regelmäßigkeit, als hätte sie den ewigen Umgang, mehrmals hervor und entfernte sich ein Stück weit ins Dunkel hinein, um bald darauf, auf ihrer Umlaufbahn zurückkehrend, ihr Gehäuse wieder aufzusuchen.
In einer seiner schönsten Scholien bekennt Gómez Dávila: Mis convicciones son las mismas que las de la anciana que reza en el rincón de una iglesia: Überzeugungen, von denen Selysses naturgemäß meilenweit entfernt ist, aber in der Prosa geht es nicht um Überzeugungen, sondern um zu künstlerischer Form gewordene Wahrnehmungs- und Erlebnismuster, und da ist der Abstand schon deutlich geringer. Zeuge eines Gebets der Mesnerin werden wir nicht und bringen sie auch kaum in Verbindung mit frommen Verhaltensweisen, umso eindrucksvoller ist ihr Rincón, der die Stelle der ursprünglichen Kapelle eingenommen hat. Wie immer, wenn Selysses beim Betreten eines Hotels, eines Museums, einer U-Bahnstation oder, hier, einer Kirche sein Auge auf das Empfangs- und Einlaßpersonal richtet, wächst dieses unter seinem Blick über sich hinaus und gewinnt mythische Qualität. Die vage Annahme, hinter dem Verschlag könne sich die dauerhafte Wohnung der Mesnerin befinden, wird ohne Umschweife Gewißheit, seit Jahren schon hat sie den Kirchenraum schon nicht mehr verlassen und ist von der Einsamkeit zugrundegerichtet. Das düstere gezeichnete Gemälde des Innenraums der Kirche ist kaum weniger beindruckend als Pisanellos Gemälde, dem der Besuch eigentlich gilt, die Mesnerin ist der fragwürdige, im ewigen Umgang begriffene Geist dieses sakralen Raums. Wußte Selysses, daß die Mesnerin die Kirche kurz nach vier Uhr aufschließen würde, hat er einfach nur gewartet oder war er der Mesnerin bereits zuvor magisch verbunden?
Niemand sonst macht Anstalt, die Kirche zu betreten, weder zu religiösen Zwecken noch aus ästhetischem Antrieb. Das Bildwerk scheint im übrigen mitsamt der Kapelle verschwunden zu sein, nur schattenhaft zeichnet es sich über dem Torbogen ab. Allein mit der Hilfe eines technischen Tricks in der Gestalt eines münzbetriebenen Illuminationsapparates kann es für eine kurze Zeit ins Leben zurückgeholt werden; die sakrale Stimmung wird dadurch nicht gehoben. Das Bild führt nicht ins Herz des katholischen Christentums, ist doch die Legende vom Drachentöter einer eher heidnischen Peripherie zuzurechnen. Keines der in den Schwindel.Gefühlen bedachten Bildwerken stellt eine zentrale Szene des Christentums dar, nicht die Geburt des Gottessohnes, die Kreuzigung oder die Auferstehung, mit Ausnahme von Giottos Compianto sul Cristo morto. Hier aber bleibt die untere Bildhälfte, die sich mit der Beweinung im engeren Sinne beschäftigt, so gut wie unbeachtet, alle Aufmerksamkeit gilt der oberen Hälfte mit den kleinen Flugkörper, die eher gedrungenen Kummerdrohnen ähneln als Engeln, deren weiße Flügel aber mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem sind, was wir uns jemals haben ausdenken können. Wenn sich Selysses in reichem Maße des bildnerischen und metaphysischen Angebots des Christentums bedient und sein Erleben darin einzeichnet, so bleiben es doch Kostümteile, die er über- und wieder abstreift, um seine Wanderungen in einer dem Anlaß gemäßen Kleidung fortzusetzen.
Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt: Für einmal ist es, im Interesse der etwas weniger empfänglichen Leser, offen ausgesprochen: die Reiseberichte des Selysses sind durchsetzt von mystischen Erlebnissen und metaphysischen Augenblicken. Anlaß der Rührung sind an der fraglichen Stelle ein paar Hühner mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Man kann die einzelnen Augenblicke als Punkte stehen lassen oder zu einem Bild zusammenfügen, etwa dem einer eigenwilligen Vogelwelt: Selysses sieht die kleinen Tiere auf dem Feld aus dem Reisebus in Gesellschaft der sich als große schwarze Rabenvögel darstellenden Tiroler Weiber, die sich untereinander in ihrer hinten im Hals artikulierten Vogelsprache unterhalten; in Wien hatte Selysses mit den Dohlen und mit einer weißköpfigen Amsel in den Anlagen vor dem Rathaus einiges geredet.
Dem metaphysischen Erleben der Weite und des sich öffnenden Raums stehen Erlebnisse der beschützenden Enge gegenüber. Die Krummenbacher Kapelle ist so klein, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, so in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille.
Der Ritorno in patria ist zugleich ein Ritorno al catolicismo, nicht im Sinne einer Erweckung, wohl aber als Erinnerung des großen, für viele Jahrhunderte verpflichtenden metaphysischen Angebots des Christentums. Selysses stößt bei seiner Reise durch Oberitalien auf den heiligen Franziskus, der mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig treibt, und auf die heilige Katharina mit ihrem Rädchen, in Venedig trifft er den Propheten Malachio und in Verona den Heiland, Salvatore, selbst. Vor allem aber versenkt er sich immer aufs Neue in die großen christlichen Bildwerke. In der Chiesa Sant’Anastasia will er sich das Fresco ansehen, das der Maler Pisanello über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini um das Jahr 1435 verfertigt hat. Die Kapelle existiert als solche heute nicht mehr, in den Torbogen ist eine mit einer Tür versehene Bretterwand eingebaut, hinter der sich jetzt der Aufenthaltsraum, wenn nicht gar die Wohnung der Mesnerin befindet. Mesnerin, das schöne Wort, etymologisch unbegründet klingt die heilige Messe an, die dunklen Vokale der Mansionaria sind längst verschliffen, gebaut ist das Wort nurmehr aus hellen Vokalen, drei an der Zahl, die sich einer Gruppe von fünf Konsonanten einpassen. Die Reformbarbaren haben das kostbare Wort übersehen, so daß ihm das schlimme, dem behenden BEHENDE zugedachte Schicksal erspart geblieben ist. Kümmern muß uns das hier, an diesem sicheren Zufluchtsort des Rechten und Wahren, allerdings ohnehin nicht.
Ältere Frauen behandelt der Dichter für gewöhnlich nicht sonderlich zuvorkommend. Von den Tirolerinnen, die zu ihm in den Bus einsteigen, redet er so schlecht, daß der Leser fast schon in die Handlung eingreifen möchte. Auch die ältere Frau im Zug nach Kissingen, die in aller Sorgfalt einen Apfel zum Verzehr vorbereitet, erregt eher sein Mißfallen, zwischen der Signora mit dem Vogelblick in der Rezeption des Hotels Boston in Mailand und dem Dichter besteht ein Verhältnis herzlicher wechselseitiger Abneigung, und auch die Mesnerin in der Chiesa Sant’Anastasia erweckt keinerlei Begeisterung. Jedenfalls ist die Mesnerin, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, und einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor mir, dem einzigen Besucher, hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag verschwunden. Während der Zeit, in der ich das Fresco betrachtete, kam sie, mit einer Regelmäßigkeit, als hätte sie den ewigen Umgang, mehrmals hervor und entfernte sich ein Stück weit ins Dunkel hinein, um bald darauf, auf ihrer Umlaufbahn zurückkehrend, ihr Gehäuse wieder aufzusuchen.
In einer seiner schönsten Scholien bekennt Gómez Dávila: Mis convicciones son las mismas que las de la anciana que reza en el rincón de una iglesia: Überzeugungen, von denen Selysses naturgemäß meilenweit entfernt ist, aber in der Prosa geht es nicht um Überzeugungen, sondern um zu künstlerischer Form gewordene Wahrnehmungs- und Erlebnismuster, und da ist der Abstand schon deutlich geringer. Zeuge eines Gebets der Mesnerin werden wir nicht und bringen sie auch kaum in Verbindung mit frommen Verhaltensweisen, umso eindrucksvoller ist ihr Rincón, der die Stelle der ursprünglichen Kapelle eingenommen hat. Wie immer, wenn Selysses beim Betreten eines Hotels, eines Museums, einer U-Bahnstation oder, hier, einer Kirche sein Auge auf das Empfangs- und Einlaßpersonal richtet, wächst dieses unter seinem Blick über sich hinaus und gewinnt mythische Qualität. Die vage Annahme, hinter dem Verschlag könne sich die dauerhafte Wohnung der Mesnerin befinden, wird ohne Umschweife Gewißheit, seit Jahren schon hat sie den Kirchenraum schon nicht mehr verlassen und ist von der Einsamkeit zugrundegerichtet. Das düstere gezeichnete Gemälde des Innenraums der Kirche ist kaum weniger beindruckend als Pisanellos Gemälde, dem der Besuch eigentlich gilt, die Mesnerin ist der fragwürdige, im ewigen Umgang begriffene Geist dieses sakralen Raums. Wußte Selysses, daß die Mesnerin die Kirche kurz nach vier Uhr aufschließen würde, hat er einfach nur gewartet oder war er der Mesnerin bereits zuvor magisch verbunden?
Niemand sonst macht Anstalt, die Kirche zu betreten, weder zu religiösen Zwecken noch aus ästhetischem Antrieb. Das Bildwerk scheint im übrigen mitsamt der Kapelle verschwunden zu sein, nur schattenhaft zeichnet es sich über dem Torbogen ab. Allein mit der Hilfe eines technischen Tricks in der Gestalt eines münzbetriebenen Illuminationsapparates kann es für eine kurze Zeit ins Leben zurückgeholt werden; die sakrale Stimmung wird dadurch nicht gehoben. Das Bild führt nicht ins Herz des katholischen Christentums, ist doch die Legende vom Drachentöter einer eher heidnischen Peripherie zuzurechnen. Keines der in den Schwindel.Gefühlen bedachten Bildwerken stellt eine zentrale Szene des Christentums dar, nicht die Geburt des Gottessohnes, die Kreuzigung oder die Auferstehung, mit Ausnahme von Giottos Compianto sul Cristo morto. Hier aber bleibt die untere Bildhälfte, die sich mit der Beweinung im engeren Sinne beschäftigt, so gut wie unbeachtet, alle Aufmerksamkeit gilt der oberen Hälfte mit den kleinen Flugkörper, die eher gedrungenen Kummerdrohnen ähneln als Engeln, deren weiße Flügel aber mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem sind, was wir uns jemals haben ausdenken können. Wenn sich Selysses in reichem Maße des bildnerischen und metaphysischen Angebots des Christentums bedient und sein Erleben darin einzeichnet, so bleiben es doch Kostümteile, die er über- und wieder abstreift, um seine Wanderungen in einer dem Anlaß gemäßen Kleidung fortzusetzen.
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