Zerstörte Rahmen, zerrissene Bilder
Alles, was in der Welt geschieht, geschieht gleichzeitig, jetzt und jetzt und wieder jetzt. Was aber geschehen und in die Vergangenheit abgeglitten ist, erfahren wir, sofern es außerhalb des engen Bereiches unserer Wahrnehmung liegt, erst in der Zukunft und nur zu einem sehr geringen Teil. Richten wir die Teleskope ins All, so führen sie uns zurück in die Zeit bis zu deren Anfang. Halten wir ein an einer bestimmten Stelle, etwa schon am 13. April 1995, und schauen zur Seite und dann wieder zurück und nach vorn, so ergibt sich ein so buntes wie sinnloses Kaleidoskop vergangener Gegenwarten. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit; ja, und zuletzt, wie wir am Morgen früh noch nicht wußten, ist Gründonnerstag, der 13. April 1995 auch der Tag, an dem Claras Vater, kurz nach seiner Einlieferung in das Coburger Spital, aus dem Leben geholt wurde.
Immer wieder in den Ringen des Saturn steigt Selysses ein in die Brunnenschächte der Geschichte, unterschiedlich tief, ins siebzehnte, achtzehnte, neunzehnte, im zwanzigsten Jahrhundert, an den verschiedensten Stellen, in Europa, Asien, Afrika, Amerika, oft mit einem Führer, Thomas Browne und Rembrandt in Europa, Conrad und Casement in Afrika, Chateaubriand in Amerika, ein von Erkenntnis erhelltes Bild ergibt sich nicht, nichts, was im Fazit über die Einsichten und die Weisheit eines Kalenderblattes hinausführt. Die Kalendernotizen vom 13. April 1995 sind bunt und ohne Sinn aber nicht ungeordnet, sondern führen, wie die Jahresringe eines Baumes von der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Anders als in der Botanik ergeben sich aber keine verständigen Wahrheiten.
In den Schwindel.Gefühlen versucht Selysses vergeblich in der Gegenwart, im Jetzt und Jetzt und Jetzt, Standfestigkeit zu gewinnen. Gleichzeitig läßt er sich von Stendhal, Kafka und den alten Meistern der Malerei in die Vergangenheit führen. Die Unglückszahl Dreizehn scheint am ehesten noch Halt und Licht zu versprechen. In der Bibliothek zu Verona versucht er mit wissenschaftlichen Mitteln dem Rätsel auf die Spur zu kommen, doch schon bald kommt er von jeder Systematik ab: Ich blätterte in den Folianten, in welchen die Veroneser Zeitungen des Jahres 1913 gebunden waren. Allerhand Stummfilmszenen begannen sich nun vor mir abzuspielen. In der Via Alberto Mario sah ich diverse Herren auf und ab gehen und in jeweils dem Augenblick, in dem sie sich unbeobachtet glaubten, mit blitzartigem Seitensprung im Eingang des Hauses verschwinden, in dem die Ordination des in Paris und Wien ausgebildeten Dr. Ringger, Facharzt für malattie della pelle, untergebracht war. Dann wieder sah ich den Dott. Pesavento, der in der Via Stella unweit der Biblioteca Civica praktizierte, eine seiner schmerzlosen Extraktionen vollführen. Wohl machte das blasse Antlitz der Patientin den Eindruck völliger Gelöstheit, dafür aber bog und wand sich ihr Leib in dem Behandlungssessel auf eine geradezu agonale Weise. Es gab auch Offenbarungen anderer Art, wie beispielsweise die wie ein Versprechen des ewigen Lebens in der Sonne glänzende und glitzernde Pyramide aus zehn Millionen Flaschen Tafelwasser Ferro-China, die bei einem plötzlichen Löwengebrüll in Milliarden von Scherben zersprang und als rieselnde Kristallkaskade in sich zusammensank. Laut- und schwerelos waren sie, die Bilder und Nachrichten von damals, leuchteten kurz auf und verlöschten gleich wieder, jedes und jede von ihnen ein eigenes ausgehöhltes Mysterium. In Ondurman ist der Missionar Ohrwalder seit mehreren Wochen verschwunden. In Danzig hatte man einen Colonello Stern unter Verdacht der Spionage festgenommen. Geschichten ohne Anfang und Ende.
Die aus den Zeitungen gewonnenen Eindrücke, die sich zu halluzinierten Wahrnehmungen verformen, sind ähnlich disparat wie die des Kalenderblattes, aber doch von anderer Art. Es ist kein Tiefenschnitt in die geschichtliche Vergangenheit, sondern eine Bewegung auf einer geschichtlichen Ebene, der des Jahres 1913. Es sind keine der offiziellen Erinnerung und Kenntnis anempfohlenen Ereignisse wie das Edikt von Nantes, sondern für das sofortige Vergessen bestimmte und im Grunde längst schon vergessenen Nichtigkeiten. In beiden Fällen aber handelt es sich um eine Art Fazit historiographischer Bemühungen des Selysses. Das desillusionierende Kalenderblatt steht unwidersprochen am Ende der Ringe des Saturn und ein Hinweis, daß die Forschungen in Verona noch Solideres, die Schwindelgefühle Linderndes zu Tage gefördert hätten, findet sich auch nicht.
Angesichts der historischen Tiefe seiner Schriften gilt Sebald manchen Kommentatoren als Illustrator seiner geschichtsphilosophischer Überzeugungen. In den Schwindel.Gefühlen und in den Ringen des Saturn haben wir es aber mit einem Reisenden und Wanderer zu tun, dem an verschiedenen Orten aus unterschiedlichem Anlaß verschiedene Dinge durch den Kopf gehen. Das Kalenderblatt und die Zeitungsausschnitte sind nicht das Fazit geschichtlicher Sinnsuche, sondern das Eingeständnis ihres Scheiterns für den Augenblick. Am Ende des Kalenderblattes steigt Selysses aus dem Geschichtsbrunnen hervor und wendet sich mit dem Tode des Schwiegervaters der individuellen Lebensgeschichte zu. Bei der verharrt er aber nur kurz und sucht Halt bei den Sinnlinien der eigenen Prosa, dem von ihm selbst gesponnenen Seidenfaden: Indem ich jetzt, wo ich dies niederschreibe, noch einmal unsere beinahe nur aus Kalamitäten bestehende Geschichte überdenke, kommt es mir in den Sinn, daß einst für die Damen der gehobenen Stände das Tragen schwerer Roben aus schwarzem Seidentaft oder schwarzer Crêpe de Chine als der einzige angemessene Ausdruck der tiefsten Trauer gegolten hat.
Der religiöse Sinngebungsrahmen ist zerstört, zwar laufen Selysses fortwährend die Heiligen über den Weg, aber sie sind in einem desaströsen Zustand, der heilige Franz treibt gar mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig. Aber auch die geschichtlichen Sinngebungsmaschinen, wie etwa die von Marx in Gang gebrachte, dröhnen nur noch im Leerlauf. Am 27. August 1943, dem an dem der Vaters nach einem Heimaturlaub in W. nach Dresden abreist, fliegen 582 Maschinen einen Angriff auf Nürnberg, kein Anlaß für eine Steigerung des Vertrauens in den Geschichtsablauf. Am 18. Mai 1944, Himmelfahrtstag, kommt Selysses zur Welt, die Flurumgangsprozession zog unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei in die blühenden Maifelder hinaus, für die religiös gestimmte Mutter ein gutes Zeichen. Sie ahnt aber nicht, daß der kalte Planet Saturn die Konstellation der Stunde regierte und daß über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengt und einen der vier Baldachinträger erschlägt. Der Einfluß der Sterne obsiegt über Geschichtslogik und Christenglauben. Gut verankert ist man nicht in der Welt mit Astrologie und Koinzidenzsensibilität. Selysses ist umfangen von einem ihm unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit und hätte sich sehr leicht aus dem Leben entfernen können. Er führt ein taumelndes Leben unter Schwindelgefühlen in der Fremde des Daseins, all’Estero. Wie sollte da nicht die Sehnsucht aufkommen nach einer starren, geschichtslosen Zeit, so wie sie der Beredte Italiener, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache aus dem Jahre 1887 bieten kann, eine Welt ganz aus Wörtern zusammengesetzt, als wäre dadurch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. In der Kindheit, in Patria in der Ortschaft W., hatte ein alter Atlas bereits eine ähnlich geordnete und zugleich von Geheimnissen erfüllte Welt verheißen. In diesem Atlas gab es ein Blatt, auf dem die größten Ströme und die höchsten Erhebungen der Erde ihrer Länge beziehungsweise ihrer Höhe nach angeordnet waren, und es gab wunderbare kolorierte Karten, sogar von den entlegensten, kaum erst entdeckten Erdteilen, deren winzige Beschriftung, die mir, weil ich sie nicht anders als die frühen Kartographen die Welt, erst teilweise entziffern konnte, mir alles an Geheimnissen nur Ausdenkbare zu enthalten schien.
Alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind, so Musil, ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewußten Anstrengung, welche die Menschheit in jedem Augenblick macht, um ihre Gemütsruhe zu bewahren. Bei Selysses waren die unbewußten Anstrengungen nicht erfolgreich und auch nicht die Suche nach einem Fundament in der geschichtlichen Tiefe, jetzt nnimmt die Anstrengung, als letzte Hoffnung gleichsam, mehr oder weniger bewußt die Form des Schreibens an. Der 13. April 1995, an dem er das Kalenderblatt abliest, ist der Tag, an dem er die Niederschrift der Ringe des Saturn abschließt. Die nicht mehr von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeiten ausgefüllten Tage werden bald wieder ungemein lang werden, so daß er nicht mehr wissen wird, wohin sich wenden. Soweit wir wissen, hat er sich dann zunächst nach Korsika gewandt.
Alles, was in der Welt geschieht, geschieht gleichzeitig, jetzt und jetzt und wieder jetzt. Was aber geschehen und in die Vergangenheit abgeglitten ist, erfahren wir, sofern es außerhalb des engen Bereiches unserer Wahrnehmung liegt, erst in der Zukunft und nur zu einem sehr geringen Teil. Richten wir die Teleskope ins All, so führen sie uns zurück in die Zeit bis zu deren Anfang. Halten wir ein an einer bestimmten Stelle, etwa schon am 13. April 1995, und schauen zur Seite und dann wieder zurück und nach vorn, so ergibt sich ein so buntes wie sinnloses Kaleidoskop vergangener Gegenwarten. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit; ja, und zuletzt, wie wir am Morgen früh noch nicht wußten, ist Gründonnerstag, der 13. April 1995 auch der Tag, an dem Claras Vater, kurz nach seiner Einlieferung in das Coburger Spital, aus dem Leben geholt wurde.
Immer wieder in den Ringen des Saturn steigt Selysses ein in die Brunnenschächte der Geschichte, unterschiedlich tief, ins siebzehnte, achtzehnte, neunzehnte, im zwanzigsten Jahrhundert, an den verschiedensten Stellen, in Europa, Asien, Afrika, Amerika, oft mit einem Führer, Thomas Browne und Rembrandt in Europa, Conrad und Casement in Afrika, Chateaubriand in Amerika, ein von Erkenntnis erhelltes Bild ergibt sich nicht, nichts, was im Fazit über die Einsichten und die Weisheit eines Kalenderblattes hinausführt. Die Kalendernotizen vom 13. April 1995 sind bunt und ohne Sinn aber nicht ungeordnet, sondern führen, wie die Jahresringe eines Baumes von der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Anders als in der Botanik ergeben sich aber keine verständigen Wahrheiten.
In den Schwindel.Gefühlen versucht Selysses vergeblich in der Gegenwart, im Jetzt und Jetzt und Jetzt, Standfestigkeit zu gewinnen. Gleichzeitig läßt er sich von Stendhal, Kafka und den alten Meistern der Malerei in die Vergangenheit führen. Die Unglückszahl Dreizehn scheint am ehesten noch Halt und Licht zu versprechen. In der Bibliothek zu Verona versucht er mit wissenschaftlichen Mitteln dem Rätsel auf die Spur zu kommen, doch schon bald kommt er von jeder Systematik ab: Ich blätterte in den Folianten, in welchen die Veroneser Zeitungen des Jahres 1913 gebunden waren. Allerhand Stummfilmszenen begannen sich nun vor mir abzuspielen. In der Via Alberto Mario sah ich diverse Herren auf und ab gehen und in jeweils dem Augenblick, in dem sie sich unbeobachtet glaubten, mit blitzartigem Seitensprung im Eingang des Hauses verschwinden, in dem die Ordination des in Paris und Wien ausgebildeten Dr. Ringger, Facharzt für malattie della pelle, untergebracht war. Dann wieder sah ich den Dott. Pesavento, der in der Via Stella unweit der Biblioteca Civica praktizierte, eine seiner schmerzlosen Extraktionen vollführen. Wohl machte das blasse Antlitz der Patientin den Eindruck völliger Gelöstheit, dafür aber bog und wand sich ihr Leib in dem Behandlungssessel auf eine geradezu agonale Weise. Es gab auch Offenbarungen anderer Art, wie beispielsweise die wie ein Versprechen des ewigen Lebens in der Sonne glänzende und glitzernde Pyramide aus zehn Millionen Flaschen Tafelwasser Ferro-China, die bei einem plötzlichen Löwengebrüll in Milliarden von Scherben zersprang und als rieselnde Kristallkaskade in sich zusammensank. Laut- und schwerelos waren sie, die Bilder und Nachrichten von damals, leuchteten kurz auf und verlöschten gleich wieder, jedes und jede von ihnen ein eigenes ausgehöhltes Mysterium. In Ondurman ist der Missionar Ohrwalder seit mehreren Wochen verschwunden. In Danzig hatte man einen Colonello Stern unter Verdacht der Spionage festgenommen. Geschichten ohne Anfang und Ende.
Die aus den Zeitungen gewonnenen Eindrücke, die sich zu halluzinierten Wahrnehmungen verformen, sind ähnlich disparat wie die des Kalenderblattes, aber doch von anderer Art. Es ist kein Tiefenschnitt in die geschichtliche Vergangenheit, sondern eine Bewegung auf einer geschichtlichen Ebene, der des Jahres 1913. Es sind keine der offiziellen Erinnerung und Kenntnis anempfohlenen Ereignisse wie das Edikt von Nantes, sondern für das sofortige Vergessen bestimmte und im Grunde längst schon vergessenen Nichtigkeiten. In beiden Fällen aber handelt es sich um eine Art Fazit historiographischer Bemühungen des Selysses. Das desillusionierende Kalenderblatt steht unwidersprochen am Ende der Ringe des Saturn und ein Hinweis, daß die Forschungen in Verona noch Solideres, die Schwindelgefühle Linderndes zu Tage gefördert hätten, findet sich auch nicht.
Angesichts der historischen Tiefe seiner Schriften gilt Sebald manchen Kommentatoren als Illustrator seiner geschichtsphilosophischer Überzeugungen. In den Schwindel.Gefühlen und in den Ringen des Saturn haben wir es aber mit einem Reisenden und Wanderer zu tun, dem an verschiedenen Orten aus unterschiedlichem Anlaß verschiedene Dinge durch den Kopf gehen. Das Kalenderblatt und die Zeitungsausschnitte sind nicht das Fazit geschichtlicher Sinnsuche, sondern das Eingeständnis ihres Scheiterns für den Augenblick. Am Ende des Kalenderblattes steigt Selysses aus dem Geschichtsbrunnen hervor und wendet sich mit dem Tode des Schwiegervaters der individuellen Lebensgeschichte zu. Bei der verharrt er aber nur kurz und sucht Halt bei den Sinnlinien der eigenen Prosa, dem von ihm selbst gesponnenen Seidenfaden: Indem ich jetzt, wo ich dies niederschreibe, noch einmal unsere beinahe nur aus Kalamitäten bestehende Geschichte überdenke, kommt es mir in den Sinn, daß einst für die Damen der gehobenen Stände das Tragen schwerer Roben aus schwarzem Seidentaft oder schwarzer Crêpe de Chine als der einzige angemessene Ausdruck der tiefsten Trauer gegolten hat.
Der religiöse Sinngebungsrahmen ist zerstört, zwar laufen Selysses fortwährend die Heiligen über den Weg, aber sie sind in einem desaströsen Zustand, der heilige Franz treibt gar mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig. Aber auch die geschichtlichen Sinngebungsmaschinen, wie etwa die von Marx in Gang gebrachte, dröhnen nur noch im Leerlauf. Am 27. August 1943, dem an dem der Vaters nach einem Heimaturlaub in W. nach Dresden abreist, fliegen 582 Maschinen einen Angriff auf Nürnberg, kein Anlaß für eine Steigerung des Vertrauens in den Geschichtsablauf. Am 18. Mai 1944, Himmelfahrtstag, kommt Selysses zur Welt, die Flurumgangsprozession zog unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei in die blühenden Maifelder hinaus, für die religiös gestimmte Mutter ein gutes Zeichen. Sie ahnt aber nicht, daß der kalte Planet Saturn die Konstellation der Stunde regierte und daß über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengt und einen der vier Baldachinträger erschlägt. Der Einfluß der Sterne obsiegt über Geschichtslogik und Christenglauben. Gut verankert ist man nicht in der Welt mit Astrologie und Koinzidenzsensibilität. Selysses ist umfangen von einem ihm unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit und hätte sich sehr leicht aus dem Leben entfernen können. Er führt ein taumelndes Leben unter Schwindelgefühlen in der Fremde des Daseins, all’Estero. Wie sollte da nicht die Sehnsucht aufkommen nach einer starren, geschichtslosen Zeit, so wie sie der Beredte Italiener, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache aus dem Jahre 1887 bieten kann, eine Welt ganz aus Wörtern zusammengesetzt, als wäre dadurch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. In der Kindheit, in Patria in der Ortschaft W., hatte ein alter Atlas bereits eine ähnlich geordnete und zugleich von Geheimnissen erfüllte Welt verheißen. In diesem Atlas gab es ein Blatt, auf dem die größten Ströme und die höchsten Erhebungen der Erde ihrer Länge beziehungsweise ihrer Höhe nach angeordnet waren, und es gab wunderbare kolorierte Karten, sogar von den entlegensten, kaum erst entdeckten Erdteilen, deren winzige Beschriftung, die mir, weil ich sie nicht anders als die frühen Kartographen die Welt, erst teilweise entziffern konnte, mir alles an Geheimnissen nur Ausdenkbare zu enthalten schien.
Alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind, so Musil, ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewußten Anstrengung, welche die Menschheit in jedem Augenblick macht, um ihre Gemütsruhe zu bewahren. Bei Selysses waren die unbewußten Anstrengungen nicht erfolgreich und auch nicht die Suche nach einem Fundament in der geschichtlichen Tiefe, jetzt nnimmt die Anstrengung, als letzte Hoffnung gleichsam, mehr oder weniger bewußt die Form des Schreibens an. Der 13. April 1995, an dem er das Kalenderblatt abliest, ist der Tag, an dem er die Niederschrift der Ringe des Saturn abschließt. Die nicht mehr von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeiten ausgefüllten Tage werden bald wieder ungemein lang werden, so daß er nicht mehr wissen wird, wohin sich wenden. Soweit wir wissen, hat er sich dann zunächst nach Korsika gewandt.
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