Sonntag, 7. Juli 2013

Hotel Boston

Tiempos muertos


Vargas Llosa führt in seinem Aufsatz zu dem mittelalterlichen katalanischen Roman Tirant lo Blanch aus: Las corrientes anímicas de una novela siguen una línea fluctuante, desigual, debido a los irremediables tiempos muertos, aquellos episodios indispensables, pero que tienen un valor puramente relacional. Diese, nicht allein Tirant lo Blanch, sondern allgemein die Gattung des Romans betreffende Charakterisierung läßt sich offenbar nicht in Einklang bringen mit Sebalds, den Bildwerken Pisanellos abgelesener poetologischer Festlegung, wonach allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen ist: ein in einem tiempo muerto behandeltes Motiv ist in seiner Daseinsberechtigung geschmälert. Nicht umsonst und nicht zuletzt aus diesem Grund hat Sebald hervorgehoben, daß sein Metier die Prosa und nicht der Roman ist. Das poetologische Vorhaben derselben Daseinsberechtigung setzt die einzelne Motive frei, sie können nicht puramente relacional sein. In ihrer Freiheit aber können sie überraschende und dichte Beziehungen untereinander eingehen. Das beglückende Leseerlebnis ist vor allem auch in diesem Doppelverhältnis von einander gegenseitig nicht einschränkender Freiheit und Gebundenheit begründet. In hohem Maße frei und nicht eingebunden in das Buch scheint die Begegnung mit der Artistenfamilie Santini im Mailänder Konsulat zu sein, am Ende der Schwindel.Gefühle wird dann aber klar, daß der Strohhut, den Giorgio Santini in den Händen hält, schon vor Jahrhunderten San Giorgio, auf dessen Spur wir schon mehrfach gestoßen waren, als Kopfbedeckung gedient hatte.
Die Fahrt nach Mailand ist, wenn auch nirgends ausdrücklich eingestanden, der Not geschuldet, im deutschen Konsulat ist Ersatz für den verlorenen Paß zu besorgen, ein potentielles tiempo muerto also. Es hätte kaschiert und auf ein Minimum reduziert werden können: In Desenzano stieg ich in den Zug nach Mailand und war, nach der Beschaffung eines neuen Passes im deutschen Konsulat, in den Abendstunden schon wieder auf dem Weg nach Verona. Sebalds Prosa geht den anderen Weg, die tiempos muertos werden nicht ausgemerzt, sondern, ganz im Gegenteil, generalisiert. Befreit von strenger Fron zur Aufrechterhaltung der auf einen knappen Rest geschrumpften Romanhandlung gewinnen sie ein neues Leben eigener Art. Das Kapitel Mailand hat die folgende Szenenfolge: Anreise in entzückender Gesellschaft, Studium des Beredten Italieners; Überfall auf dem Bahnhofsvorplatz; Fahrt im Taxi; Übernachtung im Hotel Boston; die Santinis im Warteraum des Konsulats; Ausstellung des Passes; auf der Galerie des Doms. Blessuren wären nicht sichtbar, würde einer dieser Erzählabschnitte gestrichen, aber an Reichtum würde das Buch verlieren.

Wir hielten vor dem Hotel Boston, einem ungut und schmalbrüstig aussehendem Haus. Wie Selysses auf das Hotel Boston verfallen ist - von einer telephonischen Vorbestellung ist so wenig die Rede wie von einer Absprache mit dem Taxifahrer - und warum er sich, angesichts des deprimierenden Eindrucks, nicht zu einer anderen Unterkunft fahren läßt, erfahren wir nicht. Soweit wir Überblick über seine Hotelaufenthalte haben, war es ihm recht so, das Hotel Boston liegt auf seiner Linie, was könnte sich in einer Unterkunft mit vier oder mehr Sternen an Berichtenswertem zutragen.
Die Signora, ein völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig bis siebzig Jahren war aus dem Fernsehzimmer hervorgekommen, skeptisch hielt sie ihren Vogelblick auf mich gerichtet: damit ist der ornithologische Motivbereich des Buches angesprochen. Die Vögel stehen dem Dichter immer besonders nah, auch in den Schwindel.Gefühlen. In Wien hat er nicht mit den Menschen geredet, sondern bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus und mit einer weißköpfigen Amsel. Ein paar Hühner mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, waren schon für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Diese Zuneigung zum Geflügel überträgt sich nicht auf die Vogelmenschen, nicht auf die Tiroler Weiber, die wie große Rabenvögel den Bus nach Oberjoch bevölkern und sich untereinander in ihrer hinten im Hals artikulierten Vogelsprache unterhalten und nicht auf die Signora im Hotel Boston.

Die Signora rief ihren Mann, der auf den Namen Orlando hörte und nun und nun gleichfalls aus dem Fernsehnzimmer herauswankte, wo er, wie die Signora, in tiefen Dämmer versunken gewesen war. Die hard-boiled Private-Eyes in den amerikanischen Detektivromane, ob in Boston oder in einer anderen Stadt, treffen immer wieder auf Hotelmanager, die auf ähnliche Weise unwillig aus kleinen Nebenzimmern hervorkommen. Selysses hatte Luciana Michelotti in Limone gestanden, daß er an einem Kriminalroman arbeitet, gehört selbst aber offenbar nicht zu den Detektiven dieses Schlags, eher schon zu denjenigen, die sich in Winkelhotels dieser Art verbergen müssen. In Mailand hat er bislang kein Verbrechen aufgeklärt, sondern ist Opfer eines allerdings glimpflich verlaufenen Überfalls geworden.
Ich begann meine Geschichte nochmals von vorn und sogar mir selbst erschien sie jetzt unglaubwürdig. Halb mitleidig, halb verächtlich wurde mir schließlich ein alter eiserner Schlüssel mit der Nummer 513 (in vielen Hotel wird die Dreizehn ausgelassen, hier nicht) ausgehändigt. In philosophisch orientierten Gesprächen wie denen mit dem Venezianer Malachio und dem Veronesen Altamura beschränkt Selysses sich weitgehend auf den Part des Zuhörers, gelingende Gespräche unter der Wortführerschaft des Reisenden gibt es eigentlich nur mit den Dohlen und der weißköpfigen Amsel und mit Luciana Michelotti. Wenn Selysses in Alltagssituationen das Wort ergreift, ist er in Gefahr, sich um Kopf und Kragen zu reden, so im Bus zum Gardasee, als er nur durch Flucht der drohenden Festnahme als ein zu seinem Vergnügen in Italien reisender englischer Päderast entgeht. Warum er im Hotel Boston nicht wortlos das vom Postenkommandanten Dalmazio Orgiu ausgestellte Dokument unterbreitet, wissen wir nicht, vielleicht sind es Gründe der Pietät, da das Papier zuvor schon als Trauschein gedient hatte. Im Gespräch mit der Vogelsignora und Orlando verdichtet sich der zunächst leichte auf ihm liegende Verdachtsschatten immer mehr, so daß das Aufsuchen des Hotelzimmers schließlich alle Merkmale des Gangs zur Arrestzelle hat. Ein langer Korridor, viel zu lang für das schmale Haus, führte, leicht abschüssig, wie mir vorkam, an den Zellentüren vorbei, die in Abständen von kaum mehr als zwei Metern aufeinander folgten. Die armen Gefangenen, ging mir durch den Kopf, und ich nahm mich dabei selber nicht aus. Immer anderwärts, Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Alles, ohne daß er etwas Böses getan hätte, schließlich war er ja Opfer des Überfalls am Bahnhof. Aber schon der Taxifahrer hatte kaum Mitgefühl gezeigt, doppelt gesichert, wie er selbst war, durch ein Gitter am Seitenfenster einerseits und ein Medaillon Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen andererseits.
Stunden, endlose Stunden verflossen, ohne daß ich zur Ruhe kommen konnte. Schon gegen Morgen erhob ich mich und stellte mich in das schräg ins Zimmer hineinragende Brausebecken. Lang ließ ich das Wasser herablaufen an mir. Endlich glaubte ich den ersten Schein wahrnehmen zu können, hörte den Schrei einer Amsel. Oh, the morning glory! Ob es eine weißköpfige Amsel ist, läßt sich nicht feststellen, denn das Erwachen verläuft angesichts der bis dahin schlaflosen Nacht in der falschen Richtung. Ich machte die Augen zu, unter meinen geschlossenen Lidern begann es zu leuchten, ecco arcobaleno! Wie Hiob verlassen, wie Noah überschwemmt, nun sendet der Herr sein Zeichen der Versöhnung. Über einem weiten grünen Kukuruzfeld schwebte mit ausgebreiteten Armen eine Klosterfrau, die mir aus meiner Kindheit vertraute Schwester Mauritia, eine weniger prominente Heilige als der heilige Franz und die heilige Katharina, die die Hotelnacht in Venedig bereichert hatten. In wenigen Stunden schon aber wird Selysses leibhaftig und im Wachzustand dem heiligen Georg begegnen.
Nach einer ersten Lektüre der Schwindel.Gefühle rekapituliert der Leser: Drei Italienreisende, bei zweien, Stendhal und Kafka, ist der Reiseverlauf aus deren Schriften rekonstruiert. Seine eigenen Reisen erzählt der Autor in realistischer Manier so, wie sie sich zugetragen haben; im letzten Teil des Buches besucht er, die Rückfahrt unterbrechend, dann noch seinen bayerischen Geburtsort. Was wäre mehr noch zu sagen? There is, so der starke Eindruck, more than meets the eye. Allen drei Reisenden begegnet auf die eine oder andere Weise dem von Kafka erfundenen Jäger Gracchus, so unwahrscheinlich das auch sein mag. Selysses stellt sich immer wieder der heilige Georg in den Weg. Er unterhält sich einerseits wie der heilige Franz mit den Vögeln, andererseits treibt der nämliche Heilige mit dem Gesicht nach unten im Sumpfwasser, Selysses unterhält sich auch mit den Propheten und gar dem Heiland selbst, der ihm einen Engel zurückläßt. Selbst Erzählstrecken wie die der Übernachtung in Mailand, die allein realistischen Verpflichtungen zu folgen scheinen, gewinnen, je länger je mehr, ein beunruhigendes Eigenleben. Auch in einem traditionellen Roman können verborgene Motiverzählungen die Handlung überwuchern. Befreit von Handlungsverpflichtungen erreichen sie ein beunruhigendes, Schwindelgefühle erzeugendes Maß. Fridolin Schley hat im Rahmen seiner umfänglichen Studie eigens zur Kennzeichnung dieses Phänomens den Begriff des Waberns in die germanistische Forschung eingeführt. Der Begriff ist weder schön noch prägnant, er kann uns nicht zufriedenstellen.

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