Quatorze Juillet
Sebalds frühe literaturwissenschaftlichen Arbeiten lassen sich gedanklich und sprachlich von Adorno leiten. Die dichterische Prosa dann steht dem Sprachduktus Adornos so fern wie nur denkbar, gedanklich und motivisch aber bewegt sie sich weiter um einen philosophischen Angelpunkt der Frankfurter Schule, der als dialektisch erlebten Aufklärung, einer Illumination, die das Dunkel nur immer klarer beleuchtet, ohne es zu erhellen. Der Quatorze Juillet, an dem nach allgemeiner Übereinkunft die Vernunft die Macht übernahm und umgehend die Guillotine anwarf und auf Betriebstemperatur brachte, wird von Sebald nicht behandelt, seine Zahl ist die Dreizehn. Auf einige Spuren des großen Ereignisses stoßen wir gleichwohl.
Im Pfarrhaus Ilketshall St. Margaret kommt in den Sommermonaten des Jahres 1795 öfters ein junger französischer Adeliger zu Besuch, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Sein Gastgeber, der Reverend Ives, ein Mann der Aufklärung, war der Mathematik und Hellenistik womöglich enger verbunden als der Theologie. Als Chateaubriand 1822, nunmehr Botschafter des Königs, nach England zurückkehrt, hatte die hellsichtige Vernunft ihren triumphalen Auftritt im Bereich der Macht fürs erste abbrechen müssen.
Rousseau hat den Quatorze Juillet nicht mehr erlebt aber auf seine Weise maßgeblich auf ihn hingearbeitet. Als er 1765 auf der Peterinsel im Bieler See für eine Weile Zuflucht findet, ist er bereits arg mitgenommen von den Auseinandersetzungen mit den dunklen Mächten der Reaktion zum einen und den konkurrierenden Matadoren der Vernunft, vor allem Voltaire, zum anderen. Tatsächlich ist Rousseau die bunteste Blume im neugepflanzten Beet der Vernunft, allesamt fleurs du mal, wie es scheinen mag, niemand hat zu seiner Zeit, die Frankfurter Schule fast schon vorwegnehmend, den pathologischen Aspekt des Denkens schärfer erkannt als er.
Auf der Peterinsel hat Rousseau auch an seinem Projet de constitution pour la Corse und dabei notiert, qu’un jour cette petite île étonnera l’Europe, wenn er auch nicht wissen konnte, in welch schreckenerregender Weise diese Prophezeiung sich binnen fünfzig Jahren erfüllen würde. Napoleon, einen der ganz großen Synthetiker von Vernunft und Vernichtung, mit einer, aus der Sicht der Vernunft, alles in allem etwas günstigeren Bilanz als Stalin oder Hitler, sehen wir mit den Augen seines Verehrers Stendhal. Der beschäftigt sich dann aber in der Folge stärker mit Fragen de l’amour und reist in Begleitung der imaginären Mme Gherardi an den Gardasee, wo er Kafkas Jäger Gracchus begegnet. Bei seinem Besuch der Casa Bonaparte in Ajaccio wird klar, daß Selysses Stendhals positive Einschätzung des letzten Endes dann doch gescheiterten Empereurs im auf Leichenbergen gegründeten, dem Code Napoléon unterworfenen Reich der Vernunft nicht uneingeschränkt teilt. Schon der extrem händelsüchtige, ständig in Streitereien verwickelte Knabe Ribulione im heimischen Ajaccio ließ wenig Gutes erwarten und angesichts der Unwirklichkeit der späteren Entwicklung ist nicht einmal die gewagte These eines belgischen Forschers einfach von der Hand zu weisen, die von dem Franzosenkaiser bewirkten Umwälzungen seien allein auf seine Farbenblindheit zurückzuführen. Je mehr das Blut floß auf dem Schlachtfeld, desto frischer schien ihm das Grün zu sprießen. Austerlitz freilich hat in jungen Jahren an der Napoleonbegeisterung seines Lehrers Hilary nicht auszusetzen.
Der philosophische Begriff der Dialektik der Aufklärung, wachgerufen durch die Schrecken der jüngeren Vergangenheit, zielt über den Quatorze Juillet und seine zeitliche Nachbarschaft hinaus auf den Urbeginn des menschlichen Denkens, da ist es nicht weiter auffällig, wenn Sebald auf ältere Formen des Aufklarens schaut, wie sie nicht zuletzt in der ins Werk eingeschriebenen Bildgeschichte seines Namenspatron sichtbar wird. Zunächst begegnet uns der Heilige Georg bei Grünewald, auf der linken Tafel des Altarbildes tritt er uns entgegen, zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich aus dem Verband der Heiligen und über die Schwelle des mittelalterlichen Rahmens treten. Als er uns bei Pisanello in Verona wiederbegegnet, hat er die Gesellschaft der Heiligen gegen die sieben verwegener Reiter eingetauscht, unter denen sich ein kalmückischer Bogenschütze befindet mit einem schmerzhaften Ausdruck der Intensität im Gesicht. Es gilt nun, das Untier zu erlegen, das wir zur Linken sehen mit zwei noch flügellosen Jungen aus seiner Brut. Einiges an Knochen und Gebein, Überreste der zur Befriedigung des Drachens geopferten Tiere und Menschen, liegen verstreut umher. Auf dem kleinen Bild in der Londoner Nationalgalerie schließlich steht zur Linken der heilige Antonius in einem tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein, der dunkle Wald im Hintergrund erscheint umso dunkler, по мере смены освещенья и лес меняет колорит. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. San Giorgio con cappella di paglia - sehr verwunderlich. Die Jungfrau mit dem Erlöserkind, die vor einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe über allem schwebt, scheint rundum zufrieden mit dem harmonischen Verhältnis von alter und neuer Welt unter ihr. Aber muß nicht einerseits die Schutzlosigkeit des Ritters mit dem Strohhut Befürchtungen erwecken, und kann andererseits ein Zustand, der aus einem blutigen Geschäft resultiert von Dauer sein, auch wenn es einen schlimmen Drachen getroffen hat?
Was bei Pisanello nur eine bange Ahnung ist, wird bei Rembrandt zur Sicherheit. Wenn Pisanello einen mythischen, zeitlosen Augenblick der Erhellung verklärt, so erforscht Rembrandt die verborgene und dunkle Seite des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens. Zweifellos handelte es sich bei der Prosektur einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten.
Im neunzehnte Jahrhundert, im alemannischen Eck, mag es dann für einen Augenblick so scheinen, als könne sich die von Pisanello gemalte Situation wiederholen, als hätte alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam, als könne die Idee von einer im Gleichgewicht gehaltenen Welt ihren Sinn haben, als ließe sich dem blind und taub fortwälzenden Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegen halten, in denen ausgestandenes Unrecht entgolten wird, und als ließe sich im Buch der Natur blättern, in dem selbst die kuriosesten Kreaturen wie zum Beispiel die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der aufs sorgfältigsten austarierten Ordnung. Nachdem sich 1913, im letzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts, die Zeit gewendet hatte und der Funken der Zündschnur wie eine Natter durchs Gras gelaufen war, besteht keine Hoffnung mehr. Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, hatte Adorno notiert und Sebald stimmt zu. Die weitaus größere, umfassende Barbarei aber sei, daß die Gesellschaft überhaupt weitermacht. Nun hat sie aber wohl keine andere Wahl als auf die eine oder andere Weise weiterzumachen, bevor sie sich nicht aus eigener Kraft auslöscht hat oder aber von einer höheren Macht aus der Welt befördert wurde, und genau danach sehnt sich Selysses. Immer wieder sucht er den Blick von der Höhe, aus der die Menschen gar nicht und ihre Artefakte nur spielzeuggroß zu sehen sind. Er geht nicht nur durch leere Landschaften, sondern auch durch menschenleere Großstädte. Er schreitet vorbei an maroden Heiligen wie dem heiligen Franz, der mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig treibt, oder wie Mrs. Ashbury, die bei ihrer Himmelfahrt im Plafond stecken bleibt, und verstrickt sich in Koinzidenz- und Zahlenmystik, um so auf seine Art die Verschlingung von Mythos und Aufklärung zu demonstrieren. Das sogenannte neue Europa beeindruckt ihn nicht, in Brüssel, der europäischen Hauptstadt, laufen ihm in einem Monat mehr Bucklige und Irre über den Weg als anderswo in einem ganzen Jahr. An den reinigenden Sprachregelungen nimmt er nicht teil, Neger bleiben ihm Neger und Zigeuner Zigeuner. Gern auch würde man wissen, was Adorno von den kurz nach seinem Tode in Vogue kommenden sprachlichen Kunststücken zwecks dauerhafter Einrichtung einer perfektionierten Welt gehalten hätte.
Die Leser lieben Sebald nicht allein und vielleicht nicht einmal vorzugsweise dafür, daß er sie aus der Welt wünscht. Im Zug nach Mailand liest Selysses im Beredten Italiener, einem schweizerischen Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache aus der Zeit Kellers und Hebels, in dem alles aufs beste geordnet ist, so als setze sich die Welt tatsächlich bloß aus Worten zusammen. Im Warteraum des deutschen Konsulats zu Mailand dann sitzt er neben dem Hochseilartist Giorgio Santini, der am Namen und mehr noch an dem Strohhut, den er in der Hand hält, als die Reinkarnation des San Giorgio zu erkennen ist. Vielleicht ist dem Dichter hier klar geworden, das Lyrik oder Prosa zu schreiben noch die geringste Barbarei ist, daß es gilt, in einer heillosen und unbewohnbaren Welt ein Hülfsbuch, einen bewohnbaren Raum in den Worten zu schaffen. Wie Dante werden wir durch eine Welt des Dunkels und des Schreckens geführt und fühlen uns doch im milden Taghell der Prosa behütet wie in den alten Bildern vom Stecken und Stab oder von Abrahams Schoß.
Sebalds frühe literaturwissenschaftlichen Arbeiten lassen sich gedanklich und sprachlich von Adorno leiten. Die dichterische Prosa dann steht dem Sprachduktus Adornos so fern wie nur denkbar, gedanklich und motivisch aber bewegt sie sich weiter um einen philosophischen Angelpunkt der Frankfurter Schule, der als dialektisch erlebten Aufklärung, einer Illumination, die das Dunkel nur immer klarer beleuchtet, ohne es zu erhellen. Der Quatorze Juillet, an dem nach allgemeiner Übereinkunft die Vernunft die Macht übernahm und umgehend die Guillotine anwarf und auf Betriebstemperatur brachte, wird von Sebald nicht behandelt, seine Zahl ist die Dreizehn. Auf einige Spuren des großen Ereignisses stoßen wir gleichwohl.
Im Pfarrhaus Ilketshall St. Margaret kommt in den Sommermonaten des Jahres 1795 öfters ein junger französischer Adeliger zu Besuch, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Sein Gastgeber, der Reverend Ives, ein Mann der Aufklärung, war der Mathematik und Hellenistik womöglich enger verbunden als der Theologie. Als Chateaubriand 1822, nunmehr Botschafter des Königs, nach England zurückkehrt, hatte die hellsichtige Vernunft ihren triumphalen Auftritt im Bereich der Macht fürs erste abbrechen müssen.
Rousseau hat den Quatorze Juillet nicht mehr erlebt aber auf seine Weise maßgeblich auf ihn hingearbeitet. Als er 1765 auf der Peterinsel im Bieler See für eine Weile Zuflucht findet, ist er bereits arg mitgenommen von den Auseinandersetzungen mit den dunklen Mächten der Reaktion zum einen und den konkurrierenden Matadoren der Vernunft, vor allem Voltaire, zum anderen. Tatsächlich ist Rousseau die bunteste Blume im neugepflanzten Beet der Vernunft, allesamt fleurs du mal, wie es scheinen mag, niemand hat zu seiner Zeit, die Frankfurter Schule fast schon vorwegnehmend, den pathologischen Aspekt des Denkens schärfer erkannt als er.
Auf der Peterinsel hat Rousseau auch an seinem Projet de constitution pour la Corse und dabei notiert, qu’un jour cette petite île étonnera l’Europe, wenn er auch nicht wissen konnte, in welch schreckenerregender Weise diese Prophezeiung sich binnen fünfzig Jahren erfüllen würde. Napoleon, einen der ganz großen Synthetiker von Vernunft und Vernichtung, mit einer, aus der Sicht der Vernunft, alles in allem etwas günstigeren Bilanz als Stalin oder Hitler, sehen wir mit den Augen seines Verehrers Stendhal. Der beschäftigt sich dann aber in der Folge stärker mit Fragen de l’amour und reist in Begleitung der imaginären Mme Gherardi an den Gardasee, wo er Kafkas Jäger Gracchus begegnet. Bei seinem Besuch der Casa Bonaparte in Ajaccio wird klar, daß Selysses Stendhals positive Einschätzung des letzten Endes dann doch gescheiterten Empereurs im auf Leichenbergen gegründeten, dem Code Napoléon unterworfenen Reich der Vernunft nicht uneingeschränkt teilt. Schon der extrem händelsüchtige, ständig in Streitereien verwickelte Knabe Ribulione im heimischen Ajaccio ließ wenig Gutes erwarten und angesichts der Unwirklichkeit der späteren Entwicklung ist nicht einmal die gewagte These eines belgischen Forschers einfach von der Hand zu weisen, die von dem Franzosenkaiser bewirkten Umwälzungen seien allein auf seine Farbenblindheit zurückzuführen. Je mehr das Blut floß auf dem Schlachtfeld, desto frischer schien ihm das Grün zu sprießen. Austerlitz freilich hat in jungen Jahren an der Napoleonbegeisterung seines Lehrers Hilary nicht auszusetzen.
Was bei Pisanello nur eine bange Ahnung ist, wird bei Rembrandt zur Sicherheit. Wenn Pisanello einen mythischen, zeitlosen Augenblick der Erhellung verklärt, so erforscht Rembrandt die verborgene und dunkle Seite des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens. Zweifellos handelte es sich bei der Prosektur einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten.
Im neunzehnte Jahrhundert, im alemannischen Eck, mag es dann für einen Augenblick so scheinen, als könne sich die von Pisanello gemalte Situation wiederholen, als hätte alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam, als könne die Idee von einer im Gleichgewicht gehaltenen Welt ihren Sinn haben, als ließe sich dem blind und taub fortwälzenden Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegen halten, in denen ausgestandenes Unrecht entgolten wird, und als ließe sich im Buch der Natur blättern, in dem selbst die kuriosesten Kreaturen wie zum Beispiel die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der aufs sorgfältigsten austarierten Ordnung. Nachdem sich 1913, im letzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts, die Zeit gewendet hatte und der Funken der Zündschnur wie eine Natter durchs Gras gelaufen war, besteht keine Hoffnung mehr. Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, hatte Adorno notiert und Sebald stimmt zu. Die weitaus größere, umfassende Barbarei aber sei, daß die Gesellschaft überhaupt weitermacht. Nun hat sie aber wohl keine andere Wahl als auf die eine oder andere Weise weiterzumachen, bevor sie sich nicht aus eigener Kraft auslöscht hat oder aber von einer höheren Macht aus der Welt befördert wurde, und genau danach sehnt sich Selysses. Immer wieder sucht er den Blick von der Höhe, aus der die Menschen gar nicht und ihre Artefakte nur spielzeuggroß zu sehen sind. Er geht nicht nur durch leere Landschaften, sondern auch durch menschenleere Großstädte. Er schreitet vorbei an maroden Heiligen wie dem heiligen Franz, der mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig treibt, oder wie Mrs. Ashbury, die bei ihrer Himmelfahrt im Plafond stecken bleibt, und verstrickt sich in Koinzidenz- und Zahlenmystik, um so auf seine Art die Verschlingung von Mythos und Aufklärung zu demonstrieren. Das sogenannte neue Europa beeindruckt ihn nicht, in Brüssel, der europäischen Hauptstadt, laufen ihm in einem Monat mehr Bucklige und Irre über den Weg als anderswo in einem ganzen Jahr. An den reinigenden Sprachregelungen nimmt er nicht teil, Neger bleiben ihm Neger und Zigeuner Zigeuner. Gern auch würde man wissen, was Adorno von den kurz nach seinem Tode in Vogue kommenden sprachlichen Kunststücken zwecks dauerhafter Einrichtung einer perfektionierten Welt gehalten hätte.
Die Leser lieben Sebald nicht allein und vielleicht nicht einmal vorzugsweise dafür, daß er sie aus der Welt wünscht. Im Zug nach Mailand liest Selysses im Beredten Italiener, einem schweizerischen Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache aus der Zeit Kellers und Hebels, in dem alles aufs beste geordnet ist, so als setze sich die Welt tatsächlich bloß aus Worten zusammen. Im Warteraum des deutschen Konsulats zu Mailand dann sitzt er neben dem Hochseilartist Giorgio Santini, der am Namen und mehr noch an dem Strohhut, den er in der Hand hält, als die Reinkarnation des San Giorgio zu erkennen ist. Vielleicht ist dem Dichter hier klar geworden, das Lyrik oder Prosa zu schreiben noch die geringste Barbarei ist, daß es gilt, in einer heillosen und unbewohnbaren Welt ein Hülfsbuch, einen bewohnbaren Raum in den Worten zu schaffen. Wie Dante werden wir durch eine Welt des Dunkels und des Schreckens geführt und fühlen uns doch im milden Taghell der Prosa behütet wie in den alten Bildern vom Stecken und Stab oder von Abrahams Schoß.