Amische Leute
Die eingeforderte und in der westlichen Welt kaum in Frage gestellte Hochschätzung der Meinungsfreiheit krankt gleichwohl daran, daß es oft schwerfällt, ihren Inhalt, das heißt die jeweilige Meinung, ernst zu nehmen und zu schätzen. Gern wird Voltaire zitiert: Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen, daß Sie Ihre Meinung frei äußern können: eine Kampfbereitschaft, die, wenn sie denn gefordert würde, bei der großen Mehrheit der tatsächlich auftretenden Meinungen, einschließlich der eigenen, vernünftigerweise sich nicht ausleben sollte, sie sind es nicht wert. Das Zitat wurde denn auch Voltaire fälschlich zugeschrieben, er selbst äußert sich ganz anders: Les opinions ont plus causé de maux sur ce petit globe que la peste et les tremblements de terre. Besser also, so kann man Voltaire verstehen, es gäbe keine Meinungen oder sie wären allesamt verboten. Habermas geht einen sanfteren Weg und setzt ganz auf den unter idealen Bedingungen gewaltfrei und endlos sich dahinziehenden Dialog der Meinungen, von denen, ähnlich wie sich die Parallelen im Unendlichen schneiden, zuguterletzt nur eine einzige und zwar, so die Hoffnung, die richtige, gemeinhin Wahrheit genannte, übrig bleibt.
So steht es um die jeweils gegenwärtigen, aktiven Meinungen, anders mag es aussehen, wenn sie in der Zeit gestaffelt sind und sich beruhigt haben. Meinungen, die uns als gegenwärtige nicht mehr als ein Achselzucken abfordern würden, können unsere Achtung finden, wenn sie sich in der Vergangenheit realisiert und eine uns beeindruckende Lebensform begründet haben. Der eine oder andere wird bei einer Amerikareise amische Leute in ihrem Wägelchen haben vorbeifahren sehen, wie die Vergangenheit auf einer Reise durch die Gegenwart, allen sind sie uns aus Peter Weirs Film Witness vertraut. Ihre Überzeugungen und ihre Lebensweise erscheinen uns als ebenso outlandish wie bewahrens- und schützenwert, und so sind denn auch alle mehr als zufrieden mit der Szene, in der Harrison Ford, der vorgeblich eine andere, gegenüber der in Pennsylvania etwas rauhere, in Ohio verbreitete Strömung des Amischen vertritt, der Devise des Pseudovoltaires folgend, dem Hooligan die Nase bricht, und auf diese Weise das Recht auf Meinungsfreiheit hochhält.
Erlebnisse wie die mit dem amischen Leuten sind Anlaß, auch mit gegenwärtigen Meinungen achtsamer umzugehen, als es auf den ersten Blick vielleicht notwendig scheint, eine Haltung, die Selysses fast immer vorbildlich an den Tag legt. Harrison Fords zupackende Art bei der Verteidigung der Meinungsfreiheit ist ihm naturgemäß fremd, zwar weiß er sich zu wehren, als er in Mailand Opfer eines Raubversuchs wird, als Zeuge einer handgreiflichen, messerbewehrten Meinungsverschiedenheit zwischen zwei morgenländischen Männern in Den Haag aber hält er sich aus dem Zwist heraus. Auch läßt er sich nicht auf jede Art von Meinung ein. Im Kissinger Tagblatt liest er das Nachwort für den Metzgermeister Michael Schultheis, der, so hieß es, sich großer Beliebtheit erfreut habe, dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen sei und seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet habe. In der Zeitung Alto Adige liest er von einem Ehepaar aus Lünen, das seit 1957 jedes Jahr seinen Urlaub am Gardasee verbracht hat. Die hier erahnbar werdenden Meinungsbilder lassen jedes transzendente Element vermissen, das eine Achtung wie im Fall der amischen Leute hervorrufen könnte, sie werden mit einem gewissen Befremden beiseite geschoben. Außerhalb von Zeitungsnotizen begegnet Selysses Meinungsträgern dieser Art nicht oder kommt jedenfalls nicht mit ihnen ins Gespräch. Er unterhält sich nahezu ausschließlich mit amischen Leuten in dem hier verfolgten erweiterten Sinn: aus Meinungen sind bei ihnen Lebensformen geworden, die zu denken geben.
Der Venezianer Malachio, Astrophysiker von Beruf, sieht alles, nicht nur die Sterne, aus der größten Entfernung. In der letzter Zeit hat er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Antworten habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen. Selysses scheint sich zu der couragierten Verbindung von Sternen- und Engelskunde keine Meinung zu bilden, oder wir erfahren sie nicht. Salvatore Altamura beschäftigt sich mit der Geschichte der Festspiele in der Veroneser Arena seit ihrer Eröffnung im Jahr 1913 und insbesondere mit der Oper Aida. Di morte l’angelo a noi s’appressa, mit diesen Worten steht Salvatore auf und verabschiedet sich. Selysses aber ist noch lange sitzen geblieben auf der Piazza mit dem Bild des hereinbrechenden Engels, das Salvatore ihm hinterlassen hatte. Zu welchem Ergebnis sein Sinnen führt, wird nicht gesagt.
Erdverbundener sind die Überlegungen des Niederländers De Jong. Er trägt sich mit dem Gedanken, in Suffolk eine der riesigen, oft mehr als tausend Hektar umfassenden Liegenschaften zu erwerben, wie sie dort nicht selten von den Immobilienagenturen ausgeschrieben werden. Aufgewachsen in der Nähe von Surabaya, will er nun die Familientradition als Zuckerrübenbauer in England fortsetzen. Zusammenhängende Güter von der Größe, wie sie in East Anglia immer wieder zum Verkauf stünden, gelangten zu Hause überhaupt nie auf den Markt, und Herrenhäuser, wie man sie hier bei der Übernahme einer Domäne praktisch umsonst mitgeliefert bekomme, seien in Holland auch nicht zu finden. Selysses, trotz ländlicher Herkunft und, anders als die amischen Leute, dem Landbau wenig zugetan, hört aufmerksam zu. Der Gärtner William Hazel erzählt, während der letzen Schuljahre und der nachfolgenden Lehrlingsjahre habe seinen Kopf nichts so sehr in Angriff genommen wie der Luftkrieg, der von den in East Anglia gelegenen Flugfeldern, über seinen Kopf hinweg, nach Deutschland getragen wurde. Immer wieder habe er auf einer Karte die verschiedenen deutschen Regionen studiert, das ganze Land habe er so auswendig gelernt, ja, es habe sich ihm eingebrannt. Obwohl Selysses, nach allem was wir wissen, Überlegungen ähnlicher Art auf diesem Feld nicht fremd sind, enthält sich auch hier des Kommentars. Alec Garrad hat die Landwirtschaft im Lauf der Zeit mehr und mehr eingeschränkt, um sich ganz dem Tempelbau widmen zu können. Es vergeht jetzt kaum ein Tag, an dem er nicht zumindest einpaar Stunden an dem Tempel arbeitet. Der einzige Vorteil, den das von seiner Arbeit inzwischen erregte Aufsehen für ihn selbst mit sich gebracht habe, bestehe darin, daß seine Nachbarsleute ebenso wie diejenigen Mitglieder seines eigenen Familienkreises, die mehr oder weniger offene Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit geäußert hätten, sich mit dergleichen abschätzigen Bemerkungen nun etwas zurückhielten. Frederick Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Die Entfremdung gegenüber der Jurisprudenz ist umso bemerkenswerter, als dem Recht, nach allgemeiner Überzeugung, vor dem Erreichen des umfassenden Konsenses am Ende aller Diskurse und dem Eintritt in das wahre Tausendjährige Reich die Aufgabe des geregelten Meinungsausgleichs zufällt.
Luhmann hatte sich besorgt erkundigt, was den mit denjenigen passiert, die an Habermas’ schlichtenden Diskursen partout nicht teilnehmen wollen, und aus dem Kreis der Habermasjünger war in der Tat die Lehrmeinung vorgetragen worden, daß auf Meinungen, die in den Diskurs nicht eingebracht werden – und das sind die weitaus meisten -, auf dem langen Weg zum Konsens weiter keine Rücksicht zu nehmen ist. Sebalds Helden würden philosophische Überlegungen dieser Art, kämen sie ihnen denn zur Kenntnis, wenig beunruhigen, sie leben, je nach Sichtweise, in einem Cis- oder Transhabermasien. Farrar würde nicht versuchen, Garrad für die Rosenzucht zu begeistern und dieser ihn seinerseits nicht zum Tempelbau bekehren. Das Projekt Europa, für Habermas die makropolitische, wenn auch nicht ideale Umsetzung seiner Diskursethik, stößt auf wenig Begeisterung: Es habe ihn nie gekümmert, was seine an der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftpolitik immer fetter gewordenen Nachbarn von ihm gehalten hätten, so Garrad. Anders als im Stammland Pennsylvania leben Sebalds amische Menschen separiert, jeder in seiner eigenen Denomination. Die Prosa legt den Gedanken, sie könnten einander begegnen, nicht nahe. Und doch scheinen sie sich in gewissem Sinn nach Erlösung aus ihrem jeweiligen Ghetto zu sehnen. Selysses wird zum Erretter für den Augenblick, er hat die notwendige Leere und Konturlosigkeit, tritt selbst nicht mit einer eigenen Lebensform hervor, sondern sammelt, ähnlich wie Proust beim Verlieren der Zeit, Eindrücke, um auf dieser Grundlage seiner Berufung als Dichter nachkommen zu können. Besonders deutlich wird das Verlangen nach Erlösung im Fall des Jacques Austerlitz, der Selysses zunächst mit architekturtheoretischen Ansichten geradezu überfällt, um ihm dann, in mehreren Schüben, über das gesamte Buch hin seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Sebalds amische Leute leben nach den Massakern, die immer wieder am Horizont der Prosa auftreten, die Massaker am Kongo, die Massaker der Ustascha, das große Massaker der Deutschen, die Massaker aus der Luft. Auch Habermas’ auf Konsens und Frieden zielender Gesellschaftsentwurf endlosen Meinungsaustausches ist ein theoretischer Entwurf nach dem Massaker, Sebalds Helden aber sind diskursunwillig und verfallen zunehmend in Schweigen. Austerlitz durchlebt eine Phase des Sprachverlustes, Bereyter beschäftigt sich je länger desto lieber mit schweigsamer Gartenarbeit, zudem droht ihm Blindheit, Sebalds Figuren sind von denen Becketts weniger entfernt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Aurach arbeitet täglich zehn Stunden in seinem Atelier, und wenn er die Abendmahlzeit regelmäßig im Wadi Halfa unter den Wüstensöhnen einnimmt, so auch, weil dort von ihm Meinungsaustausch nicht verlangt wird. Die Ashburys sind weitgehend verstummt nach ihrem Schicksal in Irland, die drei Schwestern Catherine, Clarissa und Christina verbringen jeden Tag ein paar Stunden damit, vielfarbige Kissenbezüge, Bettüberwürfe und dergleichen mehr zusammenzunähen. Wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder sitzen sie auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und arbeiten, selten nur ein Wort miteinander wechselnd, in einem fort. In Selysses’ Augen werden die Ashburys in ihrem sich verdichtenden Schweigen immer unschuldiger. Le Strange, heimgekehrt aus Bergen Belsen - home is the sailor, home from sea, and the hunter home from the hill - schweigt strenger als ein Trappist. Cosmo Solomon steht stumm auf seinem Schemelchen. Wort- und klaglos läßt Adelwarth das Martyrium in der Nervenheilanstalt Samaria über sich ergehen. Im deutsche Konsulat zu Mailand aber sitzen die beiden Künstler Giorgio Santini und Georgios Selysses, Hochseilartist und Levitationszauberer, schweigend beieinander, die nordländisch wirkende junge Frau ebenfalls wortlos und unbeweglich, die Nonna mit einer Häkelarbeit beschäftigt, von der sie nur ab und zu aufblickt, die drei Mädchen in Sommerkleidern aus feinstem Batist einmal still zusammensitzend und dann wieder zwischen den Sesseln und Stühlen einhergehend. Schwerelos vergeht Selysses in der Gesellschaft dieser Leute die Zeit.
Die eingeforderte und in der westlichen Welt kaum in Frage gestellte Hochschätzung der Meinungsfreiheit krankt gleichwohl daran, daß es oft schwerfällt, ihren Inhalt, das heißt die jeweilige Meinung, ernst zu nehmen und zu schätzen. Gern wird Voltaire zitiert: Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen, daß Sie Ihre Meinung frei äußern können: eine Kampfbereitschaft, die, wenn sie denn gefordert würde, bei der großen Mehrheit der tatsächlich auftretenden Meinungen, einschließlich der eigenen, vernünftigerweise sich nicht ausleben sollte, sie sind es nicht wert. Das Zitat wurde denn auch Voltaire fälschlich zugeschrieben, er selbst äußert sich ganz anders: Les opinions ont plus causé de maux sur ce petit globe que la peste et les tremblements de terre. Besser also, so kann man Voltaire verstehen, es gäbe keine Meinungen oder sie wären allesamt verboten. Habermas geht einen sanfteren Weg und setzt ganz auf den unter idealen Bedingungen gewaltfrei und endlos sich dahinziehenden Dialog der Meinungen, von denen, ähnlich wie sich die Parallelen im Unendlichen schneiden, zuguterletzt nur eine einzige und zwar, so die Hoffnung, die richtige, gemeinhin Wahrheit genannte, übrig bleibt.
So steht es um die jeweils gegenwärtigen, aktiven Meinungen, anders mag es aussehen, wenn sie in der Zeit gestaffelt sind und sich beruhigt haben. Meinungen, die uns als gegenwärtige nicht mehr als ein Achselzucken abfordern würden, können unsere Achtung finden, wenn sie sich in der Vergangenheit realisiert und eine uns beeindruckende Lebensform begründet haben. Der eine oder andere wird bei einer Amerikareise amische Leute in ihrem Wägelchen haben vorbeifahren sehen, wie die Vergangenheit auf einer Reise durch die Gegenwart, allen sind sie uns aus Peter Weirs Film Witness vertraut. Ihre Überzeugungen und ihre Lebensweise erscheinen uns als ebenso outlandish wie bewahrens- und schützenwert, und so sind denn auch alle mehr als zufrieden mit der Szene, in der Harrison Ford, der vorgeblich eine andere, gegenüber der in Pennsylvania etwas rauhere, in Ohio verbreitete Strömung des Amischen vertritt, der Devise des Pseudovoltaires folgend, dem Hooligan die Nase bricht, und auf diese Weise das Recht auf Meinungsfreiheit hochhält.
Erlebnisse wie die mit dem amischen Leuten sind Anlaß, auch mit gegenwärtigen Meinungen achtsamer umzugehen, als es auf den ersten Blick vielleicht notwendig scheint, eine Haltung, die Selysses fast immer vorbildlich an den Tag legt. Harrison Fords zupackende Art bei der Verteidigung der Meinungsfreiheit ist ihm naturgemäß fremd, zwar weiß er sich zu wehren, als er in Mailand Opfer eines Raubversuchs wird, als Zeuge einer handgreiflichen, messerbewehrten Meinungsverschiedenheit zwischen zwei morgenländischen Männern in Den Haag aber hält er sich aus dem Zwist heraus. Auch läßt er sich nicht auf jede Art von Meinung ein. Im Kissinger Tagblatt liest er das Nachwort für den Metzgermeister Michael Schultheis, der, so hieß es, sich großer Beliebtheit erfreut habe, dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen sei und seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet habe. In der Zeitung Alto Adige liest er von einem Ehepaar aus Lünen, das seit 1957 jedes Jahr seinen Urlaub am Gardasee verbracht hat. Die hier erahnbar werdenden Meinungsbilder lassen jedes transzendente Element vermissen, das eine Achtung wie im Fall der amischen Leute hervorrufen könnte, sie werden mit einem gewissen Befremden beiseite geschoben. Außerhalb von Zeitungsnotizen begegnet Selysses Meinungsträgern dieser Art nicht oder kommt jedenfalls nicht mit ihnen ins Gespräch. Er unterhält sich nahezu ausschließlich mit amischen Leuten in dem hier verfolgten erweiterten Sinn: aus Meinungen sind bei ihnen Lebensformen geworden, die zu denken geben.
Erdverbundener sind die Überlegungen des Niederländers De Jong. Er trägt sich mit dem Gedanken, in Suffolk eine der riesigen, oft mehr als tausend Hektar umfassenden Liegenschaften zu erwerben, wie sie dort nicht selten von den Immobilienagenturen ausgeschrieben werden. Aufgewachsen in der Nähe von Surabaya, will er nun die Familientradition als Zuckerrübenbauer in England fortsetzen. Zusammenhängende Güter von der Größe, wie sie in East Anglia immer wieder zum Verkauf stünden, gelangten zu Hause überhaupt nie auf den Markt, und Herrenhäuser, wie man sie hier bei der Übernahme einer Domäne praktisch umsonst mitgeliefert bekomme, seien in Holland auch nicht zu finden. Selysses, trotz ländlicher Herkunft und, anders als die amischen Leute, dem Landbau wenig zugetan, hört aufmerksam zu. Der Gärtner William Hazel erzählt, während der letzen Schuljahre und der nachfolgenden Lehrlingsjahre habe seinen Kopf nichts so sehr in Angriff genommen wie der Luftkrieg, der von den in East Anglia gelegenen Flugfeldern, über seinen Kopf hinweg, nach Deutschland getragen wurde. Immer wieder habe er auf einer Karte die verschiedenen deutschen Regionen studiert, das ganze Land habe er so auswendig gelernt, ja, es habe sich ihm eingebrannt. Obwohl Selysses, nach allem was wir wissen, Überlegungen ähnlicher Art auf diesem Feld nicht fremd sind, enthält sich auch hier des Kommentars. Alec Garrad hat die Landwirtschaft im Lauf der Zeit mehr und mehr eingeschränkt, um sich ganz dem Tempelbau widmen zu können. Es vergeht jetzt kaum ein Tag, an dem er nicht zumindest einpaar Stunden an dem Tempel arbeitet. Der einzige Vorteil, den das von seiner Arbeit inzwischen erregte Aufsehen für ihn selbst mit sich gebracht habe, bestehe darin, daß seine Nachbarsleute ebenso wie diejenigen Mitglieder seines eigenen Familienkreises, die mehr oder weniger offene Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit geäußert hätten, sich mit dergleichen abschätzigen Bemerkungen nun etwas zurückhielten. Frederick Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Die Entfremdung gegenüber der Jurisprudenz ist umso bemerkenswerter, als dem Recht, nach allgemeiner Überzeugung, vor dem Erreichen des umfassenden Konsenses am Ende aller Diskurse und dem Eintritt in das wahre Tausendjährige Reich die Aufgabe des geregelten Meinungsausgleichs zufällt.
Luhmann hatte sich besorgt erkundigt, was den mit denjenigen passiert, die an Habermas’ schlichtenden Diskursen partout nicht teilnehmen wollen, und aus dem Kreis der Habermasjünger war in der Tat die Lehrmeinung vorgetragen worden, daß auf Meinungen, die in den Diskurs nicht eingebracht werden – und das sind die weitaus meisten -, auf dem langen Weg zum Konsens weiter keine Rücksicht zu nehmen ist. Sebalds Helden würden philosophische Überlegungen dieser Art, kämen sie ihnen denn zur Kenntnis, wenig beunruhigen, sie leben, je nach Sichtweise, in einem Cis- oder Transhabermasien. Farrar würde nicht versuchen, Garrad für die Rosenzucht zu begeistern und dieser ihn seinerseits nicht zum Tempelbau bekehren. Das Projekt Europa, für Habermas die makropolitische, wenn auch nicht ideale Umsetzung seiner Diskursethik, stößt auf wenig Begeisterung: Es habe ihn nie gekümmert, was seine an der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftpolitik immer fetter gewordenen Nachbarn von ihm gehalten hätten, so Garrad. Anders als im Stammland Pennsylvania leben Sebalds amische Menschen separiert, jeder in seiner eigenen Denomination. Die Prosa legt den Gedanken, sie könnten einander begegnen, nicht nahe. Und doch scheinen sie sich in gewissem Sinn nach Erlösung aus ihrem jeweiligen Ghetto zu sehnen. Selysses wird zum Erretter für den Augenblick, er hat die notwendige Leere und Konturlosigkeit, tritt selbst nicht mit einer eigenen Lebensform hervor, sondern sammelt, ähnlich wie Proust beim Verlieren der Zeit, Eindrücke, um auf dieser Grundlage seiner Berufung als Dichter nachkommen zu können. Besonders deutlich wird das Verlangen nach Erlösung im Fall des Jacques Austerlitz, der Selysses zunächst mit architekturtheoretischen Ansichten geradezu überfällt, um ihm dann, in mehreren Schüben, über das gesamte Buch hin seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Sebalds amische Leute leben nach den Massakern, die immer wieder am Horizont der Prosa auftreten, die Massaker am Kongo, die Massaker der Ustascha, das große Massaker der Deutschen, die Massaker aus der Luft. Auch Habermas’ auf Konsens und Frieden zielender Gesellschaftsentwurf endlosen Meinungsaustausches ist ein theoretischer Entwurf nach dem Massaker, Sebalds Helden aber sind diskursunwillig und verfallen zunehmend in Schweigen. Austerlitz durchlebt eine Phase des Sprachverlustes, Bereyter beschäftigt sich je länger desto lieber mit schweigsamer Gartenarbeit, zudem droht ihm Blindheit, Sebalds Figuren sind von denen Becketts weniger entfernt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Aurach arbeitet täglich zehn Stunden in seinem Atelier, und wenn er die Abendmahlzeit regelmäßig im Wadi Halfa unter den Wüstensöhnen einnimmt, so auch, weil dort von ihm Meinungsaustausch nicht verlangt wird. Die Ashburys sind weitgehend verstummt nach ihrem Schicksal in Irland, die drei Schwestern Catherine, Clarissa und Christina verbringen jeden Tag ein paar Stunden damit, vielfarbige Kissenbezüge, Bettüberwürfe und dergleichen mehr zusammenzunähen. Wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder sitzen sie auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und arbeiten, selten nur ein Wort miteinander wechselnd, in einem fort. In Selysses’ Augen werden die Ashburys in ihrem sich verdichtenden Schweigen immer unschuldiger. Le Strange, heimgekehrt aus Bergen Belsen - home is the sailor, home from sea, and the hunter home from the hill - schweigt strenger als ein Trappist. Cosmo Solomon steht stumm auf seinem Schemelchen. Wort- und klaglos läßt Adelwarth das Martyrium in der Nervenheilanstalt Samaria über sich ergehen. Im deutsche Konsulat zu Mailand aber sitzen die beiden Künstler Giorgio Santini und Georgios Selysses, Hochseilartist und Levitationszauberer, schweigend beieinander, die nordländisch wirkende junge Frau ebenfalls wortlos und unbeweglich, die Nonna mit einer Häkelarbeit beschäftigt, von der sie nur ab und zu aufblickt, die drei Mädchen in Sommerkleidern aus feinstem Batist einmal still zusammensitzend und dann wieder zwischen den Sesseln und Stühlen einhergehend. Schwerelos vergeht Selysses in der Gesellschaft dieser Leute die Zeit.
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