Dienstag, 17. September 2013

Sightseeing

Basse porte, porte d’or, porte fermée

Die Touristen im Bahnhof Venedig wüßten selbst nicht zu sagen warum sie unterwegs sind. In der Halle lagerte hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Reisenden in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz lagen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Wider Erwarten erhob sich der eine oder andere und wanderte herum zwischen den noch an der Erde liegenden Brüdern und Schwestern, als müßte er sich einüben in die Mühseligkeiten der nächsten Etappe einer endlosen Reise. Die Feriengäste in Limone nehmen offenbar an, sie seien zu ihrem Vergnügen hier und machen, zu fortwährendem Frohsinn verdammt, auch noch die Nacht zum Tag. Eine einzige buntfarbene Menschenmasse schob sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter waren es, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten. Die sogenannten Kulturreisenden schneiden kaum besser ab. In Verona zeigte sich die Gruppe später Ausflügler, denen der Cicerone mit einer dünn und brüchig gewordenen Stimme die Einzigartigkeit des Bauwerks beschrieb, wenig beeindruckt von seiner Architektur- und Opernbegeisterung, und in der Londoner Nationalgalerie durchwandern die wenigen Besucher mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle.
Für seine Reisen in Oberitalien sucht Selysses sich Gefährten aus der vergangenen, vom Massentourismus noch verschonten Zeit. Aber auch schon unter den günstigen Bedingungen tut Grillparzer sich schwer. Er findet er an nichts Gefallen und ist von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht. Selbst dem Dogenpalast zollt er nur eine sehr bedingte Hochachtung. Trotz aller Zierlichkeit der Kunst in seinen Arkaden und Zinnen habe, so schreibt er, der Dogenpalast einen unförmigen Körper und erinnere ihn an ein Krokodil. Wie er auf diesen Vergleich kommt, weiß er nicht. Kafka dagegen zeigt bei seinem Aufenthalt in Venedig einen gesunden Besichtigungswillen. Nun wolle er sich hineinwerfen in die Stadt und in das, was sie einem Reisenden zu bieten habe. Wie schön alles sei und wie sehr man es bei uns unterschätze! Über Einzelheiten aber schweigt er sich aus, wir wissen nicht, was er in Wirklichkeit alles gesehen hat. Der anschließende Aufenthalt in Riva steht im Zeichen der Wasserkur und ist besichtigungsfrei. Dann aber, rückblickend auf die Tage am Gardasee, ersinnt Kafka den Jäger Gracchus und sein unvergeßliches Schiff, einen schweren alten Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. Drei ganze Tage dauert es, bis die Barke, als werde sie über das Wasser getragen, leise in den Hafen von Riva schwebte.
Stendhal betritt italienischen Boden nicht als Tourist, sondern als Soldat. Der verbliebene militärische Realitätssinn ruft auch Jahre später eine schwere Enttäuschung hervor, als er bei der Durchsicht alter Papiere auf eine Prospetto d’Ivrea untertitelte Gravure stößt und sich eingestehen muß, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von ebendieser Gravure. Man solle sich darum, so rät er, keine Gravuren von schönen Ansichten kaufen, mit anderen Worten: nicht photographieren, denn das Abbild besetze nicht nur den Platz der Erinnerung und zerstöre sie. Die Erinnerungsbilde seiner Geliebten aber fließen ihm zusammen zur dichterischen Gravure der Mme Gherardi, und an ihrer Seite unternimmt er seine imaginäre Reise an den Gardasee, wo er folgerichtig Kafkas imaginäre Barke zu Gesicht bekommt.

Der noch junge Erzähler der Recherche kennt die Kirche von Balbec bislang nur als Gravure, von der leibhaftigen Besichtigung verspricht er sich eine immense Vertiefung seiner Freude. C’est ici, c’est l’église de Balbec. Cette place qui a l’air de savoir sa gloire, c’est le seul lieu du monde qui possède l’église de Balbec. Ce que j’ai vu jusqu’ici, c’était des photographies de cette église. Maintenant c’est l’église elle-même, c’est la statue elle-même, elles, les uniques: c’est bien plus. C’était moins aussi peut-être. Die auf den Photographien zur Ewigkeit erhobenen Skulpturen müssen sich hier einer banalen Umgebung erwehren, einem Wahlplakat, einem Café, dem Licht der Straßenlaterne, das sie sich mit einer Sparkasse teilen müssen. In einem anderen Zusammenhang weist der Dichter wenig später die Realität vollends in die Schranken: Comment aurais-je pu croire à une communauté d’origine entre deux noms qui étaient entrés en moi, l’un par la porte basse et honteuse de l’expérience, l’autre par la porte d’or de l’imagination? – Das ist naturgemäß nur Selbstspott, niemand kann immer nur durch die goldene Tür gehen, und sei sie auch aus reinem Gold.

Auf die Besichtigung der Lagunenstadt Venedig ist der gereifte Erzähler bereits besser vorbereitet, er läßt die Dinge, oft nur Details in der Art des kleinen gelben Mauerflecks in Vermeers Gemälde, auf sich zukommen. Quand à dix heures du matin on venait ouvrir mes volets, je voyais flamboyer l’Ange d’or au campanile de Sain-Marc. Rutilant d’un soleil qui le rendait presque impossible à fixer, il me faisait avec ses bras grands ouverts la promesse d’une joie profonde. Er begnügt sich mit dem zufällig von seinem Zimmer aus erblickten Ange d’or und macht auch keine Anstalten die Glanzpunkte der Stadt, an denen bereits Grillparzer gescheitert war, aufzusuchen, sondern begibt sich in das Gewirr der calli in der inneren Stadt. L’extrême proximité des maisons faisait de chaque croisée le cadre ou rêvassait une cusinière qui regardait par lui, d’une jeune fille qui, assise, se faisait peigner les cheveux par une vieille femme; faisait comme une exposition de cent tableaux hollandais juxtaposées.

Auch Selysses zieht es in das Gewirr der Gassen, auf Prousts Genreszenen stößt er zwar nicht, und doch hat man den Eindruck, er könne, auf eine weit dramatischere Weise, seinen Spuren folgen. Wer hineingeht in das Innere dieser Stadt, weiß nie, was er als nächstes sieht oder von wem er im nächsten Augenblick gesehen wird. Kaum tritt einer auf, hat er die Bühne durch einen anderen Ausgang schon wieder verlassen. Diese kurzen Expositionen sind von einer geradezu theatralischen Obszönität und haben zugleich etwas von einer Verschwörung an sich, in die man ungefragt und unwillentlich einbezogen wird. Geht man in einer sonst leeren Gasse hinter jemandem her, so bedarf es nur einer geringen Beschleunigung der Schritte, um demjenigen, den man verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen und umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten. Verwirrung und eisiger Schrecken wechseln einander ab.

Wenn beide Dichter in Venedig eine Besichtigungsvermeidung betreiben, so machen sich beide auf den Weg nach Padua, um Giottos Fresken in Augenschein zu nehmen. Sollte Selysses auch hier Prousts Spur folgen? Beide haben die gleichen Einzelheiten im Auge, Farben und Engel, und sehen doch ganz Unterschiedliches. Le fond des fresques est si bleu qu’il semble que la radieuse journée ait passé le seuil elle aussi avec le visiteur. Selysses fragt sich, ob die weißen Flügel der Engel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde nicht das weitaus Wunderbarste von allem sind, was wir uns jemals haben ausdenken können? Auf Reproduktionen sind die hellgrünen Spuren der Veroneser Erde so schwer zu entdecken wie Prousts gelber Mauerfleck auf dem Gemälde Vermeers und nicht weniger geheimnisvoll.
Die Engel betrachtet Prousts Erzähler vorwiegend unter formalen und flugtechnischen Gesichtspunkten. Les anges sont représentés comme des volatiles d’une espèce particulière. Ces petits êtres ne manquent pas de voltiger devant les saints, quand ceux-ci se promènent. Selysses hingegen ist am meisten erstaunt über die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. – Eine komparatistische Untersuchung der beiden Dichter, die ihren Ausgang nähme von den Engelsbildern, könnte recht weit führen.

Dann trennt Selysses sich von Prousts Erzähler und folgt seinem Namenspatron dem heiligen Georg. In Verona ist die Mesnerin, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, und einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor ihm, dem einzigen Besucher, hergeschwankt war, wortlos wieder in ihrem Verschlag verschwunden. Das Bildwerk zeichnet sich nur schattenhaft es sich über dem Torbogen ab. Vermittels eines münzbetriebenen Illuminationsapparates kann es für eine kurze Zeit ins Leben zurückgeholt werden. In der Londoner Nationalgalerie wartet Selysses ab, bis die wenigen Besucher, die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle durchwandern, verschwunden sind, bevor er sich in das Georgsbild versenkt. In der Abgeschiedenheit sind die beiden Türen, la porte basse de l’expérience, et la porte d’or de l’imagination, für den einsamen Betrachter einander recht nah, fast schon wie die beiden Flügel einer einzigen großen Pforte.

Alle kennen die japanische Touristen, die, Stendhals Warnung vor der Gravure auf radikale Weise mißachtend, wie rasend alles photographieren, so als ließe sich mit einer Unzahl von Lichtbildern das im Dunkel der besichtigten Dinge verborgene Geheimnis ans Tageslicht zerren. In Deauville stößt Selysses auf eine Reisegruppe, die sich zutiefst von der Vergeblichkeit dieses Tuns hat überzeugen lassen. Die Reisegruppe befindet sich auf einer Globusglücksreise, die von Las Vegas und Atlantic City über Deauville, Wien, Budapest und Macao wieder zurück nach Tokio führt. Gleich nach dem Frühstück gehen die Weltreisenden in das neue Casino hinüber, wo sie bis zum Lunch in den in allen Kaleidoskopfarben funkelnden und von dudelnden Tongirlanden durchwobenen Automatensälen spielen. Auch den Nachmittag und die Abendstunden verbringen sie bei den Maschinen, denen sie mit stoischer Miene ganze Hände voll Münzgeld opfern, und wie wahre Festtagskinder freuen sie sich, wenn es klirrend endlich wieder aus den Kästen springt. Porte fermée. Auf vielfältige Art läßt sich die Welt erleben, und viele Wege führen zum Reiseglück.

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