Ornithologische Metaphysik
Tatsächlich, so Sebald, habe er seine Art zu schreiben dem Hund abgeschaut, wie er, allein dem Rat der Nase folgend, über das Feld läuft. Er durchquert das Areal auf eine Weise, die sich jeder Planung entzieht und findet doch immer, wonach er sucht. Was aber sucht der Hund? Sucht er etwas Bestimmtes, etwas Allgemeines oder das, was sich im Augenblick aufdrängt? Folgt er weiter der Spur des Hasen, wenn er auf die überlegene Spur eines Wildschweins stößt, und was, wenn anstelle des Beutetiers ein übler Feind vor ihm auftaucht, ein Fuchs, ein Dachs oder gar der Hund des Nachbarn.
Tatsächlich, so Sebald, habe er seine Art zu schreiben dem Hund abgeschaut, wie er, allein dem Rat der Nase folgend, über das Feld läuft. Er durchquert das Areal auf eine Weise, die sich jeder Planung entzieht und findet doch immer, wonach er sucht. Was aber sucht der Hund? Sucht er etwas Bestimmtes, etwas Allgemeines oder das, was sich im Augenblick aufdrängt? Folgt er weiter der Spur des Hasen, wenn er auf die überlegene Spur eines Wildschweins stößt, und was, wenn anstelle des Beutetiers ein übler Feind vor ihm auftaucht, ein Fuchs, ein Dachs oder gar der Hund des Nachbarn.
In Prag trifft Austerlitz bei seiner Spurensuche, bevor er noch einem Menschen begegnet, im Traum auf einen Papagei. Der gesuchte Volksstamm der Azteken sei leider vor vielen Jahren schon ausgestorben, heißt es, höchstens daß hie und da noch ein alter Papagei überlebe, der noch etliche Worte ihrer Sprache versteht; Papageien sind dafür bekannt, daß sie jedwede Menschensprache wie im Flug erlernen, mit gewissen Defiziten auf der Verständnisseite. Wie nicht anders zu erwarten, bildet der Traum die Realität nicht korrekt nach, die Azteken sind im engeren Sinne nicht ausgestorben, und die verschiedenen Dialekte des Nahuatl werden auch heute noch von vielen Menschen und nicht ausschließlich von Papageien gesprochen. Austerlitz, das ist der Hintergrund des Traums, hat, wie er glaubt, die tschechische Sprache verloren und muß befürchten, daß die Menschen, die er in der Tschechei sucht, nicht mehr leben.
Das Exotische in Andromeda Lodge aber waren in erster Linie die weißgefiederten Kakadus, die bis zu einem Umkreis von zwei, drei Meilen überall um das Haus herumflogen und aus den Gebüschen herausriefen. Aber nicht nur in der Sprechfähigkeit ähnelte die gefiederte Population auf eine, je nach Einstellung des Betrachters, beglückende oder erschreckende Weise den Menschen. Wenn sie nicht flogen oder kletterten, hüpften sie über den Boden dahin, immer geschäftig und, so hatte man den Eindruck, immer auf irgend etwas bedacht. Man hörte sie seufzen, niesen, lachen und gähnen. Auch wie sie sich in andauernd wechselnden Gruppen zusammenrotteten und dann wieder paarweise beieinander saßen, als kennten sie nichts als die Eintracht und seien auf ewig unzertrennlich, war ein Spiegel der menschlichen Sozietät. Auf einer Lichtung hatten sie sogar ihren eigenen, wenn auch nicht von ihnen selber verwalteten Friedhof mit einer langen Reihe von Gräbern. - Unwillkürlich hält man in der Nähe der Gräber zur Vervollständigung des gewohnten Bildes Ausschau nach einem Kakadukirchturm. Den verschiednen Formen des Totenkults geht Sebald nach, wo immer sich die Möglichkeit eröffnet, im walisischen Bala, auf Korsika, bei der Lektüre Thomas Brownes. Ganz ähnlich wie die toten Kakadus in Andromeda Lodge verwahrt Austerlitz später die verblichenen Motten in kleinen Bakelitschächtelchen. Aus dem Fenster seiner Wohnung sah man hinter einer Ziegelmauer einen von Lindenbäumen und Fliederbüschen bewachsener Platz, auf dem man seit dem 18. Jahrhundert Mitglieder der aschkenasischen Gemeinde beigesetzt hatte, unter anderem den Rabbi David Tevele Schiff und den Rabbi Samuel Falk, den Baal Schem von London. Von diesem Platz, so ist zu vermuten, waren die Motten ins Haus geflogen. Mythologisch Vorstellungen von den Seelen, die als Schmetterlinge aus den toten Körpern ausfahren drängen sich auf. Wenn aber der Tod der Beginn der Metaphysik ist, warum soll man sie dann den Tieren vorenthalten, indem man ihnen nur metaphorischen Zutritt gewährt, ihnen, die nicht weniger sterblich sind als wir, und deren Lebensspanne oft noch beträchtlich kürzer ist als die unsere, ganz abgesehen von den Abermilliarden, die wir hinmeucheln vor der Zeit.
Sebald ist nicht der erste, der auf die metaphysische Tauglichkeit des Papageis aufmerksam geworden ist. Nach Korsika hat Selysses einen Band der Bibliothèque de la Pléiade mitgenommen, der unter anderem Flauberts Erzählung Un cœur simple enthält. Die zweite Hälfte der Geschichte steht ganz im Zeichen des Papageis Loulou, der seine hohe Form und Verklärung erst nach dem Tod als Mumie erfährt. Félicité, die Frau mit dem schlichten Herzens, ist unberührt von jeder Schulbildung und religiösen Erziehung, und als sie eine verspätete Einführung in die Geheimnisse der Christenlehre erfährt, findet sie sich doch nie ganz zurecht in der christlichen Ordnung der Dinge und insbesondere nicht in der schwierigen Sache der heiligen Trinität. Von dem in ihrem Zimmer hängenden Bild des heiligen Geists schaut sie immer auch ein wenig hinüber zu ihrem über alles geliebten Papagei. Elle contracta l’habitude idolâtre de dire ses oraisons agenouillée devant le perroquet. Sie ist überzeugt, daß der Herr, um sich der Mutter Gottes zu verkündigen, nicht eine einfache weiße Taube geschickt hatte, sondern einen der schönen Vorfahren Loulous, und in der Stunde ihres Todes sieht sie hoch über sich einen gigantischen Papagei seine Kreise ziehen in dem zur Hälfte schon geöffneten Himmel. - Loulous sterbliche Hülle hat dann ihren Weg auf Flauberts Schreibtisch gefunden, Julian Barnes ist den Einzelheiten nachgegangen.
Sebald hat einigen Motiven des aufgegebenen Korsikaprojektes Logis im Austerlitzbuch gewährt, darunter dem der Psittaciformes. Seine Nachdichtung der Erzählung Flauberts ist eigentlich die schönere Geschichte, jedenfalls ist sie von mehr Mitgefühl und Nähe getragen als das Original, vielleicht kein Maßstab, denn Flaubert hatte aus schriftstellerischer Überzeugung sichtbare Zeichen von Empathie immer vermieden. So gern Selysses Janine Rosalind Dakyns’ begeisterten Flaubertvorträgen lauscht, ihre Begeisterung für den normannischen Dichter teilt er wohl nur eingeschränkt, mit der Éducation sentimentale jedenfalls hat er sich ziemlich geplagt. In Austerlitz macht sich Sebald das Papageienmotiv dann ganz zu eigen, löst den Papagei nicht nur aus Flauberts Erzählung, sondern befreit ihn auch vom blasphemischen Dienst innerhalb der hochartikulierten christlichen Metaphysik. Stattdessen verleiht er den Kakadus mit dem Gräberfeld sozusagen eine metaphysische Grundausstattung, wie weit sie sie nutzen konnten, wie weit sie zum Nachdenken über dem Tod angeregt wurden, wissen wir nicht. Bei Elephanten und anderen höheren Säugetieren glaubt man, Spuren eines durch den Tod der Stammesangehörigen verursachten metaphysischen Schocks ausgemacht zu haben. Malachio, der venezianische Astrophysiker, merkt an, er habe in letzter Zeit viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels, und ein weites Feld lag voller Totengebein, und des Gebeins lag sehr viel auf dem Feld, sie waren sehr verdorrt. Schon mit den menschlichen Gebeinen scheint der Herr vor kaum lösbare Aufgaben gestellt, was aber, wenn die der Psittaciformes noch hinzukommen, und mit ihnen könnte es ja kein Bewenden haben. Antworten, so Malachio, habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen.
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