Donnerstag, 24. Oktober 2013

Vom Himmel gefallen

Leselücken
Die Großmutter hat das Buchgeschenk mit größter Sorgfalt und unter diffiziler Abwägung verschiedenster pädagogischer Gesichtspunkte ausgesucht, dem Beschenkten scheinen die Bücher wie vom Himmel gefallen. Schon der Titel des einen, François le Champi, läßt ihn etwas Unbestimmbares und Köstliches erwarten. Die Handlung erscheint ihm umso dunkler und schöner, als er in jenen Kindertagen beim Vorlesen oft ganze Abschnitte und Seiten verträumt. Die durch Unaufmerksamkeit verursachten Lücken werden noch dadurch vermehrt, daß die Mutter zur Schonung des Knaben alle Liebesszenen überspringt. Die bizarren Bewegungen, denen das Geschehen auf diese Weise unterworfen war, schienen die tiefsten und erregendsten Geheimnisse zu bergen. - Die Zensur der Mutter wird bald entfallen, die Konzentrationsfähigkeit wird steigen, sollen wir aber hoffen, daß die Lücken sich vollends schließen? Vieles in der Recherche geht auf eine aufmerksame Lektüre von Balzac, Ruskin und anderen zurück, der endlose Strom der Worte aber steigt auf aus den Bereichen des Verträumten, endlose Wortfolgen, die ihrerseits auf Lückenlosigkeit bedacht scheinen und uns, die Leser, doch nicht daran hindern können, in Träumereien zu verfallen.
Für jeden obsessiven oder professionellen, Leseprogramme abarbeitenden Leser ist es eine Wohltat, wenn ihm durch einen Zufall ein Buch in die Hand kommt, auf das er von sich aus nie verfallen wäre. Ein solches Buch kann lebensrettend sein. Marie de Verneuil hat Austerlitz als Berufsleser in der Nationalbibliothek in der rue Richelieu kennengelernt, wo er meist bis in den Abend hinein in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an seinem Platz beschäftigt mit seinem Lesepensum gesessen ist. Als Austerlitz nach Verlassen des Veterinärmedizinischen Museums in Paris zusammengebrochen ist, bringt Marie bei einem ihrer regelmäßigen Besuche am Krankenbett aus der Bibliothek ihres Großvaters ein altes Arzneibüchlein mit, pour toutes sortes de maladies, internes et externes, invéterées et difficiles à guérir. Eine jede Zeile des schönen Vorworts hat er mehrfach gelesen und desgleichen die Rezepturen für die Herstellung von aromatischen Ölen, Pulvern, Essenzen und Infusionen zur Beruhigung der kranken Nerven, zur Reinigung des Blutes von den Säften der schwarzen Galle und Austreibung der Melancholie, und wirklich hatte er über der Lektüre dieses Büchleins sein verloreneres Selbstgefühl und seine Erinnerungsfähigkeit wieder erlangt. - Austerlitz liest das Arzneibüchlein sicher nicht in der Hoffnung, die richtige Rezeptur für ein sein Leiden heilendes Medikament zu finden, die Lektüre selbst ist das Remedium, er läßt sich von ihr aus der Welt tragen, in der ihm der Aufenthalt zu schwer geworden ist. In dem Büchlein trifft er sich mit Marie de Verneuil, die es ihm nicht ohne Bedacht geschenkt hat und die, so kann er annehmen, den gleichen Sätzen gefolgt ist. Oft wird er die Zeit beim Lesen verträumt haben.

Die Schwindel.Gefühle und die Ringe des Saturn sind Bücher einer Lesepause, das heißt nicht, Bücher würden ganz aus dem Blickfeld geraten, sie werden aber nur beiläufig erworben und zur Hand genommen. Die Memoiren des Duc de Sully hat Selysses vor Jahren auf einer Auktion in dem nördlich von Norwich gelegenen Landstädtchen Aylsham erworben, und seither gehören sie zu seiner liebsten Lektüre. In einer Bar an der Riva blättert er in Grillparzers Tagebuch auf der Reise nach Italien. Auf einem Dachboden in W. dann stößt er in einem Regal, in sich zusammengesunken, wie es den Anschein hatte, auf die bald an die hundert Bände umfassende, ihm in der Folge in zunehmenden Maße wichtig werdende Bibliothek der Mathild. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun.

Jeder wahre Leser ist überzeugt, den anderen Menschen nicht besser erkunden und verstehen zu können als durch das Studium des Bücherregals. Findet er nichts vor als vielleicht Kochanleitungen und andere praktische Ratgeber, ist er hilflos. Wenn Selysses die in seinen Besitz gelangte Bibliothek der Mathild immer wichtiger geworden ist, so nicht so sehr des zusätzlichen Lesestoffs wegen. Vielmehr steigt ihm aus den Büchern das Leben der Mathild auf, die unmittelbar vor dem ersten Krieg in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten war, das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten hatte, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Jeder Blick auf die Bibliothek der Mathild ist Anlaß für neue Fragen und Überlegungen. Man möchte meinen, aus der Beschäftigung mit der Bibliothek der Mathild heraus habe Selysses seinen Meister Sebald angeregt zu dem Plan, ein Buch über die Münchener rote Zeit zu verfassen.
In der Prager Wohnung Věra Ryšanovás sind es die in einem verglasten Bücherschrank verwahrten fünfundfünfzig kleinen karmesinroten Bände der Comédie humaine, die ins Auge fallen. Věras Verhältnis zu Balzac ist weniger durchsichtig als das der Mathild zu der bunten Mischung aus Gebetsbuch und Sozialutopie, aber es ist das Dunkel, das Austerlitz zur Lektüre des Colonel Chabert anregt. Seine geraffte Wiedergabe des Buchinhalts könnte auf eine ähnlich lückenhafte Lektüre schließen lassen wie im Fall des François le Champi, Lücken, die auch hier, wie der eine oder andere urteilen mag, dem vorgefundenen Lesestoff nur guttun konnten.

Auf seiner Reise durch Oberitalien hat Selysses nicht nur Grillparzers Tagebuch dabei, auf der Fahrt nach Mailand zieht er den Beredten Italiener aus dem Reisegepäck hervor, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache. Er greift zu dem Hülfsbuch, als er seine Reisegefährtinnen, die eine in ihr Brevier und die andere in ihren Bilderroman, versunken sieht. Die schönen und weitreichenden Gedanken zu einer harmonischen Welt wären ihm wohl nicht durch den Sinn gegangen, hätte er ernsthaft studiert und es in der reizenden Lesegemeinschaft nicht beim bloßen Blättern belassen. Im weiteren Verlauf der Reise stößt Selysses auf die Winterkönigin, auf das tiefste versenkt in ein Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer ihm unbekannten Autorin namens Mila Stern. Vergeblich hat er in der Folge geforscht nach dem Buch, das sie in der Hand gehalten hatte, das aber, obschon für ihn von größter Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, ja, absolut nirgends verzeichnet war. – Wohl jeder Leser kennt die Sehnsucht nach dem einen, wahren, über alle anderen Bücher hinausgehenden Buch, das jede denkbare Sehnsucht stillt. Dieses Buch scheint auf in den François le Champi transzendierenden Leselücken, und es ist beglückend, wenn auch ein so unerhörtes Buch wie die Schwindel.Gefühle noch das Verlangen nach dem ganz und gar unerhörten Buch sozusagen offiziell aufrecht erhält.

Die Großmutter hat das Buch für Prousts jungen Erzähler ausgewählt, die Mutter liest es ihm vor, der Vater ist kaum beteiligt. Auf der Vaterseite ist die Situation für Selysses ähnlich: Im Aufsatz des Schranks hatten nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. Nicht krasser dagegen könnte der Unterschied auf der Seite der Mutter sein, die bei Selysses gar nicht in Erscheinung tritt, geschweige denn mit einem Buch in der Hand. Da mag es kaum verwundern, wenn später ein Großteil der wie vom Himmel gefallenen Bücher, wie um den Schaden wieder gut zu machen, aus Frauenhand stammen, die Bibliothek der Mathild, Maries Arzneibüchlein, Věras karmesinrote Balzacbände, der Beredte Italiener, den erst die Reisegefährtinnen hervorzaubern, das unerhörte Buch der Winterkönigin. Es könnte scheinen, als würden wahre Leser nur à l’ombre weiblicher Fürsorge gedeihen.
Weibliche Fürsorge hält die Kindheit wach, und bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß auch das Kind Selysses nicht ohne diese Fürsorge auskommen mußte. Da ist einmal die in drei großen Folianten untergebrachte Ansichtskartensammlung, die er sich immer wieder bei der trunksüchtigen Engelwirtin Rosina Zobel anschaut, und zum anderen der alte Atlas, den die Mathild bei seinen Besuchen in der Begleitung des Großvaters jedesmal für ihn bereitlegt, und in dem ihn jedesmal das Blatt mit den größten Strömen und den höchsten Erhebungen in ein wohliges Grübeln versetzt. Ähnlich vertieft sich Austerlitz in der kymrischen Kinderbibel, die ihm Miss Parry geschenkt hat, nahezu ausschließlich in das Studium des großformatig abgebildeten Heerlagers in der Wüste Sinai. Von diesen frühen, eher von den Bildern als von den Worten geprägten Eindrücken her läßt sich erahnen, warum noch die Prosabücher, durch die sich Selysses später bewegt, in so auffälliger Weise mit Bildern durchsetzt sind.

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