Wie Blütenstaub
Paul Bereyter würde man als einen Enthusiasten der Schülerunterrichtung verstehen, Janine Rosalind Dakyns als eine Enthusiastin Flauberts und des Sandkorns. Von Austerlitz’ Tischnachbarn in der Nationalbibliothek in der rue Richelieu erfährt man zu wenig, um ihn recht einschätzen zu können, ein älterer Herr mit sorgsam gestutztem Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon der Kirchengeschichte arbeitete, in welchem er bis an den Buchstaben K gelangt war und das er also nie würde zu Ende bringen können. Mit einer winzigen, geradezu gestochenen Schrift füllte er, ohne je zu zögern oder etwas durchzustreichen, eine seiner kleinen Karteikarten nach der anderen aus und legte sie in einer genauen Ordnung vor sich aus. Was die die Lebenszeit vermutlich überdauernde Aufgabe, die Regelmäßigkeit der Arbeit und die Kleinformatigkeit der einzelnen Teile anbelangt, so ähnelt der namenlose ältere Herr zweifellos Alec Garrad, der aufgrund der Größe des Tempelmodells mit einer Fläche von beinahe zehn Quadratmetern und andererseits der Winzigkeit und Genauigkeit der einzelnen Teile so langsam vorankommt, daß von einem Jahr auf das andere kaum Fortschritte zu erkennen sind, obwohl er die Landwirtschaft im Lauf der Zeit mehr und mehr eingeschränkt hat, um sich ganz dem Tempelbau widmen zu können. Wenn Garrad sich an der Grenze bewegt, an der Enthusiasmus beginnt in Obsession überzugehen, so ist es doch eine stille und ganz und gar geordnete Obsession, während Max Aurachs künstlerisches Tun auffällige Merkmale des Wüsten und Zerstörerischen aufweist. Sein heftiges, hingebungsvolles Zeichnen, bei dem er in kürzester Frist oft ein halbes Dutzend seiner aus Weidenholz gebrannten Stifte aufbrauchte, dieses Zeichnen und Hinundherfahren auf dem dicken, lederartigen Papier sowohl als auch das mit dem Zeichnen verbundene andauernde Verwischen des Gezeichneten mit einem von der Kohle völlig durchdrungenen Wollappen war in Wirklichkeit eine einzige, nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion.
Dr. Abramsky in Ithaca ähnelt als bienenzüchtender Ruheständler zum einen dem mit der Zucht seltener Rosen und Veilchen beschäftigten emeritierten Richter Farrar, zum anderen aber als Traumkünstler dem Maler Aurach. Sein in leidenschaftlicher Besessenheit verfolgtes virtuelles Kunstprojekt besteht in der Beobachtung des Verfalls der Narrenburg, als die er das seinerzeitige, inzwischen längst aufgelassene psychiatrische Sanatorium sieht. Das gesamte Aktenmaterial, die Anamnesen, die Krankengeschichten sind, so denkt er, in der Zwischenzeit längst von den Mäusen gefressen worden. Dem Mäusevolk gilt meine Hoffnung, und sie gilt den Holzbohrern, den Klopfkäfern und den Totenuhren. Von dem Einsturz habe ich einen regelmäßig wiederkehrenden Traum. Ich sehe das Gebäude in seiner Gesamtheit sowohl als jede kleinste Einzelheit und ich weiß, daß das Fachwerk, das Dachstuhlgebälk, die Türstöcke und Paneele, die Böden, Dielen und Stiegen, die Geländer und Balustraden, Rahmungen und Gesimse unter der Oberfläche restlos bereits ausgehöhlt sind, und das jeden Augenblick alles in sich zusammensinken wird. Und so geschieht es dann auch vor meinem Traumaugen, mit unendlicher Langsamkeit, und eine große gelbe Wolke steigt auf und verweht, und an der Stelle des ehemaligen Sanatoriums bleibt nichts als ein Häufchen puderfeines, blütenstaubähnliches Holzmehl.
Es ist eine kunst- und geradezu liebevolle Zerstörung des Sanatoriums, die in der unendlichen Langsamkeit und im Zusammenspiel von Gesamtheit und kleinsten Einzelheiten Garrads Aufbau des Tempelmodells wie in einem zurücklaufenden Film beklemmend ähnelt, im Resultat aber Aurachs tagtäglicher Staubproduktion. Aurach ist seinerseits Garrad auch unmittelbar in einem Traum verbunden, indem er ein winziges Tempelmodell, wenn man so will ein Modell von Garrads Tempelmodell, Modell in jedem Fall eines längst zu Kalkmehl verfallenen Gebäudes, auf dem Schoß des Galiziers Frohwein sieht und zum ersten Mal in seinem Leben eine Vorstellung hat, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. In einem traumhaften Gefüge von Bau und Zerstörung dringen die drei, Aurach, Garrad und Abramsky, vor zum Wesen der Kunst und zur Seele der Welt, ein Weg, der zurück zum Ausgangspunkt führt: zu einem Häufchen puderfeinen, blütenstaubähnlichen Holzmehls.
Denn begonnen hatte alles in der Kindheit des Dichters. Nichts war ihm sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Insbesondere aber berührte ihn alljährlich das Verspeisen der Seelenwecken, die der Mayrbeck einzig für diese Gedenktage machte, und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Die Wecken waren mit Mehl bestäubt, und der Mehlstaub, der an meinen Fingern zurückgeblieben war, ist mir vorgekommen wie eine Offenbarung, und am Abend desselben Tages habe ich lang noch mit einem Holzlöffel in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste gegraben, um das dort verborgene Geheimnis zu ergründen. Es ist in unserer Zeit selten geworden, daß die spontane Transzendenzvermutung eines Kindes im Mehl seinen Ausgang sucht, Mehlkisten im Schlafzimmer der Großeltern wird man kaum noch finden. Letztlich sind es die Seelen der längst zu mehlfeinem Staub zerfallenen Toten, die die Suche veranlaßt haben. Selysses geht den als Kind begonnenen Weg beharrlich weiter, der Zirkel von Zerstörung und Aufbau und Zerstörung, in den er gerät, gerinnt nicht zu einem aus- und nachsprechbaren Urteil. Antworten finden er und wir nicht, aber es reichen eigentlich schon die Fragen.
Paul Bereyter würde man als einen Enthusiasten der Schülerunterrichtung verstehen, Janine Rosalind Dakyns als eine Enthusiastin Flauberts und des Sandkorns. Von Austerlitz’ Tischnachbarn in der Nationalbibliothek in der rue Richelieu erfährt man zu wenig, um ihn recht einschätzen zu können, ein älterer Herr mit sorgsam gestutztem Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon der Kirchengeschichte arbeitete, in welchem er bis an den Buchstaben K gelangt war und das er also nie würde zu Ende bringen können. Mit einer winzigen, geradezu gestochenen Schrift füllte er, ohne je zu zögern oder etwas durchzustreichen, eine seiner kleinen Karteikarten nach der anderen aus und legte sie in einer genauen Ordnung vor sich aus. Was die die Lebenszeit vermutlich überdauernde Aufgabe, die Regelmäßigkeit der Arbeit und die Kleinformatigkeit der einzelnen Teile anbelangt, so ähnelt der namenlose ältere Herr zweifellos Alec Garrad, der aufgrund der Größe des Tempelmodells mit einer Fläche von beinahe zehn Quadratmetern und andererseits der Winzigkeit und Genauigkeit der einzelnen Teile so langsam vorankommt, daß von einem Jahr auf das andere kaum Fortschritte zu erkennen sind, obwohl er die Landwirtschaft im Lauf der Zeit mehr und mehr eingeschränkt hat, um sich ganz dem Tempelbau widmen zu können. Wenn Garrad sich an der Grenze bewegt, an der Enthusiasmus beginnt in Obsession überzugehen, so ist es doch eine stille und ganz und gar geordnete Obsession, während Max Aurachs künstlerisches Tun auffällige Merkmale des Wüsten und Zerstörerischen aufweist. Sein heftiges, hingebungsvolles Zeichnen, bei dem er in kürzester Frist oft ein halbes Dutzend seiner aus Weidenholz gebrannten Stifte aufbrauchte, dieses Zeichnen und Hinundherfahren auf dem dicken, lederartigen Papier sowohl als auch das mit dem Zeichnen verbundene andauernde Verwischen des Gezeichneten mit einem von der Kohle völlig durchdrungenen Wollappen war in Wirklichkeit eine einzige, nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion.
Dr. Abramsky in Ithaca ähnelt als bienenzüchtender Ruheständler zum einen dem mit der Zucht seltener Rosen und Veilchen beschäftigten emeritierten Richter Farrar, zum anderen aber als Traumkünstler dem Maler Aurach. Sein in leidenschaftlicher Besessenheit verfolgtes virtuelles Kunstprojekt besteht in der Beobachtung des Verfalls der Narrenburg, als die er das seinerzeitige, inzwischen längst aufgelassene psychiatrische Sanatorium sieht. Das gesamte Aktenmaterial, die Anamnesen, die Krankengeschichten sind, so denkt er, in der Zwischenzeit längst von den Mäusen gefressen worden. Dem Mäusevolk gilt meine Hoffnung, und sie gilt den Holzbohrern, den Klopfkäfern und den Totenuhren. Von dem Einsturz habe ich einen regelmäßig wiederkehrenden Traum. Ich sehe das Gebäude in seiner Gesamtheit sowohl als jede kleinste Einzelheit und ich weiß, daß das Fachwerk, das Dachstuhlgebälk, die Türstöcke und Paneele, die Böden, Dielen und Stiegen, die Geländer und Balustraden, Rahmungen und Gesimse unter der Oberfläche restlos bereits ausgehöhlt sind, und das jeden Augenblick alles in sich zusammensinken wird. Und so geschieht es dann auch vor meinem Traumaugen, mit unendlicher Langsamkeit, und eine große gelbe Wolke steigt auf und verweht, und an der Stelle des ehemaligen Sanatoriums bleibt nichts als ein Häufchen puderfeines, blütenstaubähnliches Holzmehl.
Es ist eine kunst- und geradezu liebevolle Zerstörung des Sanatoriums, die in der unendlichen Langsamkeit und im Zusammenspiel von Gesamtheit und kleinsten Einzelheiten Garrads Aufbau des Tempelmodells wie in einem zurücklaufenden Film beklemmend ähnelt, im Resultat aber Aurachs tagtäglicher Staubproduktion. Aurach ist seinerseits Garrad auch unmittelbar in einem Traum verbunden, indem er ein winziges Tempelmodell, wenn man so will ein Modell von Garrads Tempelmodell, Modell in jedem Fall eines längst zu Kalkmehl verfallenen Gebäudes, auf dem Schoß des Galiziers Frohwein sieht und zum ersten Mal in seinem Leben eine Vorstellung hat, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. In einem traumhaften Gefüge von Bau und Zerstörung dringen die drei, Aurach, Garrad und Abramsky, vor zum Wesen der Kunst und zur Seele der Welt, ein Weg, der zurück zum Ausgangspunkt führt: zu einem Häufchen puderfeinen, blütenstaubähnlichen Holzmehls.
Denn begonnen hatte alles in der Kindheit des Dichters. Nichts war ihm sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Insbesondere aber berührte ihn alljährlich das Verspeisen der Seelenwecken, die der Mayrbeck einzig für diese Gedenktage machte, und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Die Wecken waren mit Mehl bestäubt, und der Mehlstaub, der an meinen Fingern zurückgeblieben war, ist mir vorgekommen wie eine Offenbarung, und am Abend desselben Tages habe ich lang noch mit einem Holzlöffel in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste gegraben, um das dort verborgene Geheimnis zu ergründen. Es ist in unserer Zeit selten geworden, daß die spontane Transzendenzvermutung eines Kindes im Mehl seinen Ausgang sucht, Mehlkisten im Schlafzimmer der Großeltern wird man kaum noch finden. Letztlich sind es die Seelen der längst zu mehlfeinem Staub zerfallenen Toten, die die Suche veranlaßt haben. Selysses geht den als Kind begonnenen Weg beharrlich weiter, der Zirkel von Zerstörung und Aufbau und Zerstörung, in den er gerät, gerinnt nicht zu einem aus- und nachsprechbaren Urteil. Antworten finden er und wir nicht, aber es reichen eigentlich schon die Fragen.
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