Unheilvolle Wege
Es gilt in Fachkreisen weithin als unstrittig, daß Austerlitz ein Buch zum Holocaust ist, für manche überstrahlt das Thema mit finsterem Glanz das gesamte Werk und macht Sebald zum Holocaustdichter, obwohl die Judenvernichtung in den anderen drei Prosawerken nur fern am Horizont oder auch gar nicht in Erscheinung tritt. Berufen wir uns ein weiteres Mal auf Deleuze, dem zufolge die künstlerischen Wahrheit niemals in den bewußt gewählten Themen zu finden ist, so muß, sofern Austerlitz als Kunstwerk gelesen wird, auch in diesem Buch das Holocaustthema an den Rand des Blickfelds verlagert werden, und stattdessen die es umspielenden unbewußten Motive, die allein den Worten ihren Sinn und ihr Leben verleihen, in den Mittelpunkt.
Die Protagonisten des Buches suchen in Terezín und Willebroek Holocaustgedenkstätten auf, das Herz der Dunkelheit, soweit es gegenwärtig noch zugänglich ist. Ich ging die Straße hinauf und hinunter, bis ich auf einmal vor dem von mir zunächst übersehenen sogenannten Ghettomuseum stand: so könnt der Bericht über den Besuch in Terezín beginnen. Stattdessen beginnt er bereits am trostlosen Bahnhof Holešovice in Prag, von dem aus die Gleise zu beiden Seiten ins Unendliche verlaufen. Weiter führt der unheilvolle Weg durch die Moldauauen und durch das leere böhmisches Land. Der Bahnhof Lovosice ist verlassen bis auf eine Bauersfrau, die in ihrem Stand darauf wartet, daß es jemandem einfallen möchte, eines der zu einem mächtigen Bollwerk aufgetürmten Krauthäupter zu kaufen. Da nirgends ein Taxi zu sehen ist, macht Austerlitz sich zu Fuß auf den Weg nach Terezín. Hinter einem giftgrünen Feld im Vordergrund steigt ein vom Rost schon zur Hälfte zerfressenes petrochemisches Kombinat auf, dahinter die kegelförmigen böhmischen Berge. Terezín duckt sich tief in die feuchten Niederungen am Zusammenfuß von Eger und Elbe hinein. Die Stadt selbst ist menschenleer, die Türen verschlossen, auch die des Antikos Bazar, hinter dessen Fensterscheiben in bunter Zusammenstellung die verschiedensten zum Grübeln anregenden Trödeldinge zu bewundern sind, neben vielem anderen auch Hirschhornknöpfe, deren bloße Erwähnung - wo es doch allein um das Ghettomuseum gehen soll - seinerzeit eine deutschsprachige Kritikerin aus der Fassung gebracht hatte. Tatsächlich ähneln die Hinterlassenschaften im Trödelladen: kristallene Schalen, Keramikvasen. Seemuschelkästchen, Miniaturdrehorgeln -, den Exponaten im Museum: Handtaschen, Gürtelschnallen, Kleiderbürsten, Kämme. Die Beschäftigung mit dem Museum beansprucht nicht mehr Seiten als die mit dem Bazar, der, anders als das Museum, überdies gründlich bebildert ist. Die planvolle Ausstellung des Museums gegenüber dem bunten Durcheinander im Bazar läßt an Prousts Unterscheidung von gewolltem und unwillkürlichem Erinnern denken, die bevorzugte Erinnerungsform des Dichters ist allgemein bekannt. Auf der Rückfahrt im Bus sind die Fahrgäste ausnahmslos in den ewigen Schlaf versunken, ihre verrenkten Leiber hängen in den Sitzen.
Mit dem Vorortzug in Mechelen eingetroffen, entschließt Selysses sich, die immerhin zehn Kilometer nach Willebroek zu Fuß zurückzulegen durch die Außenbezirke und die größtenteils schon zersiedelten Vorfelder der Stadt, nicht der Traum des Wanderers, eher schon der Traum eines bußfertigen Pilgers. Ein langer Lastkahn beladen mit Krautköpfen gleitet führerlos, wie es scheint, und ohne eine Spur zu hinterlassen auf der schwarzen Wasserfläche des Kanals dahin. Krauthäupter, Krautköpfe, Totenköpfe, für einen Augenblick verwandelt sich rückblickend die Krautbastion von Lovosice in eine Schädelpyramide, die verladen als Schädelfracht Belgien erreicht hat und gleich der Barke des Gracchus auf dunklen Wassern ziellos weitertreibt. Auf dem dunklen Wasser rudert auch eine graue Gans, einmal ein Stück in die eine Richtung, dann in die andre wieder zurück. Nach einer Weile steigt sie ans Ufer und setzt sich nicht weitab von ihm ins Gras. Wie seinerzeit im Tirol der Anblick einer sich weit ins Feld hinauswagenden Hühnerschar oder später in Amsterdam der Anblick eines Entenpaars in einem breiten Graben und im Schutze einer Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers, ist ihm auch der Anblick der Gans sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß er nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das ihn manchmal so rührt. Was ihn so rührt, das ist der vertiefte Ausdruck für Deleuzes unbewußte Motive, und Sebalds Prosa ist zu lesen als eine dichte Abfolge solcher Rührungen unterschiedlicher Intensität, beglückend oder beängstigend oder beides in einem. Das beschworene Dunkel des Wassers findet einen auffälligen Kontrast, denn der grauen Gans vorausgegangen war, in diesem an sich heiligenarmen Buch des Dichters, den die Heiligen immer seltsam berührt haben, die Verwandlung in den Heiligen Julian, dessen Haar Feuer fängt auf dem Weg durch die Wüste. Die Verzauberung der Worte berührt ohne weiteres auch uns, und wenn wir mit Wasser- und Hühnervögeln oder Heiligen vielleicht bislang nicht viel im Sinn hatten, so sind wir jetzt verwandelt, den Weißkohl werden wir fortan mit anderen Augen betrachten und selbst noch Knöpfe aus Hirschhorn werden uns wichtiger sein als jemals gedacht.
Einige waren schon vorausgelaufen über die Brücke zu dem finsteren Tor, durch das er sich nicht hineintraute, geradeso wie er sich an anderer Stelle nicht getraut hatte, einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. Stattdessen nimmt er Platz im Gras und liest, in Gesellschaft der Gans, in einem Buch des Londoner Literaturwissenschaftlers Dan Jakobson, das ihn zunächst in die Diamantengruben von Kimberley, Südafrika, und dann zu den Festungsanlagen von Kaunas führt, in denen 1941 die deutsche Wehrmacht sich eingerichtet hatte, und wo in den folgenden drei Jahren mehr als dreißigtausend Menschen ums Leben gebracht wurden. Während in Terezín das Ghettomuseum in das Ornament der verschiedenen Besuchsstationen eingearbeitet wurde, wird die Mahnanlage in Willebroek substituiert durch die Lektüre eines Buches, das freilich durch seine Motivlage das Thema wachhält bis zum Schluß. In Mechelen langt Selysses wieder an, als es Abend wurde.
Deleuzes Ansatz läßt die Frage offen, wie die bewußten Themen, als ihr nicht gemäß, überhaupt in die Dichtung geraten, kennen die Dichter die Regel nicht? Niemand kennt sie besser als Sebald, er gibt an, sein erstes Prosawerk unter Schwindelgefühlen, also bei nicht klarem Kopf und mit eingeschränktem Bewußtsein geschrieben zu haben. Als seinen literarischen Lehrmeister nennt er den Hund, der anscheinend planlos über das Feld läuft und doch findet, was er sucht, dabei aber in seinem Kopf sicher keine Themen abhandelt.
Mit dem Vorortzug in Mechelen eingetroffen, entschließt Selysses sich, die immerhin zehn Kilometer nach Willebroek zu Fuß zurückzulegen durch die Außenbezirke und die größtenteils schon zersiedelten Vorfelder der Stadt, nicht der Traum des Wanderers, eher schon der Traum eines bußfertigen Pilgers. Ein langer Lastkahn beladen mit Krautköpfen gleitet führerlos, wie es scheint, und ohne eine Spur zu hinterlassen auf der schwarzen Wasserfläche des Kanals dahin. Krauthäupter, Krautköpfe, Totenköpfe, für einen Augenblick verwandelt sich rückblickend die Krautbastion von Lovosice in eine Schädelpyramide, die verladen als Schädelfracht Belgien erreicht hat und gleich der Barke des Gracchus auf dunklen Wassern ziellos weitertreibt. Auf dem dunklen Wasser rudert auch eine graue Gans, einmal ein Stück in die eine Richtung, dann in die andre wieder zurück. Nach einer Weile steigt sie ans Ufer und setzt sich nicht weitab von ihm ins Gras. Wie seinerzeit im Tirol der Anblick einer sich weit ins Feld hinauswagenden Hühnerschar oder später in Amsterdam der Anblick eines Entenpaars in einem breiten Graben und im Schutze einer Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers, ist ihm auch der Anblick der Gans sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß er nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das ihn manchmal so rührt. Was ihn so rührt, das ist der vertiefte Ausdruck für Deleuzes unbewußte Motive, und Sebalds Prosa ist zu lesen als eine dichte Abfolge solcher Rührungen unterschiedlicher Intensität, beglückend oder beängstigend oder beides in einem. Das beschworene Dunkel des Wassers findet einen auffälligen Kontrast, denn der grauen Gans vorausgegangen war, in diesem an sich heiligenarmen Buch des Dichters, den die Heiligen immer seltsam berührt haben, die Verwandlung in den Heiligen Julian, dessen Haar Feuer fängt auf dem Weg durch die Wüste. Die Verzauberung der Worte berührt ohne weiteres auch uns, und wenn wir mit Wasser- und Hühnervögeln oder Heiligen vielleicht bislang nicht viel im Sinn hatten, so sind wir jetzt verwandelt, den Weißkohl werden wir fortan mit anderen Augen betrachten und selbst noch Knöpfe aus Hirschhorn werden uns wichtiger sein als jemals gedacht.
Einige waren schon vorausgelaufen über die Brücke zu dem finsteren Tor, durch das er sich nicht hineintraute, geradeso wie er sich an anderer Stelle nicht getraut hatte, einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. Stattdessen nimmt er Platz im Gras und liest, in Gesellschaft der Gans, in einem Buch des Londoner Literaturwissenschaftlers Dan Jakobson, das ihn zunächst in die Diamantengruben von Kimberley, Südafrika, und dann zu den Festungsanlagen von Kaunas führt, in denen 1941 die deutsche Wehrmacht sich eingerichtet hatte, und wo in den folgenden drei Jahren mehr als dreißigtausend Menschen ums Leben gebracht wurden. Während in Terezín das Ghettomuseum in das Ornament der verschiedenen Besuchsstationen eingearbeitet wurde, wird die Mahnanlage in Willebroek substituiert durch die Lektüre eines Buches, das freilich durch seine Motivlage das Thema wachhält bis zum Schluß. In Mechelen langt Selysses wieder an, als es Abend wurde.
Deleuzes Ansatz läßt die Frage offen, wie die bewußten Themen, als ihr nicht gemäß, überhaupt in die Dichtung geraten, kennen die Dichter die Regel nicht? Niemand kennt sie besser als Sebald, er gibt an, sein erstes Prosawerk unter Schwindelgefühlen, also bei nicht klarem Kopf und mit eingeschränktem Bewußtsein geschrieben zu haben. Als seinen literarischen Lehrmeister nennt er den Hund, der anscheinend planlos über das Feld läuft und doch findet, was er sucht, dabei aber in seinem Kopf sicher keine Themen abhandelt.
Was hat Sebald veranlaßt, den Rat des Hundes mißachtend, das Holocaustthema anzugehen, welchen Platz zwischen schreibenden Zeitzeugen, für die angesichts des Übermaßes des Erlebten die Unterscheidung von gewollter und ungewollter Erinnerung, von bewußten und unbewußten Themen nicht gilt, auf der einen und Historikern auf der anderen Seite konnte er hoffen zu beanspruchen? Ein früher Kritiker hatte bemängelt, daß Sebald im Austerlitzbuch endlos lange nicht zur Sache kommt. Der Ernst des Themas vertrage sich nicht mit embroidery, formuliert ein Leser sein Unbehagen. Beide, der Kritiker und der Leser, sehen das Richtige von der falschen Seite her. Nicht die unbewußten Motive dekorieren das Thema, das Thema wird in das Ornament der Motive eingearbeitet, Ornamentalität dabei verstanden im anspruchsvollen Sinne Luhmanns als eine sich selbst dirigierende Formenkombination, ein Begriffsmanöver, das die ornamentalen Figuren in die unmittelbare Nähe der unbewußten Themen bei Deleuze bringt und ihnen klarere Kontur verleiht.
Es ist schwer, die Bedeutung eines Themas, das in der außerliterarischen und vor allem in der politischen Welt als das Thema schlechthin gilt, innerhalb eines literarischen Werks richtig einzuschätzen. Auf keinen Fall wird seine Stellung jemals unterschätzt und in so gut wie allen Fällen wird sie überschätzt. Die Erwartung des frühen Kritikers ging offenbar dahin, daß das THEMA alle unbewußten Themen und Motive verscheucht, aber auch Austerlitz ist nach der Weise des Hundes geschrieben. Die unheilvollen Wege erübrigen fast schon die Ankunft. In gewissem Sinne wird das THEMA durch die Einarbeitung in die Ornamentik zum Verschwinden gebracht, was bleibt ist der Blick auf den Rand der mehr als tausend Fuß tiefe Grube in der Erzählung Dan Jakobsons, auf der einen Seite das selbstverständliche Leben, auf der anderen Seite sein unausdenkbares Gegenteil. Ganz anders als die Verzauberung der Dichtung funktioniert die seit langen Jahren öffentlich veranstaltete Magie des Verschwindenlassen durch lückenloses humanistisches Wohlverhalten im europäischen Verein garniert mit im Jahresablauf immerwiederkehrenden Gedenkveranstaltungen an den Orten des Grauens. Das offiziell-kollektive Verhalten und das künstlerisch-individuelle Vorgehen stehen nicht auf der gleichen Ebene, aber Sebald hat verschiedentlich angedeutet, nicht zuletzt die immer unvermeidliche ästhetische Unerträglichkeit der öffentlichen Darbietung habe ihn zu Austerlitz provoziert. Seine wahren Leser lesen Sebald als Themenbeseitiger oder, richtiger, als Themenbefreier, denn er wirft die Themen nicht aus der Welt, sondern befreit sie durch die Kunst seiner Prosa vom Modus ihrer alltäglichen öffentlichen und medialen Behandlung. Obwohl die Welt dem Augenschein nach nicht verändert ist, befinden wir uns in einer ganz anderen Welt, genau diesen Befund hat Sebald sich von der Prosakunst erhofft, eine unmerkliche Verschiebung nur, und alles ist von Grund auf verändert.
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