Donnerstag, 10. Juli 2014

Sprachfülle

Lord Phi. Chandos

Die Gestalt des Major Le Strange wirkt auf den ersten Blick so vollendet und klar wie eine Einstrichzeichnung Picassos, eigentlich aber besteht sie nur aus Fragen und Rätseln. Florence Barnes hat er unter der ausdrücklichen Bedingung verdingt, daß sie die von ihr zubereiteten Speisen mit ihm gemeinsam aber wortlos einnimmt. Ist das Redeverbot nun allgemein oder beschränkt es sich auf die Essenszeit; kann sie sich abends erkundigen, nach welcher Speise ihm tags darauf der Sinn steht; wenn das Redeverbot, wie anzunehmen, durchgehend gilt, kann er seinerseits sich mit Worten an sie wenden; schreiben sie einander Zettel wie Jean Gabin und Simone Signoret; hat das Redeverbot, was Florence bestreitet, sich vielleicht im Verlauf der Jahre gelockert oder gar verflüchtigt; wohnt Florence Barnes ständig auf dem Gut, oder kommt sie nur für die Stunden ihrer Arbeit; hat sie Anspruch auf Jahresurlaub, und wie überbrückt Le Strange dann diese Zeit; hat Le Strange anderweitig Kontakt mit der Sprache, liest er das Tagblatt, verbringt er lange Stunden in der Bibliothek; verfolgt er Radio- und Fernsehsendungen; oder hat er das Sprachvermögen ganz eingebüßt?
Eine kürzere Sprachabstinenz kann sich nur vorteilhaft auf das Sprachvermögen auswirken. Alleinreisende sind in der Regel dankbar, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden und können sogar bereit sein, sich einem fremden Menschen rückhaltlos zu öffnen. Bei Austerlitz war es dabei erstaunlich, wie er seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie er sozusagen aus einer Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß der Erzähler Austerlitz ständig dolmetscht. Austerlitz ist ein vierhundertseitiges Fest der deutschen Sprache, bei dem, schaut man genau hin, so gut wie kein Deutsch gesprochen wird. Austerlitz und Selysses unterhalten sich zunächst in französischer Sprache und wechseln dann ins Englische. In seiner Jugend hat Austerlitz zudem die walisische Sprache, wie er sagt, im Fluge erlernt, ein Geschehnis, um das ihn jeder, der sich lustvoll mit dieser oder einer anderen keltischen Sprache plagt, nur beneiden kann. Nid dy fyd di ydi fy lle i: schwer zu glauben, daß sich Menschen am äußersten westlichen Rand unseres Kontinents tatsächlich auf diese wundersame Weise verständigen, man könnte meinen, wie sie uns mit diesen acht kurzen, sich verwirrend ähnlich sehenden Worten auch selbst versichern, ihre Welt sei nicht die unsere. In der tschechischen Sprache hat Austerlitz mühselig einen Begrüßungssatz einstudiert und mit unsicheren Schritten wie aufs Eis findet er, ausgehend von der Zahlenreihe, zurück in die ihm, wie er glaubte, unbekannte Sprache. Er, der während seiner walisischen Zeit auch im entferntesten nicht auf den Gedanken gekommen war, vom Tschechischen je berührt worden zu sein, verstand nun wie ein Tauber, dem durch ein Wunder das Gehör wieder aufging, so gut wie alles. Beides, das Französische und das Tschechische, hatte er in der frühen Prager Zeit von seiner französischen Kinderfrau erlernt. Auf den gemeinsamen Spaziergängen war das Französische die Umgangssprache gewesen, nachmittags wurde, über häusliche und kindliche Dinge sozusagen, tschechisch geredet. Die deutsche Sprache dringt nur von außen in diese Welt. Im Rundfunk konnte man mitanhören, wie in tausend, zehntausend, zwanzigtausend, tausend mal tausend und abertausend Wiederholungen mit heiserer Stimme der Reim hervorgestoßen wurde, der den Deutschen ihre eigene Größe und das ihnen schon bevorstehende Ende eintrichterte. Die Übersetzungsarbeit des Erzählers kann, nicht als Wiederherstellung der Unschuld der deutschen Sprache, die sie als Sprache nicht verlieren konnte, sondern als ihre Freilegung von Schutt und Unrat ihres Mißbrauchs und als erneute Sichtbarmachung ihres Glanzes angesehen werden. Das ist nicht eines der geringsten Anliegen des Buches, und der Erzähler geht dabei auf Wegen weit abseits von den gängigen Purifizierungs- verfahren.
An späterer Stelle berichtet Austerlitz, der Meister der ausgewogensten Sätze, von seinem zeitweiligen Sprachverlust. Es ist in diesem Zusammenhang auf die Beichte des Lord Chandos hingewiesen worden, und tatsächlich ergibt sich der Eindruck, als lasse Austerlitz, ähnlich wie Selysses zu Beginn von Ritorno in patria das Tiroler Land an der Seite von Thomas Bernhard durchmißt, sich ein Stück des Weges von Hofmannthal begleiten. Die beiden gehen aber längst nicht im Gleichschritt. Beiden gemein ist, daß sie von ihrem Sprachverlust in beredten Worten berichten, im Falle des Lord Chandos umso auffälliger, als er wortreich einen noch andauernden Zustand der Sprachlosigkeit deklariert: aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe, so er selbst. Aber berichtet er überhaupt von einem Sprachverlust und nicht vielmehr von einer Sprachwandlung, einer Sprachentsagung zum Zwecke der Sprachfindung? Lord Chandos ist Dichter, für ihn ist die Sprache nicht, wie bei Austerlitz, Mittel der Gedankenentwicklung, sondern Material der Wandlung in etwas anderes: Kunst. Kunst aber unterscheidet sich, wie der Theoretiker ausführt, vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gelte auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung.

Chandos durchlebt diesen dramatisch Augenblick, in dem Sprache als Gerät der Kommunikation und des Denkens vergehen muß, um als Stoff der Kunst wieder aufzuerstehen. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden - und alle diese Dinge findet man, Wort geworden, bei Sebald wieder. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt, sagt Selysses, als er im Tiroler Land nach dem Regen eine Schar Hühner weithinaus aufs Feld sich bewegen sieht. Die Prosa ist durchsetzt von solchen Dingen und Wesen. Da ist das Entenpaar im Schutz der niederhängenden Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers; da ist das Schiff, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon. Lord Chandos Volk der Ratten, dessen gellende Todesschreie er nach dem Auslegen des Giftes aus seinem Keller vernimmt, wird für Selysses von einem Hasen vertreten. Ich sehe den Rand des grauen Asphalts, jeden einzelnen Grashalm, sehe den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren, irgendwie gespaltenen, seltsam menschlichen Gesicht, und ich sehe in seinem im Fliehen rückwärtsgewandten, vor Furcht fast aus dem Kopf sich herausdrehenden Auge, mich selber, eins geworden mit ihm.
Der polyglotte Austerlitz, so die Überlegung, könnte sich, wenn es ihm die eine Sprache zerschlägt, in eine andere flüchten wie auf eine Insel, aber das ist nicht der Fall. Die Symptome des Sprachverlustes schließen an an eine breite Symptomatik eines depressiven Persönlichkeitsverfalls. Schon die geringste Aufgabe oder Verrichtung wie das Einräumen einer Schublade mit verschiedenen Dingen konnte seine Kräfte übersteigen. Es war, als habe sich etwas Stumpfsinniges und Verbohrtes in ihm festgesetzt, das nach und nach alles lahmlegen würde. Austerlitz ist ein Gedankenverfasser auf dem Gebiet der Architektur und beschreibt seinen Sprachverlust mit einer Metapher aus dem Bauwesen: Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, so glich er selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet, der nicht mehr weiß, wozu eine Haltestelle dient was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard oder eine Brücke ist. Chandos Gießkanne, seine auf dem Feld verlassene Egge, sein kleines Bauernhaus schließlich erlebt Austerlitz, wenn auch nicht in einer unmittelbaren Syntax zur Erzählung von der verlorenen Sprache, in seiner eigenen künstlerischen Disziplin: Die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur sind es die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen.

Für alle drei, Austerlitz, Chandos und den Erzähler, Selysses, führt der Weg zur künstlerischen Wahrheit über Reinigung, Rückzug, Melancholie und Askese. Was ist mit Le Strange? Da wir wenig wissen, können wir uns viel denken. Daß sein Sprachverzicht auf die Erlebnisse im Krieg und insbesondere bei der Befreiung von Bergen Belsen, oder dessen was noch zu befreien war, zurückgeht, ist wohl unbestritten. Steckt vielleicht auch hinter seinem Sprachverzicht eine Sprachwandlung? Wir sehen ihn nur in seltenen Augenblicken außerhalb seines Hauses, in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen, ständig umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. So wunderlich diese Auftritte sind, haben sie doch etwas Siegreiches, geradezu Triumphales an sich. Fast auch glaubt man seine möglicherweise lautlosen Selbstgespräche zu hören. Einmal im Sommer habe er in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. Vertrauter als im Erdloch ist uns der heilige Hieronymus im Gehäuse, umgeben von Büchern. Wenn der Dichter Dürers Melencolia Janine Rosalind Dakyns als Inbild zuschreibt, so hat er vielleicht nur versäumt oder es mit Absicht uns überlassen, in Dürers anderem Meisterstich, einem Abbild des Friedens und der domestizierten Schwermut, Le Strange als Hieronymus erkennen. Selbst die ausschließliche Beschäftigung mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit, sollte sie seinen Tagesverlauf bestimmen, wäre sprachlos schwer vorstellbar. Vielleicht aber vertieft Le Strange sich im Korrespondenzen aus vergangener Zeit, beispielsweise in diejenige der Madame de Sévigné, die schon für Proust so wichtig war, und entwirft Pläne zu einem Sévigné-Dictionnaire, in dem sämtliche in der Korrespondenz erwähnten Personen und Örtlichkeiten kommentiert werden. Vielleicht auch feilt er in der stillem Muße seines Landhauses an tastenden Übersetzungen alter Autoren, die er nicht drucken zu lassen gedenkt. Auszuschließen kann man, auch wenn sein Dasein nicht unfroh ist, eine Beschäftigung mit zukunftsfrohen Dingen.

Keine Kommentare: