Montag, 14. Juli 2014

Commander Dalgliesh

From Norfolk

Der nicht mit dem Verfassen von Kriminalromanen befaßte Bevölkerungsanteil ist stark rückläufig, noch schneller schrumpfen die nicht dem Kriminalfach zuzurechnenden Teile der Literatur in Relation zu den Morderzählungen. Dabei sind die Grenzen nicht klar, Dostojewski etwa stand immer schon im Verdacht, Kriminalromane geschrieben zu haben. In den Brüdern Karamasow und den Dämonen wird gemordet, in Schuld und Sühne zudem eine reguläre Ermittlung durchgeführt. Stifters Nachsommer, um dieses Beispiel zu nennen, befindet sich dagegen alles in allem auf der verbrechensfreien Seite. Mit Kriminalromanen haben wir es in jedem Fall zu tun, wenn ein serieller Ermittler - Holmes, Marlowe, Maigret, Rebus - in einer Reihe von Büchern immer wieder auftritt. Nicht selten ist der fiktive Ermittler zugleich der fiktive Verfasser, Verfasser von Kriminalromanen werden aber auch als Opfer oder Täter angetroffen. P.D. James' Ermittler Commander Dalgliesh weist die Besonderheit auf, daß er im Zweitberuf Lyriker ist und allem Anschein kein Kriminallyriker, schon weil dieses Genre außerhalb von Moritat und Bänkelsang bislang wenig entwickelt wurde. Dalgliesh betont immer wieder, daß die Verbrechensaufklärung als Erfahrungshintergrund für seine Wortkunst dient, daß er hier die entscheidenden Einsichten in Welt und Gesellschaft gewinnt. Wie im einzelnen aber sich das Verhältnis von Ermittlung und Dichtung gestaltet, wird nicht deutlich, die poetischen Erzeugnisse des Kriminalisten werden dem Leser vorenthalten. Wer alle Bücher der Autorin gelesen haben sollte, wüßte, ob es einen Roman gibt, der von Dalgliesh dem Dichter handelt und von Dalgliesh dem Ermittler nur nebenbei. Man könnte sich einen Plot denken mit Dalgliesh bei einer ausführlichen Lesung seiner Werke, an der wir teilnehmen dürfen, und sodann einem Mordopfer unter den Zuhörern. Ohne entsprechende Einsichtsmöglichkeiten bleibt der Eindruck, die Autorin habe selbst keine detaillierte Vorstellung vom dichterischen Schaffen ihres Protagonisten. Ermittler und Dichter: offenbar soll eine große Entfernung zwischen den beiden Polen angezeigt werden, die sich als große Nähe erweist.

Eine breite statistische Untersuchung könnte belegen, daß gottgläubige Menschen im Schnitt weniger Kriminalliteratur konsumieren als gottlose. Die Aufklärung eines Verbrechens ist die Wiederherstellung einer gestörten Ordnung, Gott aber der Garant einer unverbrüchlichen Ordnung, die von einem Verbrechen nur sehr oberflächlich berührt werden kann. Das bedeutet allerdings nicht, der Weltenlenker könne ganz ohne menschliche Unterstützung auskommen. In der mittelalterlichen Literatur waren die Ritter fortwährend zugunsten der Bedrückten und Beleidigten unterwegs auf einer Queste, lexikalisch unmittelbar der Enquête verwandt, wie Maigret sie kennt. Bei ihren Unternehmungen bekommen es die Rauhreiter mit allerhand Wundern und Zauberkräften zu tun. Im englischen Sprachraum wird der Kriminalroman noch heute als Mystery bezeichnet, und im speziellen Fall des Locked Room Mystery scheint die Lösung ohne göttliche oder doch Merlins Hilfe nicht erreichbar. Als es schließlich gelungen war, das Böse mehr oder weniger zu verbannen aus Arthurs Reich, tritt an die Stelle der individuellen, fallbezogenen Queste die große Recherche du Saint Graal, sozusagen der Übergang vom Kriminalroman zur Literatur an sich, die sich allerdings von der Religion noch nicht getrennt hatte. Ob sie das in der Folge dann in bündiger Weise getan hat, mag dahingestellt sein, jetzt, bei funktionierendem säkularem Rechtswesen und zahllosen, vom Publikum mit Eifer beobachteten Ermittlern in Buch und Film, die alle Ordnungsverstöße schwerwiegenderer Art zuverlässig beseitigen, hat es aber den Anschein, als könne der Herr sein Richter- und Lenkeramt ablegen und sich ganz der angestammten Milde seines Herzens überlassen.
Dalgliesh stammt aus einem Pfarrhaus in Norfolk und erweist sich damit sozusagen als Landsmann Sebalds; vielleicht ist der sogar sein Wohnungsnachfolger im Rectory. Das mildert die Überraschung aber nur wenig, wenn Sebald, verkleidet als Selysses, sich im Gespräch mit Luciana Michelotti als Kriminalschriftsteller ausweist, wird er doch verbreitet als Geistesverwandter Stifters angesehen, dessen Nachsommer hier gerade als Beispiel für nichtkriminalistische Literatur gewählt wurde. Die Verwandtschaft besteht aber nicht. Wer bei Stifter und Sebald einen ähnlichen Klang der Sätze vernimmt, ist taub, und naturgemäß geht es bei Sebald nicht darum, eine für vollkommen erachtete Welt aufwendig abzusichern und unverändert, mit gewaschenen Bäumen und wohlerzogener Vogelwelt an die nachfolgende Generation weiterzureichen: gleichsam die frühzeitig erstarrte oder doch extrem verlangsamte Form der immer noch populären, wenn auch inzwischen arg auf die Probe gestellten Erwartung, alles würde immer besser. Selysses begibt sich auf eine seltsame Queste, die ihn von Wien aus nach Oberitalien und von dort schließlich ins Allgäu führt. Er kann dabei an die Schwermut der Ritter anknüpfen aber nur sehr begrenzt an ihre Erfolge. Als seinen bedeutendsten Sieg erlebt er selbst die Erringung eines Cappuccinos im Bahnhofsbuffet von Venedig, eine gestörte Weltordnung kann dadurch nicht wieder ins Lot gebracht werden. Die Enquête, die kriminalistischen Ermittlungen verlaufen im Sande, das Verbrechen des Jägers Gracchus bleibt so dunkel wie es war. In den folgenden Büchern, bis hin zu Austerlitz, wird dann immer deutlicher: die Lage ist verzweifelt weit über das hinaus, was ein irgendein Held oder ein Ermittler zu richten vermöchte. Alle Handlungen draußen führen zu nichts. Wenn der Ermittler zum Dichter wird und der Dichter zum Ermittler muß etwas Unbekanntes in der Mitte liegen, nach dem beide suchen. Sie begeben sich auf die Suche nach dem Gral im Inneren des Sprachkunstwerkes, der Suche nach der künstlerische Wahrheit, ebenso verborgen und unsichtbar wie das heilige Gefäß.

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