Rückeroberte Blätter
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien: wenn es stimmt, was der Theoretiker dekretiert, weiß Selysses wenig über unsere Welt. Zu den neuen elektronischen Medien unterhält er keinen Kontakt. Kaum hat er es sich im Hotel in Southwold im grünen Samtfauteuil vor dem Fernseher eingerichtet, ist er auch schon in einen tiefen Schlaf gesunken, und als er Stunden später erwacht, zittert nur noch das Testbild in dem stummen Kasten. Immerhin liest er in den Zeitungen. In Venedig nimmt er Platz in einer der Bars an der Riva, trinkt einen Morgenkaffee und studiert den Gazzettino. Was ihm dabei ins Auge fällt, erfahren wir nicht. In Limone fällt ihm das Schreiben, das zunächst leicht von der Hand ging, schwerer und schwerer. Er ist daher erleichtert, als man ihm die Zeitungen bringt, die zu besorgen er gebeten hatte, englische und französische und auch zwei italienische, wiederum der Gazzettino und der Alto Adige. Er sieht sie alle durch, offenbar aber nicht gründlich, und studiert als letzten den Alto Adige. Im Kulturteil findet er dann doch noch die für ihn bestimmte Nachricht. Es war eine kurz gefaßte Vorschau auf ein Theaterstück, das tags darauf in Bozen aufgeführt werden sollte: Casanova al Castello di Dux. Die für ihn bestimmte Nachricht: nichts weist darauf hin, Selysses habe die Vorstellung in Bozen besucht, aber in Austerlitz wird uns der in Dux weilende, inzwischen pensionierte Womanizer wiederbegegnen. Der Besuch des Feuilletons ist aber durchaus nicht immer erfolgreich. Als der Dichter während einer Zugfahrt unbedacht einige Zeilen aus dem ratenweise in einer namhaften deutschen Zeitung abgedruckten Roman eines namhaften deutschen Literaten liest, muß er die sogleich aufkommende Übelkeit im Speisewagen mit einem Magenbitter bekämpfen.
Bevor er im Alto Adige auf Casanova stieß, hatte Selysses lange an einer Notiz herumgerätselt, deren Überschrift Fedeli a Riva auf ein Geheimnis hinzudeuten schien, die dann aber nur von einem Ehepaar namens Hilse aus Lünen bei Dortmund handelte, das seit 1957 jedes Jahr seinen Urlaub am Gardasee verbrachte: nach Geheimnissen sucht er also. Ratloses Staunen ruft im Kissinger Saale-Zeitung der Nachruf auf den Metzgermeister Michael Schultheis hervor, von dem es hieß, er habe sich großer Beliebtheit erfreut, sei dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen und habe seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet. In der Biblioteca Civica läßt Selysses sich die Veroneser Zeitungen aus den August- und Septemberwochen des Jahres 1913 reichen. Ob das Studium der alten Bände als Zeitungslektüre zu werten ist, muß dahingestellt sein, besteht das Wesen der Zeitung doch in der Unterrichtung über Neues. Von einer methodisch vorgehenden wissenschaftlichen Recherche kann aber auch nicht die Rede sein, der Forscher ist schon bald abgelenkt, ausgehend von Anzeigen und Reklamebildern spielen sich allerhand Stummfilmszenen vor ihm ab. In der Via Alberto Mario sah er diverse Herren auf und ab gehen, um dann mit einem blitzartigen Seitensprung im Eingang eines Hauses zu verschwinden, Mallatie della Pelle, das ist ihr Geheimnis, dann wieder sah er den Dott. Pesavento eine seiner schmerzlosen Extraktionen vollführen. Das blasse Antlitz der Patientin machte den Eindruck völliger Gelöstheit, dafür aber bog und wand sich ihr Leib in dem Behandlungssessel auf eine geradezu agonale Weise. - Selysses nimmt das Zeitungsstudium nicht so ernst, wie die Redakteure es sich wünschen würden. Die üblichen, dem verbesserten Wissen über unsere Welt verpflichteten, mit Analysen und Beurteilungen ausgestatteten Sparten eines Tagblattes wie Politik, Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik, Sport scheint er zu überblättern, auch das Feuilleton ist alles in allem nicht ergiebig. Er hofft auf Zufallsfunde, magische Nachrichten, die ausdrücklich für ihn allein bestimmt scheinen, geheime Botschaften unter den Faits divers, definiert als ein type d'événements qui ne sont classables dans aucune des rubriques qui composent habituellement un média d'actualité. Er geht dabei nach dem Aschenputtelprinzip vor, nur weniges gelangt ins Töpfchen, aber auch was im Kröpfchen verschwindet, der Schäferhund Rex, das ganz und gar geheimnislose Ehepaar aus Lünen, der Doktor Pesavento, ist in seiner Disparatheit und Bedeutungslosigkeit nicht ohne Nährwert für die Prosa. Im Töpfchen findet sich aber längst nicht nur der Casanova aus Bozen, der mit den Worten Trauer um einen beliebten Mitbürger überschriebene Nachruf im Anzeigeblatt, der ihm zugeschickt worden war, setzt die Erzählung Paul Bereyter überhaupt erst in Gang, die Erzählung Dr. Henry Selwyn andererseits schließt mit einem Blick in die in Zürich gekaufte Lausanner Zeitung, die Selysses, nachdem er sie durchgeblättert hatte, gerade schon beiseitelegen wollte. Ein Zeitungsbericht macht den Dichter mit dem Leben und dem Tod des Major George Wyndham Le Strange bekannt, eine der beeindruckendsten und rätselhaftesten Gestalten überhaupt im Werk.
Wenn es denn eine Wahrheit sein sollte, daß wir unser Wissen über die Welt den Massenmedien entnehmen, so ist es keine zeitlose anthropologische Wahrheit, wenn es denn solche Wahrheiten gibt. Die längste Zeit hat die Menschheit ohne Massenmedien verbracht und darunter nicht gelitten. Die Massenmedien sind Teil des uns als Segen anempfohlenen Verhängnisses der Neuzeit. Zuvor zielte der Erkenntniswille auf die Ewigkeit und den in ihr waltenden Herrn, der Rest ergab sich von selbst. Die Wende kam mit dem der Erfindung des dann die Entwicklung der Massenmedien ermöglichenden Buchdruck. Das handgeschriebene Buch hatte dieses Potential noch nicht. Der Einband von Die Realität der Massenmedien zeigt ein Bild von László Lakner, Für die Malerei eroberte Blätter, übermaltes Buchobjekt. Zu sehen ist ein bedrucktes Doppelblatt, nachträglich übertüncht, so daß die Schrift nur noch am oberen Rand zu lesen ist, ansonsten bleibt bloß der Eindruck wortloser Zeilen, die fatale, vom Buchdruck eingeleitete Entwicklung ist rückgängig gemacht. Aber nicht nur die Malerei übermalt die geschäftigen Worte, die Wortkunst nicht weniger: Kunst unterscheidet sich in jedem Fall vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gilt auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung. Die Wahl des Einbandbildes läßt vermuten, das Herz des Theoretikers schlage auf der Seite der Kunst, keineswegs fordert er auf zum verstärkten Frequentieren der Massenmedien. Auch der Theoretiker läßt es ja nicht bei den Wahrheiten der Massenmedien bewenden. Ihr Wissen erscheint ihm als Unwissen, der gesamte mediale Ertrag wird ihm zu Semantik, wie er es nennt, die ihren Charakter zutiefst ändert, wenn sie sich an den ihr verborgenen, von der Theorie freigelegten Gesellschaftsstrukturen bricht. Die entzauberte Welt erscheint wie neu verzaubert, allerdings ohne anheimelnde Momente für die Menschen. Dem das Wissen meidenden, in diesem Sinne ignoranten Dichter ist die Wahl seines Weges an den Medien vorbei also nicht vorzuwerfen.
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien: wenn es stimmt, was der Theoretiker dekretiert, weiß Selysses wenig über unsere Welt. Zu den neuen elektronischen Medien unterhält er keinen Kontakt. Kaum hat er es sich im Hotel in Southwold im grünen Samtfauteuil vor dem Fernseher eingerichtet, ist er auch schon in einen tiefen Schlaf gesunken, und als er Stunden später erwacht, zittert nur noch das Testbild in dem stummen Kasten. Immerhin liest er in den Zeitungen. In Venedig nimmt er Platz in einer der Bars an der Riva, trinkt einen Morgenkaffee und studiert den Gazzettino. Was ihm dabei ins Auge fällt, erfahren wir nicht. In Limone fällt ihm das Schreiben, das zunächst leicht von der Hand ging, schwerer und schwerer. Er ist daher erleichtert, als man ihm die Zeitungen bringt, die zu besorgen er gebeten hatte, englische und französische und auch zwei italienische, wiederum der Gazzettino und der Alto Adige. Er sieht sie alle durch, offenbar aber nicht gründlich, und studiert als letzten den Alto Adige. Im Kulturteil findet er dann doch noch die für ihn bestimmte Nachricht. Es war eine kurz gefaßte Vorschau auf ein Theaterstück, das tags darauf in Bozen aufgeführt werden sollte: Casanova al Castello di Dux. Die für ihn bestimmte Nachricht: nichts weist darauf hin, Selysses habe die Vorstellung in Bozen besucht, aber in Austerlitz wird uns der in Dux weilende, inzwischen pensionierte Womanizer wiederbegegnen. Der Besuch des Feuilletons ist aber durchaus nicht immer erfolgreich. Als der Dichter während einer Zugfahrt unbedacht einige Zeilen aus dem ratenweise in einer namhaften deutschen Zeitung abgedruckten Roman eines namhaften deutschen Literaten liest, muß er die sogleich aufkommende Übelkeit im Speisewagen mit einem Magenbitter bekämpfen.
Bevor er im Alto Adige auf Casanova stieß, hatte Selysses lange an einer Notiz herumgerätselt, deren Überschrift Fedeli a Riva auf ein Geheimnis hinzudeuten schien, die dann aber nur von einem Ehepaar namens Hilse aus Lünen bei Dortmund handelte, das seit 1957 jedes Jahr seinen Urlaub am Gardasee verbrachte: nach Geheimnissen sucht er also. Ratloses Staunen ruft im Kissinger Saale-Zeitung der Nachruf auf den Metzgermeister Michael Schultheis hervor, von dem es hieß, er habe sich großer Beliebtheit erfreut, sei dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen und habe seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet. In der Biblioteca Civica läßt Selysses sich die Veroneser Zeitungen aus den August- und Septemberwochen des Jahres 1913 reichen. Ob das Studium der alten Bände als Zeitungslektüre zu werten ist, muß dahingestellt sein, besteht das Wesen der Zeitung doch in der Unterrichtung über Neues. Von einer methodisch vorgehenden wissenschaftlichen Recherche kann aber auch nicht die Rede sein, der Forscher ist schon bald abgelenkt, ausgehend von Anzeigen und Reklamebildern spielen sich allerhand Stummfilmszenen vor ihm ab. In der Via Alberto Mario sah er diverse Herren auf und ab gehen, um dann mit einem blitzartigen Seitensprung im Eingang eines Hauses zu verschwinden, Mallatie della Pelle, das ist ihr Geheimnis, dann wieder sah er den Dott. Pesavento eine seiner schmerzlosen Extraktionen vollführen. Das blasse Antlitz der Patientin machte den Eindruck völliger Gelöstheit, dafür aber bog und wand sich ihr Leib in dem Behandlungssessel auf eine geradezu agonale Weise. - Selysses nimmt das Zeitungsstudium nicht so ernst, wie die Redakteure es sich wünschen würden. Die üblichen, dem verbesserten Wissen über unsere Welt verpflichteten, mit Analysen und Beurteilungen ausgestatteten Sparten eines Tagblattes wie Politik, Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik, Sport scheint er zu überblättern, auch das Feuilleton ist alles in allem nicht ergiebig. Er hofft auf Zufallsfunde, magische Nachrichten, die ausdrücklich für ihn allein bestimmt scheinen, geheime Botschaften unter den Faits divers, definiert als ein type d'événements qui ne sont classables dans aucune des rubriques qui composent habituellement un média d'actualité. Er geht dabei nach dem Aschenputtelprinzip vor, nur weniges gelangt ins Töpfchen, aber auch was im Kröpfchen verschwindet, der Schäferhund Rex, das ganz und gar geheimnislose Ehepaar aus Lünen, der Doktor Pesavento, ist in seiner Disparatheit und Bedeutungslosigkeit nicht ohne Nährwert für die Prosa. Im Töpfchen findet sich aber längst nicht nur der Casanova aus Bozen, der mit den Worten Trauer um einen beliebten Mitbürger überschriebene Nachruf im Anzeigeblatt, der ihm zugeschickt worden war, setzt die Erzählung Paul Bereyter überhaupt erst in Gang, die Erzählung Dr. Henry Selwyn andererseits schließt mit einem Blick in die in Zürich gekaufte Lausanner Zeitung, die Selysses, nachdem er sie durchgeblättert hatte, gerade schon beiseitelegen wollte. Ein Zeitungsbericht macht den Dichter mit dem Leben und dem Tod des Major George Wyndham Le Strange bekannt, eine der beeindruckendsten und rätselhaftesten Gestalten überhaupt im Werk.
Wenn es denn eine Wahrheit sein sollte, daß wir unser Wissen über die Welt den Massenmedien entnehmen, so ist es keine zeitlose anthropologische Wahrheit, wenn es denn solche Wahrheiten gibt. Die längste Zeit hat die Menschheit ohne Massenmedien verbracht und darunter nicht gelitten. Die Massenmedien sind Teil des uns als Segen anempfohlenen Verhängnisses der Neuzeit. Zuvor zielte der Erkenntniswille auf die Ewigkeit und den in ihr waltenden Herrn, der Rest ergab sich von selbst. Die Wende kam mit dem der Erfindung des dann die Entwicklung der Massenmedien ermöglichenden Buchdruck. Das handgeschriebene Buch hatte dieses Potential noch nicht. Der Einband von Die Realität der Massenmedien zeigt ein Bild von László Lakner, Für die Malerei eroberte Blätter, übermaltes Buchobjekt. Zu sehen ist ein bedrucktes Doppelblatt, nachträglich übertüncht, so daß die Schrift nur noch am oberen Rand zu lesen ist, ansonsten bleibt bloß der Eindruck wortloser Zeilen, die fatale, vom Buchdruck eingeleitete Entwicklung ist rückgängig gemacht. Aber nicht nur die Malerei übermalt die geschäftigen Worte, die Wortkunst nicht weniger: Kunst unterscheidet sich in jedem Fall vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gilt auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung. Die Wahl des Einbandbildes läßt vermuten, das Herz des Theoretikers schlage auf der Seite der Kunst, keineswegs fordert er auf zum verstärkten Frequentieren der Massenmedien. Auch der Theoretiker läßt es ja nicht bei den Wahrheiten der Massenmedien bewenden. Ihr Wissen erscheint ihm als Unwissen, der gesamte mediale Ertrag wird ihm zu Semantik, wie er es nennt, die ihren Charakter zutiefst ändert, wenn sie sich an den ihr verborgenen, von der Theorie freigelegten Gesellschaftsstrukturen bricht. Die entzauberte Welt erscheint wie neu verzaubert, allerdings ohne anheimelnde Momente für die Menschen. Dem das Wissen meidenden, in diesem Sinne ignoranten Dichter ist die Wahl seines Weges an den Medien vorbei also nicht vorzuwerfen.
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