Gwrachod
Daß der Dichter die Neger Neger und die Zigeuner Zigeuner nennt, die Irren Irre, mag man so oder so beurteilen. Wer will, kann sich den Klagen über mangelhaften Geschlechterproporz im Prosawerk und mehr noch in den Aufsätzen anschließen. Ernstlich Sorgen aber bereitet der wenig empathische Umgang mit älteren Frauen, ältere Frauen dabei unterschieden von gebildeten älteren Damen. Die Anforderungen an Bildung oder Einkommen sind gar nicht hoch, es reicht eigentlich schon, wenn man einen Namen hat, Vera Rysanova, Janine Rosalind Dakyns, Mathild Seelos oder Mme. Landau, und man gehört nicht zu der Gruppe der hier Gemeinten. Ausgesprochen lieblos ist die Behandlung der namenlosen Tiroler Weiber, die in den Bus einsteigen, der unterwegs von Innsbruck nach Oberjoch ist. In gewissen Abständen standen sie unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße. Es kam auf diese Weise bald eine ganze Zahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt vornehmlich, ja ausschließlich von dem nicht mehr enden wollenden Regen. Ganz anders ist die Wahrnehmung junger weiblicher Mitreisender wie der Franziskanerin und dem Mädchen in der bunten Jacke im Zug nach Mailand oder der Winterkönigin oder auch der sehr schwarzen Negerfrau, die als Reiseagentin in der Londoner U-Bahn tätig ist und mit der ein geheimes Einvernehmen besteht. Den Tirolerinnen ähnlich sind die Bewohnerinnen der Ortschaft W., die Selysses ausnahmslos fast als kleine, dunkle, dünnzopfige und böse Bäuerinnen und Mägde in Erinnerung hat. Dabei hat er offenbar nicht die junge Romana vor Augen, die eher schon Prousts paysannes belles et timides zuzurechnen wäre.
Auch die Mesnerin von Sant’Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, erweckt nicht in erkennbarer Weise die Sympathie des Dichters. Sie war, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, und einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor mir, dem einzigen Besucher, hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag verschwunden. Mit einer Regelmäßigkeit, als hätte sie den ewigen Umgang, kam sie mehrmals wieder hervor und entfernte sich ein Stück weit ins Dunkel hinein, um bald darauf, auf ihrer Umlaufbahn zurückkehrend, ihr Gehäuse wieder aufzusuchen. In Nürnberg holt eine ältere Frau, die ihn wohl wegen des alten Rucksacks für einen Obdachlosen gehalten hat, mit gichtigen Fingern aus ihrer Börse ein Markstück hervor und überreicht sie ihm vorsichtig als ein Almosen: eigentlich eine rührende Szene, die bei Austerlitz aber keine Anerkennung findet. Im Zug nach Kissingen sitzt nur wenig entfernt von Selysses eine alte Frau, die mit ihrem Federmesser, das sie stets aufgeklappt in der Hand behielt, Schnitz um Schnitz ihren Apfel zerteilte, die abgeschnittenen Stücke zerkiefelte und die Schale in ein Papiertuch spuckte, das sie auf dem Schoß liegen hatte. Zwar stellt sie eine spürsame Erleichterung dar gegenüber dem Selysses unmittelbar gegenübersitzenden, rundheraus ekelhaften Mann, bei dem unklar war, ob seine Körper- und Geistesdeformation ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen: als liebenswert erscheint aber auch die Alte nicht.
In einer belgischen Gaststätte wärmt Selysses sich ein wenig auf. Am anderen Ende der Stube saß eine bucklige Rentnerin in dem trüben, durch die belgischen Butzenscheiben einfallenden Licht. Sie trug eine wollene Haube, einen Wintermantel aus dickem Noppenstoff und fingerlose Handschuhe. Die Bedienerin brachte ihr einen Teller mit einem großen Stück Fleisch. Als sei sie eine Hexengestalt der Brüder Grimm, schaute die Alte es eine Weile an, dann holte sie aus ihrer Handtasche ein scharfes Messerchen mit einem Holzgriff und begann, es aufzuschneiden. Ihr Geburtsdatum mochte in etwa übereinstimmen mit der Fertigstellung der Kongobahn, für die Abertausende von Schwarzen ihr Leben lassen mußten.
Vielleicht deutlicher noch als die anderen, läßt die Belgierin erkennen, was literarisch geschieht. Die Lebensspanne der Fleischesserin berührt die Zeit des großen belgischen Verbrechens im Kongo. Wenn auch selbst unschuldig, lebt sie doch im Schatten der Vergangenheit. Die Gnade der späten Geburt wird nicht gewährt. Die zahllosen Buckligen und Irren, die der Dichter in Brüssel erblickt, sind nicht durchweg schuldige Greise, die einzige Gerechte, die er im Frankenland findet, ist eine Türkin. Der verborgene Ton ist alttestamentarisch, die Kinder büßen für die Verbrechen der Eltern. Eine weitere, eigentlich deklassierte Literaturform tritt hinzu, das Märchen. Männer, Leopold II, Hitler, sind die Schuldigen, die alten Frauen in ihrem Land Frauen sind verwunschen zu Hexen. Seltsamerweise benutzt die Belgierin nicht das üblicherweise in Gastwirtschaften gereichte Besteck, sondern ein eigenes scharfes Messerchen, vielleicht hat sie auch das Fleisch, das sie so aufmerksam mustert, mitgebracht, vielleicht ist es der gemästete und zubereitete Hänsel, der ihr gereicht wird, wie immer dessen Identität dann zu bestimmen wäre. Der Almosen der Nürnbergerin kann nichts ausrichten gegen die Schuld, die über der Stadt liegt, und wer, wenn nicht eine Hexe oder doch eine Hexenähnliche im ewigen Umgang, könnte über Giottos Engeln wachen, die seit Jahrhunderten unser Unheil beweinen. Auf der engeren Heimat des Dichters und dem angrenzenden Tirol liegt ohnehin ein Fluch. Hexen haben keinen Namen, keine Persönlichkeit. Ein Tiroler Weib ist wie das andere, die eine dünnzopfige böse Bäuerin nicht unterscheidbar von der anderen. Gäbe sich die Mesnerin als Signora Gianna Falieri zu erkennen und die Belgierin als Mme Louise Simenon, sie würden aufwachen und wären erlöst.
Auch die Mesnerin von Sant’Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, erweckt nicht in erkennbarer Weise die Sympathie des Dichters. Sie war, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, und einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor mir, dem einzigen Besucher, hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag verschwunden. Mit einer Regelmäßigkeit, als hätte sie den ewigen Umgang, kam sie mehrmals wieder hervor und entfernte sich ein Stück weit ins Dunkel hinein, um bald darauf, auf ihrer Umlaufbahn zurückkehrend, ihr Gehäuse wieder aufzusuchen. In Nürnberg holt eine ältere Frau, die ihn wohl wegen des alten Rucksacks für einen Obdachlosen gehalten hat, mit gichtigen Fingern aus ihrer Börse ein Markstück hervor und überreicht sie ihm vorsichtig als ein Almosen: eigentlich eine rührende Szene, die bei Austerlitz aber keine Anerkennung findet. Im Zug nach Kissingen sitzt nur wenig entfernt von Selysses eine alte Frau, die mit ihrem Federmesser, das sie stets aufgeklappt in der Hand behielt, Schnitz um Schnitz ihren Apfel zerteilte, die abgeschnittenen Stücke zerkiefelte und die Schale in ein Papiertuch spuckte, das sie auf dem Schoß liegen hatte. Zwar stellt sie eine spürsame Erleichterung dar gegenüber dem Selysses unmittelbar gegenübersitzenden, rundheraus ekelhaften Mann, bei dem unklar war, ob seine Körper- und Geistesdeformation ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen: als liebenswert erscheint aber auch die Alte nicht.
In einer belgischen Gaststätte wärmt Selysses sich ein wenig auf. Am anderen Ende der Stube saß eine bucklige Rentnerin in dem trüben, durch die belgischen Butzenscheiben einfallenden Licht. Sie trug eine wollene Haube, einen Wintermantel aus dickem Noppenstoff und fingerlose Handschuhe. Die Bedienerin brachte ihr einen Teller mit einem großen Stück Fleisch. Als sei sie eine Hexengestalt der Brüder Grimm, schaute die Alte es eine Weile an, dann holte sie aus ihrer Handtasche ein scharfes Messerchen mit einem Holzgriff und begann, es aufzuschneiden. Ihr Geburtsdatum mochte in etwa übereinstimmen mit der Fertigstellung der Kongobahn, für die Abertausende von Schwarzen ihr Leben lassen mußten.
Vielleicht deutlicher noch als die anderen, läßt die Belgierin erkennen, was literarisch geschieht. Die Lebensspanne der Fleischesserin berührt die Zeit des großen belgischen Verbrechens im Kongo. Wenn auch selbst unschuldig, lebt sie doch im Schatten der Vergangenheit. Die Gnade der späten Geburt wird nicht gewährt. Die zahllosen Buckligen und Irren, die der Dichter in Brüssel erblickt, sind nicht durchweg schuldige Greise, die einzige Gerechte, die er im Frankenland findet, ist eine Türkin. Der verborgene Ton ist alttestamentarisch, die Kinder büßen für die Verbrechen der Eltern. Eine weitere, eigentlich deklassierte Literaturform tritt hinzu, das Märchen. Männer, Leopold II, Hitler, sind die Schuldigen, die alten Frauen in ihrem Land Frauen sind verwunschen zu Hexen. Seltsamerweise benutzt die Belgierin nicht das üblicherweise in Gastwirtschaften gereichte Besteck, sondern ein eigenes scharfes Messerchen, vielleicht hat sie auch das Fleisch, das sie so aufmerksam mustert, mitgebracht, vielleicht ist es der gemästete und zubereitete Hänsel, der ihr gereicht wird, wie immer dessen Identität dann zu bestimmen wäre. Der Almosen der Nürnbergerin kann nichts ausrichten gegen die Schuld, die über der Stadt liegt, und wer, wenn nicht eine Hexe oder doch eine Hexenähnliche im ewigen Umgang, könnte über Giottos Engeln wachen, die seit Jahrhunderten unser Unheil beweinen. Auf der engeren Heimat des Dichters und dem angrenzenden Tirol liegt ohnehin ein Fluch. Hexen haben keinen Namen, keine Persönlichkeit. Ein Tiroler Weib ist wie das andere, die eine dünnzopfige böse Bäuerin nicht unterscheidbar von der anderen. Gäbe sich die Mesnerin als Signora Gianna Falieri zu erkennen und die Belgierin als Mme Louise Simenon, sie würden aufwachen und wären erlöst.
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