Juste distance
Der Plot verschiedener Bücher von P.D. James beruht auf einer Führungsperson männlicher oder weiblicher Art mit derart rüdem Benehmen im beruflichen wie auch im privaten Umfeld, daß sie nach einem für das Genre auffällig umfänglichen Vorlauf von achtzig bis hundertundfünfzig Seiten gewaltsam aus dem Leben gerufen wird; dem Ermittlerteam um Commander Dalgliesh obliegt es dann, während weiterer dreihundert Seiten herauszufinden, wer, beruflich oder privat motiviert, sich ein Herz gefaßt hatte. Selysses, soviel läßt sich wohl erkennen, übt den Beruf eines Hochschullehrers aus, nach der überkommenen deutschen Universitätsvorstellung eine mehr oder weniger vorgesetztenfreie Daseinsweise. Aber, kaum etwas ist so unwandelbar wie die Bosheit, mit der Literaten und auch Wissenschaftler hinterrücks übereinander reden. Bei unblutiger Bosheit muß es nicht bleiben, in einigen Büchern von Dorothy Sayers oder Colin Dexter dezimieren die Dons diverser Oxfordcolleges einander so unnachsichtig, daß der Lehrbetrieb ernstlich in Gefahr gerät. Wenn die Menschen auf das Gleiche schauen und sich vergleichen, sei es in der Vertikalen, also in der Hierarchie, oder auch in der Horizontalen, bahnt sich oft Böses an, und auch die von Luhmann diagnostizierte friedensstiftende Kraft von Organisationen hat ihre Grenzen. Ordnet man die Vertikale der traditionellen Gesellschaft und die Horizontale der modernen, als demokratisch beschriebenen zu, so hat sich, was die Gewaltbereitschaft anbelangt, eine Besserung nicht ergeben.
Bevor er zu seiner englischen Wallfahrt aufbricht, verabschiedet sich der mutmaßliche Hochschullehrer Selysses von zwei verstorbenen Kollegen. Beider Tod ist in keiner Weise suspicious, auffällig ist aber, daß im gesamten Werk den beiden toten kein einziger lebender Don zur Seite steht, von Selysses selbst abgesehen. Um Michael Parkinson und Janine Rosalind Dakyns nahe zu sein, wartet Selysses die größte Entfernung ab, den Tod. Weitere vergleichbare horizontale Gruppen treten im Werk nicht auf, auch keine vertikalen. In der goldenden Taube zu Verona wird Selysses vom an Ferdinand Bruckner erinnernden Portier und der Geschäftsführerin in Empfang genommen, in der Realität des Hotels wird ein hierarchisches Verhältnis sichtbar, das aber keine Auswirkungen auf die Erzählung hat. Am Feierabend rettet sich Salvatore Altamura aus der Redaktion in die Prosa wie auf eine Insel. Berufliche Spannungen vertikaler oder horizontaler Art könnten sich andeuten, aber nun ist er bereits auf seiner Insel, die sprichwörtlich ist für einen möglichst großen Abstand zwischen den Menschen. Auch die Familie, gemeinhin bekannt als Keimzelle der Gesellschaft und des Verbrechens zugleich, scheidet aus als kriminalistischer Ursprungsort. Wir stoßen nur auf eine intakte Kernfamilie, Vater Mutter, Kind, die Michelottis in Limone. Zu Gesicht bekommen wir fast nur Luciana, die, an sich resolut und lebenstüchtig, einen schwermütig, wo nicht gar untröstlichen Eindruck macht. Unmerklich scheint sie sich zu Selysses hingezogen zu fühlen, und einmal ist es dem gar gewesen, als spürte er ihre Hand auf seiner Schulter. Die bigamistische Trauung vor dem Postenkommandanten währt dann aber nur den Hauch eines Augenblicks, sie steigt ins Auto, legt den Gang ein und fährt davon, der denkbare Anlaß für eine Bluttat hat sich verflüchtigt.
Man trifft im Werk nur amorphe, für den Augenblick offenbar gleichgesinnte Menschenmassen, vorzugsweise Touristen, und Einzelne, dem Verbrechen scheint mit der vertikal oder horizontal geordneten Gruppe sowie dem Familienverband der Nährboden entzogen, und doch erläutert Selysses der an seiner Arbeit interessierten Luciana Michelotti, bei dem Buch, an dem er schreibt und das wir lesen, handele es sich um einen Kriminalroman. Die kriminalistische Aufgabe besteht nicht darin, den Täter, sondern das Verbrechen zu finden. Auf der ersten Reise fühlt sich Selysses von zwei ihm offensichtlich feindlich gesonnenen Augenpaaren verfolgt, zu einer strafrechtlich relevanten Tat aber kommt es nicht. Der räuberische, erfolgreich abgewehrte Angriff in Mailand kann die Klassifizierung als Kriminalroman nicht rechtfertigen, auch nicht die Beschäftigung mit einer von Sciascia erzählten Kriminalgeschichte oder das Interesse an den Untaten der Gruppe Ludwig. Was bleibt ist das ungeklärte mythische Verbrechen des Jägers Gracchus auf der einen und das sich anbahnende Menschheitsverbrechen des Jahres 1913 auf 1914, als die Zeit sich wendete, auf der anderen Seite; besteht ein geheimer Zusammenhang?
Der Abstand zwischen den Lebenden wird vergrößert, der zu den Toten und Untoten verringert. Die Welt scheint gereinigt von den Verbrechen auf dem Niveau des klassischen Kriminalroman, ein Raum der Friedfertigkeit tut sich auf, eine aufgeräumte Welt, wenn die Schwindelgefühle nachlassen, eine kurze Weile wohl nur, für die wir dankbar sind. Vom Horizont her aber drohen die großen Verbrechen im genozidalen Maßstab, die zurückreichen bis zu den Heimlichkeiten vom Anfang der Welt. Nous vivons dans un monde où nous sommes toujours trop près ou trop loin les un des autres, toujours indifférents ou possédés mais jamais à juste distance. Ce point indivisible, qui soit le véritable lieu, n'est autre que la charité. Elle permet d'envisager l'autre à la juste distance: so das gemeinsame Urteil von Pascal und Girard. In der Vertikalen sind wir uns tendentiell zu fern, in der Horizontalen tendentiell zu nah. Charité wäre mit Barmherzigkeit zu übersetzen, wenn man dem Wort das Gefälle, den Verdacht der Herablassung nimmt. Der nächstliegende nicht asymmetrische Begriff wäre der der Gnade, dafür aber bedarf es eines unsichtbaren Dritten, eines fernen Mediators.
Die juste distance, das ist für Sebald weit weg von zu nah und nur einen Schritt entfernt von zu fern, meilenweit aber von der Gleichgültigkeit. Bereyter und Adelwarth sind in die Nähe gerückte Tote, Selwyn und Aurach werden zu ihrem Tode hin begleitet, ohne daß sie sich entfernten, Austerlitz und Selysses begegnen sich oft erst nach viele Jahren wieder. Man mag sie alle, die Ausgewanderten, als Freunde beschreiben, wenn man dieses Wort im Umfeld von Barmherzigkeit oder Gnade ansiedelt. Die lebendige Freundschaft Selysses' mit Austerlitz, das ist das Neue, ist mit dem Ende der Erzählung nicht beendet, die beiden mögen sich noch weitere Male treffen, ohne das wir davon erfahren. Verschiedene Bestseller und Kriminalromanserien sind von anderen fortgeschrieben worden, das erwarten und wünschen wir im Falle von Austerlitz nicht.
Der Plot verschiedener Bücher von P.D. James beruht auf einer Führungsperson männlicher oder weiblicher Art mit derart rüdem Benehmen im beruflichen wie auch im privaten Umfeld, daß sie nach einem für das Genre auffällig umfänglichen Vorlauf von achtzig bis hundertundfünfzig Seiten gewaltsam aus dem Leben gerufen wird; dem Ermittlerteam um Commander Dalgliesh obliegt es dann, während weiterer dreihundert Seiten herauszufinden, wer, beruflich oder privat motiviert, sich ein Herz gefaßt hatte. Selysses, soviel läßt sich wohl erkennen, übt den Beruf eines Hochschullehrers aus, nach der überkommenen deutschen Universitätsvorstellung eine mehr oder weniger vorgesetztenfreie Daseinsweise. Aber, kaum etwas ist so unwandelbar wie die Bosheit, mit der Literaten und auch Wissenschaftler hinterrücks übereinander reden. Bei unblutiger Bosheit muß es nicht bleiben, in einigen Büchern von Dorothy Sayers oder Colin Dexter dezimieren die Dons diverser Oxfordcolleges einander so unnachsichtig, daß der Lehrbetrieb ernstlich in Gefahr gerät. Wenn die Menschen auf das Gleiche schauen und sich vergleichen, sei es in der Vertikalen, also in der Hierarchie, oder auch in der Horizontalen, bahnt sich oft Böses an, und auch die von Luhmann diagnostizierte friedensstiftende Kraft von Organisationen hat ihre Grenzen. Ordnet man die Vertikale der traditionellen Gesellschaft und die Horizontale der modernen, als demokratisch beschriebenen zu, so hat sich, was die Gewaltbereitschaft anbelangt, eine Besserung nicht ergeben.
Bevor er zu seiner englischen Wallfahrt aufbricht, verabschiedet sich der mutmaßliche Hochschullehrer Selysses von zwei verstorbenen Kollegen. Beider Tod ist in keiner Weise suspicious, auffällig ist aber, daß im gesamten Werk den beiden toten kein einziger lebender Don zur Seite steht, von Selysses selbst abgesehen. Um Michael Parkinson und Janine Rosalind Dakyns nahe zu sein, wartet Selysses die größte Entfernung ab, den Tod. Weitere vergleichbare horizontale Gruppen treten im Werk nicht auf, auch keine vertikalen. In der goldenden Taube zu Verona wird Selysses vom an Ferdinand Bruckner erinnernden Portier und der Geschäftsführerin in Empfang genommen, in der Realität des Hotels wird ein hierarchisches Verhältnis sichtbar, das aber keine Auswirkungen auf die Erzählung hat. Am Feierabend rettet sich Salvatore Altamura aus der Redaktion in die Prosa wie auf eine Insel. Berufliche Spannungen vertikaler oder horizontaler Art könnten sich andeuten, aber nun ist er bereits auf seiner Insel, die sprichwörtlich ist für einen möglichst großen Abstand zwischen den Menschen. Auch die Familie, gemeinhin bekannt als Keimzelle der Gesellschaft und des Verbrechens zugleich, scheidet aus als kriminalistischer Ursprungsort. Wir stoßen nur auf eine intakte Kernfamilie, Vater Mutter, Kind, die Michelottis in Limone. Zu Gesicht bekommen wir fast nur Luciana, die, an sich resolut und lebenstüchtig, einen schwermütig, wo nicht gar untröstlichen Eindruck macht. Unmerklich scheint sie sich zu Selysses hingezogen zu fühlen, und einmal ist es dem gar gewesen, als spürte er ihre Hand auf seiner Schulter. Die bigamistische Trauung vor dem Postenkommandanten währt dann aber nur den Hauch eines Augenblicks, sie steigt ins Auto, legt den Gang ein und fährt davon, der denkbare Anlaß für eine Bluttat hat sich verflüchtigt.
Man trifft im Werk nur amorphe, für den Augenblick offenbar gleichgesinnte Menschenmassen, vorzugsweise Touristen, und Einzelne, dem Verbrechen scheint mit der vertikal oder horizontal geordneten Gruppe sowie dem Familienverband der Nährboden entzogen, und doch erläutert Selysses der an seiner Arbeit interessierten Luciana Michelotti, bei dem Buch, an dem er schreibt und das wir lesen, handele es sich um einen Kriminalroman. Die kriminalistische Aufgabe besteht nicht darin, den Täter, sondern das Verbrechen zu finden. Auf der ersten Reise fühlt sich Selysses von zwei ihm offensichtlich feindlich gesonnenen Augenpaaren verfolgt, zu einer strafrechtlich relevanten Tat aber kommt es nicht. Der räuberische, erfolgreich abgewehrte Angriff in Mailand kann die Klassifizierung als Kriminalroman nicht rechtfertigen, auch nicht die Beschäftigung mit einer von Sciascia erzählten Kriminalgeschichte oder das Interesse an den Untaten der Gruppe Ludwig. Was bleibt ist das ungeklärte mythische Verbrechen des Jägers Gracchus auf der einen und das sich anbahnende Menschheitsverbrechen des Jahres 1913 auf 1914, als die Zeit sich wendete, auf der anderen Seite; besteht ein geheimer Zusammenhang?
Der Abstand zwischen den Lebenden wird vergrößert, der zu den Toten und Untoten verringert. Die Welt scheint gereinigt von den Verbrechen auf dem Niveau des klassischen Kriminalroman, ein Raum der Friedfertigkeit tut sich auf, eine aufgeräumte Welt, wenn die Schwindelgefühle nachlassen, eine kurze Weile wohl nur, für die wir dankbar sind. Vom Horizont her aber drohen die großen Verbrechen im genozidalen Maßstab, die zurückreichen bis zu den Heimlichkeiten vom Anfang der Welt. Nous vivons dans un monde où nous sommes toujours trop près ou trop loin les un des autres, toujours indifférents ou possédés mais jamais à juste distance. Ce point indivisible, qui soit le véritable lieu, n'est autre que la charité. Elle permet d'envisager l'autre à la juste distance: so das gemeinsame Urteil von Pascal und Girard. In der Vertikalen sind wir uns tendentiell zu fern, in der Horizontalen tendentiell zu nah. Charité wäre mit Barmherzigkeit zu übersetzen, wenn man dem Wort das Gefälle, den Verdacht der Herablassung nimmt. Der nächstliegende nicht asymmetrische Begriff wäre der der Gnade, dafür aber bedarf es eines unsichtbaren Dritten, eines fernen Mediators.
Die juste distance, das ist für Sebald weit weg von zu nah und nur einen Schritt entfernt von zu fern, meilenweit aber von der Gleichgültigkeit. Bereyter und Adelwarth sind in die Nähe gerückte Tote, Selwyn und Aurach werden zu ihrem Tode hin begleitet, ohne daß sie sich entfernten, Austerlitz und Selysses begegnen sich oft erst nach viele Jahren wieder. Man mag sie alle, die Ausgewanderten, als Freunde beschreiben, wenn man dieses Wort im Umfeld von Barmherzigkeit oder Gnade ansiedelt. Die lebendige Freundschaft Selysses' mit Austerlitz, das ist das Neue, ist mit dem Ende der Erzählung nicht beendet, die beiden mögen sich noch weitere Male treffen, ohne das wir davon erfahren. Verschiedene Bestseller und Kriminalromanserien sind von anderen fortgeschrieben worden, das erwarten und wünschen wir im Falle von Austerlitz nicht.
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