Wacholderduft bei Delphi
Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth reisen über Athen und Konstantinopel, heute Istanbul, nach Jerusalem. Athen und Jerusalem, Griechen- und Judentum, bilden nach verbreiteter Überzeugung die Zwillingswiege der abendländischen Kultur, im Christentum, das die abendländischen Kultur über zweitausend Jahre nahezu konkurrenzlos bestimmt hat, sind Jerusalem und Athen eine unentwirrbare Verbindung eingegangen. Die Idee, auch das ebenfalls bereiste Istanbul sei Teil Europas, liegt derzeit angesichts der Umtriebe des sogenannten Islamischen Staats auf Eis. Erich Auerbach betrachtet die Wiege der europäischen Erzählkunst und legt in Die Narbe des Odysseus, dem Eingangskapitel seines Buches Mimesis, bei der Besprechung einmal eines Abschnitts aus der Odyssee, dem der Wiedererkennung des Odysseus durch die Magd, und zum anderen des Isaakopfers im Alten Testament zwei grundverschiedene Weisen der Realitätserfassung frei.
Bei Homer ist alles vollkommen klar, kein Umriß verschwimmt. Auch für wohlgeordnete, jedes Gelenk zeigende, gleichmäßig beleuchtende Beschreibung der Geräte, Handreichungen und Gesten ist Raum und Zeit reichlich vorhanden; selbst in dem dramatischen Augenblick des Wiedererkennens wird nicht versäumt, dem Leser mitzuteilen, daß es die rechte Hand ist, mit der Odysseus die Alte an der Kehle faßt. Klar umschrieben, hell und gleichmäßig belichtet, stehen oder bewegen sich die Menschen und Dinge innerhalb eines überschaubaren Raumes: und nicht minder klar, restlos ausgedrückt, auch im Affekt wohlgeordnet sind die Gefühle und Gedanken. Ganz anders der Elohist. Gott gibt einen Befehl, und es beginnt die Erzählung selbst, ohne jede Einschaltung, in wenigen Hauptsätzen, deren syntaktische Verbindung miteinander äußerst arm ist, rollt sie ab. Undenkbar wäre es hier, ein Gerät, das gebraucht wird, eine Landschaft, die man durchquert, zu beschreiben, das Aussehen der Geräte oder ihre Brauchbarkeit rühmend zu schildern, nicht einmal ein Adjektiv ertragen sie, es sind Knechte, Esel, Holz und Messer, weiter nichts. - Nicht leicht lassen sich größere Stilgegensätze vorstellen als zwischen diesen beiden, gleichermaßen antiken und epischen Texten. Auf der einen Seite ausgeformte, gleichmäßig belichtete, orts- und zeitbestimmte, lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen. Auf der anderen Seite wird nur dasjenige an den Erscheinungen herausgearbeitet, was für das Ziel der Handlung wichtig ist, der Rest bleibt im Dunkel: Rembrandt als der naturgemäße Maler des Alten Testaments. Die entscheidenden Höhepunkte der Handlung werden allein betont, das Dazwischenliegende ist wesenlos. Die Handlung wiederum ist nur Ausdruck der in ihrem Hintergrund verborgenen Wahrheit Gottes.
Wenn man also annehmen wollte, die europäische Erzählkunst sei aus diesen beiden grundverschiedenen Ansätzen hervorgegangen, so sicher nicht in der Weise, daß die beiden Stränge sich getrennt voneinander ein jeder in seiner Richtung weiterentwickelt hätten, sie haben sich unendlich oft gekreuzt und auf endlose Weise miteinander verwoben, und doch würde man, denkt man etwa an die zwei großen Russen des neunzehnten Jahrhunderts, ohne viel Umstände Dostojewski Jerusalem und Tolstoi Athen zuordnen. Bei Sebald liegen die Dinge verzwickter. Die ständigen Wanderbewegungen seines Erzählers haben uns veranlaßt, ihn, erinnernd an den griechischen Reisenden, Selysses zu nennen. Was der Dichter Pisanello abliest, gilt auch für ihn selbst: Allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt wird dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen - auch das, möchte man meinen, ein deutlicher Fingerzeig hin zur griechischen Seite. Die ebenso reichen wie schwerelosen Sätze vermitteln den Eindruck, alles sei in ihnen restlos ausgedrückt. Die Situationen sind immer exakt orts- und zeitbestimmt, aber bald fragt man sich, warum eigentlich, die Exaktheit verliert sich ohne Spuren zu hinterlassen. Kein gleichgültiger Blick geht über eine namen- und gestaltlose Landschaft hinweg, über eine nicht weiter bestimmte selva oscura etwa. Hier stehen die astlosen, gut siebzig- bis achtzigjährigen Fichten die Abhänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft ein wenig in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise, wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. Keinen Laut gab es in dem Tobel, als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei nichts. Das ist reich in der Erfassung, kein Gedanke aber, es sei alles, hinter den lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen gäbe es nicht einen verborgenen Hintergrund, der immer wieder durch die geschilderte Realität bricht. Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt. Ja, was rührt uns bei der Betrachtung der Welt, was verbirgt sich hinter den Erscheinungen.
Selysses geht unter ständigen Schwindelgefühle durch eine, wie die geregelte Satzfolge suggeriert, völlig aufgeräumte Welt, in einem fortwährenden Wechsel aber von Ausleuchten des Vordergrunds und Erahnen des Verborgenen. Auch bei Dostojewski ist unter der Leitung des Elohisten Homer am Werke, bei Tolstoi unter der Leitung Homers der Elohist. Hier aber scheint es sich fast schon um ein explizites und extremes Spiel mit den beiden Formansätzen zu handeln. Auf der Elohistenseite ist es naturgemäß so, daß das immer wieder durchscheinende Verborgene nicht auf eine souveräne Wahrheit verweist, die Gotteswelt liegt in Trümmern, der heilige Franziskus treibt mit dem Gesicht nach unten im Sumpf, Rembrandt tritt nicht als Schilderer des göttlichen Versprechens auf, als Teilnehmer an der Prosektur des Dr. Tulp sieht er, bereits zwei Schritte weiter, das Scheitern der Neuzeit.
Von Athen und Griechenland nehmen Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth auf ihrer Reise kaum Notiz, kaum glaube ich, daß ich derselbe Mensch und in Griechenland bin, aber ab und zu weht der Geruch der Wacholderbäume zu uns herüber, und so ist es wohl wahr; Jerusalem ist, so scheint es, eine bittere Enttäuschung, die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit, in den Straßen große Mengen von Unrat, on marche sur des merdes; Istanbul kann sich in mancher Beziehung sehen lassen. Man müßte darüber nachdenken.
Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth reisen über Athen und Konstantinopel, heute Istanbul, nach Jerusalem. Athen und Jerusalem, Griechen- und Judentum, bilden nach verbreiteter Überzeugung die Zwillingswiege der abendländischen Kultur, im Christentum, das die abendländischen Kultur über zweitausend Jahre nahezu konkurrenzlos bestimmt hat, sind Jerusalem und Athen eine unentwirrbare Verbindung eingegangen. Die Idee, auch das ebenfalls bereiste Istanbul sei Teil Europas, liegt derzeit angesichts der Umtriebe des sogenannten Islamischen Staats auf Eis. Erich Auerbach betrachtet die Wiege der europäischen Erzählkunst und legt in Die Narbe des Odysseus, dem Eingangskapitel seines Buches Mimesis, bei der Besprechung einmal eines Abschnitts aus der Odyssee, dem der Wiedererkennung des Odysseus durch die Magd, und zum anderen des Isaakopfers im Alten Testament zwei grundverschiedene Weisen der Realitätserfassung frei.
Bei Homer ist alles vollkommen klar, kein Umriß verschwimmt. Auch für wohlgeordnete, jedes Gelenk zeigende, gleichmäßig beleuchtende Beschreibung der Geräte, Handreichungen und Gesten ist Raum und Zeit reichlich vorhanden; selbst in dem dramatischen Augenblick des Wiedererkennens wird nicht versäumt, dem Leser mitzuteilen, daß es die rechte Hand ist, mit der Odysseus die Alte an der Kehle faßt. Klar umschrieben, hell und gleichmäßig belichtet, stehen oder bewegen sich die Menschen und Dinge innerhalb eines überschaubaren Raumes: und nicht minder klar, restlos ausgedrückt, auch im Affekt wohlgeordnet sind die Gefühle und Gedanken. Ganz anders der Elohist. Gott gibt einen Befehl, und es beginnt die Erzählung selbst, ohne jede Einschaltung, in wenigen Hauptsätzen, deren syntaktische Verbindung miteinander äußerst arm ist, rollt sie ab. Undenkbar wäre es hier, ein Gerät, das gebraucht wird, eine Landschaft, die man durchquert, zu beschreiben, das Aussehen der Geräte oder ihre Brauchbarkeit rühmend zu schildern, nicht einmal ein Adjektiv ertragen sie, es sind Knechte, Esel, Holz und Messer, weiter nichts. - Nicht leicht lassen sich größere Stilgegensätze vorstellen als zwischen diesen beiden, gleichermaßen antiken und epischen Texten. Auf der einen Seite ausgeformte, gleichmäßig belichtete, orts- und zeitbestimmte, lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen. Auf der anderen Seite wird nur dasjenige an den Erscheinungen herausgearbeitet, was für das Ziel der Handlung wichtig ist, der Rest bleibt im Dunkel: Rembrandt als der naturgemäße Maler des Alten Testaments. Die entscheidenden Höhepunkte der Handlung werden allein betont, das Dazwischenliegende ist wesenlos. Die Handlung wiederum ist nur Ausdruck der in ihrem Hintergrund verborgenen Wahrheit Gottes.
Wenn man also annehmen wollte, die europäische Erzählkunst sei aus diesen beiden grundverschiedenen Ansätzen hervorgegangen, so sicher nicht in der Weise, daß die beiden Stränge sich getrennt voneinander ein jeder in seiner Richtung weiterentwickelt hätten, sie haben sich unendlich oft gekreuzt und auf endlose Weise miteinander verwoben, und doch würde man, denkt man etwa an die zwei großen Russen des neunzehnten Jahrhunderts, ohne viel Umstände Dostojewski Jerusalem und Tolstoi Athen zuordnen. Bei Sebald liegen die Dinge verzwickter. Die ständigen Wanderbewegungen seines Erzählers haben uns veranlaßt, ihn, erinnernd an den griechischen Reisenden, Selysses zu nennen. Was der Dichter Pisanello abliest, gilt auch für ihn selbst: Allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt wird dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen - auch das, möchte man meinen, ein deutlicher Fingerzeig hin zur griechischen Seite. Die ebenso reichen wie schwerelosen Sätze vermitteln den Eindruck, alles sei in ihnen restlos ausgedrückt. Die Situationen sind immer exakt orts- und zeitbestimmt, aber bald fragt man sich, warum eigentlich, die Exaktheit verliert sich ohne Spuren zu hinterlassen. Kein gleichgültiger Blick geht über eine namen- und gestaltlose Landschaft hinweg, über eine nicht weiter bestimmte selva oscura etwa. Hier stehen die astlosen, gut siebzig- bis achtzigjährigen Fichten die Abhänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft ein wenig in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise, wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. Keinen Laut gab es in dem Tobel, als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei nichts. Das ist reich in der Erfassung, kein Gedanke aber, es sei alles, hinter den lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen gäbe es nicht einen verborgenen Hintergrund, der immer wieder durch die geschilderte Realität bricht. Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt. Ja, was rührt uns bei der Betrachtung der Welt, was verbirgt sich hinter den Erscheinungen.
Selysses geht unter ständigen Schwindelgefühle durch eine, wie die geregelte Satzfolge suggeriert, völlig aufgeräumte Welt, in einem fortwährenden Wechsel aber von Ausleuchten des Vordergrunds und Erahnen des Verborgenen. Auch bei Dostojewski ist unter der Leitung des Elohisten Homer am Werke, bei Tolstoi unter der Leitung Homers der Elohist. Hier aber scheint es sich fast schon um ein explizites und extremes Spiel mit den beiden Formansätzen zu handeln. Auf der Elohistenseite ist es naturgemäß so, daß das immer wieder durchscheinende Verborgene nicht auf eine souveräne Wahrheit verweist, die Gotteswelt liegt in Trümmern, der heilige Franziskus treibt mit dem Gesicht nach unten im Sumpf, Rembrandt tritt nicht als Schilderer des göttlichen Versprechens auf, als Teilnehmer an der Prosektur des Dr. Tulp sieht er, bereits zwei Schritte weiter, das Scheitern der Neuzeit.
Von Athen und Griechenland nehmen Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth auf ihrer Reise kaum Notiz, kaum glaube ich, daß ich derselbe Mensch und in Griechenland bin, aber ab und zu weht der Geruch der Wacholderbäume zu uns herüber, und so ist es wohl wahr; Jerusalem ist, so scheint es, eine bittere Enttäuschung, die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit, in den Straßen große Mengen von Unrat, on marche sur des merdes; Istanbul kann sich in mancher Beziehung sehen lassen. Man müßte darüber nachdenken.
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