Freitag, 14. November 2014

Palamedes

Coyoten

In loser Weise bezugnehmend auf die Reisetätigkeit des Odysseus wurde Sebalds namenloser Erzähler Selysses genannt, größere Ähnlichkeiten mit Homers Helden bestehen darüber hinaus nicht. Weder tritt Selysses als besonders listenreich in Erscheinung noch richtet er bei seinen Heimkünften ein Massaker an.
La lunga catena delle storie prima della storia, dove l'Iliade e 'Odissea formavano alcune maglie, si chiudeva con la morte di Odisseo. Dopo Odisseo comincia la vita senza eroi: so beginnt Roberto Calasso das elfte und vorletzte, den Trojanischen Krieg und Odysseus betreffende Kapitel seiner Verlebendigung der griechischen Mythologie Le nozze di Cadmo e Armonia. Eigentlich wollte Odysseus für sich persönlich das heroische Zeitalter schon zuvor beenden. Listenreich gibt er vor, den Verstand verloren zu haben, um, wehrdienstuntauglich, nicht nach Troja in den Kampf ziehen zu müssen. Nicht weniger listenreich aber läßt Palamedes seine Schauspielerei auffliegen und zwingt ihn, sich an der in jeder Hinsicht fragwürdigen Rettungsaktion für Helena zu beteiligen. Palamedes wird ihm daraufhin zum verhaßten Double im Reich der List, zu seinem Bruder Abel, den er nach sorgfältiger und listenreicher Vorbereitung erschlägt. Palamedes, davon nur wenig beeindruckt, rettet sich in die Artussage, in der er sich auf ähnliche Weise diesmal mit Tristan anlegt. Er schafft es sogar bis in Prousts Endzeitroman, wo er als Baron Charlus zum herausragenden Vertreter der untergehenden Welt des fin de siècle wird.

Was zeichnete die heroische Zeit aus, so die Frage, und Calasso antwortet: Il gesto eroico è questo dell'uccisione dei mostri. Da kommt uns als Vertreter der neoheroischen mittelalterlichen Zeit sogleich der aus Sebalds Werk vertraute Heilige und Drachentöter Georg in den Sinn, der eher noch als Palamedes die Aufnahme an Artus Hof verdient gehabt hätte. Hier nun, beim Schutzpatron des Autors und seines Erzählers, schimmert eine Ähnlichkeit mit Odysseus durch. Wie Odysseus ist Georg ein Aussteiger. Auf der linken Tafel des Lindenhardter Altars tritt uns der heilige Georg entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten, den Verband der Heiligen, dem er sich wohl nie so recht zugehörig gefühlt hatte, verlassen. Auf Pisanellos Bild dann, in der Londoner Nationalgalerie, hat der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, sein Leben bereits ausgehaucht. Auf dem Kopf trägt San Giorgio einen Strohhut, gleich wird er auch die Rüstung gegen einen weißen Sommeranzug eintauschen und sich in den Zirkus- und Hochseilartisten Giorgio Santini verwandeln, mit dem mittelalterlichen Rittertum ist es vorbei. Nehmen wir die in der Mythenwelt global vertretene Figur des Tricksters - bei den nordamerikanischen Indianern hat er vorwiegend die Gestalt eines Coyoten -, so übergreift er den Listenreichen, den Gaukler und den Künstler: Odysseus, San Giorgio/Giorgio Santini, Sebald/Selysses, drei Trickster. Kein Künstler kommt aus ohne List, und wenn Selysses als geschilderte Figur vielleicht wenig listenreich erscheint, so ist es der Dichter mit seinen Entwendungen, Lügen und falschen Deklarationen umso mehr. Auf Umwegen sind Selysses und Odysseus einander näher gekommen.
Wenn Odysseus die archaische Zeit und San Giorgio das Mittelalter beenden, so sieht Selysses das Ende unserer Zeit kommen. In der Morgenfrühe im verkehrslärmfreien Venedig denkt er daran, wie oft er schon in anderen Städten mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehorcht hat. Im Verlauf der Jahre sei er zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird. Fürs erste sind die Menschen schon von den Maschinen verschluckt. Eigenartig berührt den Erzähler beim Blick aus einem fahrenden Zug, daß nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Vom Flugzeug aus sieht er weit unter sich einen Traktor, der, wie nach der Richtschnur, quer über einen bereits abgeernteten Acker kroch und ihn in eine hellere und eine dunklere Hälfte teilte, nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. Wie wir unsere, in diesem Augenblick verschwindende Zeit, kennzeichnen sollen, wissen wir nicht. Altertum und Mittelalter haben im Rückblick Gestalt gewonnen, im Kontrast zu dem, das jetzt ist. Wie man aus einer Zeit, aus der der Mensch verschwunden ist, auf die unsere wird zurückblicken und urteilen können, ist schwer vorstellbar.

Keine Kommentare: