Samstag, 16. Mai 2015

Essengehen

Bé hem dinat


Essengehen ist eine Einrichtung, die aus der modernen Gesellschaft nicht gut fortzudenken ist. Die elektronischen Geräte schweigen, abgesehen von einer sanft eingespielten Musik, die sich wie ein Schleier über die Tischgespräche legt, ab und zu aus der Ferne das beruhigende Dröhnen der Espressomaschine. Dienstbare Geister umsorgen den Gast, ein angenehmer Hauch aristokratischer Vergangenheit dringt in die demokratischen Verhältnisse. Dinge werden wieder möglich, die, wie das traute Gespräch, sonst kaum mehr möglich sind. Glaubt man den Büchern und Filmen, so wird die Mehrzahl der Liebesgeschichten mit einer Einladung zum Essen eingeleitet.
Die Dichter gehen, wie so oft, ihre eigene Wege. Nabokow erinnert sich an eine Einladung Bunins zum Essen und zum trauten Gespräch. Das Mahl sei aller Wahrscheinlichkeit nach teuer und gut gewesen, leider aber könne er, Nabokow, Restaurants nicht ausstehen, nicht die Wässerchen, nicht die Häppchen, nicht die Musikstückchen und auch nicht das traute, herzliche (saduschewnyj) Gespräch. Nachdem sie gemeinsam Essen gegangen waren, habe sich das Verhältnis zwischen Bunin und ihm deutlich abgekühlt

Wenn das Gespräch, wie traut auch immer, notwendiger Teil des Essengehens ist, sollten nicht weniger als zwei beteiligt sein sein, aber vielleicht kann der Einzelne so erfüllt sein von Gedanken und Erlebnissen, daß er sich selbst genügt. Während der Zar und Napoleon auf einem Floß in der Memel den Frieden aushandeln, betritt Nikolai Rostow vom Hunger veranlaßt ein Gasthaus in Tilsit. Zum Essen läßt er sich zwei Flaschen Wein kommen. An den Nachbartischen bereden die Regimentskameraden das Geschehen auf dem Floß. Es sind Vorbehalte und Sorgen, die er letzten Endes teilt, auch wenn er es nicht wahrhaben will. Er bestellt eine dritte Flasche. Drei Flaschen Wein am Mittag, dem wäre heute kaum noch jemand gewachsen, gern erführe man Genaueres zur Füllmenge der Flaschen und zum Alkoholgehalt des Weins in der damaligen Zeit.
Wenn schon Nikolai Rostows Gasthofbesuch in Tilsit nur mit einiger Gewalt dem Vorstellungsbild Essengehen zuzuordnen ist, so gilt das umso mehr für die Verköstigung im Hotel Sole. Generell arbeitet Selysses an seinen Aufzeichnungen gern in Gaststuben, beim Engelwirt, im Hotel unter dem Großvenediger und so auch zuvor schon in Limone. Während er Zeile um Zeile füllt, bringt die Wirtin Luciana ihm in regelmäßigen Abständen, wie erbeten, einen Express und ein Glas Wasser und ab und zu auch ein in eine Papierserviette eingewickeltes Toastbrot. Ob er gut vorankomme, fragt sie. Wieder hinter ihrer Theke macht sie Eintragungen in ein großes Kontokorrentbuch, und immer öfter muß er zu ihr hinüberschauen, und wenn ihre Blicke sich trafen, lachte sie jedesmal wie über ein dummes Versehen. Eine vergleichbare Seligkeit ist durch reguläres Essengehen kaum erreichbar, für Selysses am allerwenigsten. Einerseits ist er zu wählerisch und geht stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe er sich für ein Restaurant entscheiden kann; andererseits gerät er zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehrt dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein ihm in keiner Weise zusagendes Gericht. Legendär sind sein Versuch, in Verona eine Pizza zu verzehren und sein zerstörerischer Kampf mit der aufgetauten panierten Fischschnitte in Lowestoft. Im Wadi Halfa ist das Essen weder teuer noch gut, Wässerchen, Häppchen und Musikstückchen muß man nicht befürchten, es ist nicht der Nährboden für traute (saduschewnyje) Gespräche, Nabokows Argumente greifen nicht, es würde ihm dort aber wohl trotzdem nicht gefallen. Aurach hingegen sucht das Wadi Halfa täglich sowohl vor als auch nach der Arbeit auf und mindestens einmal die Woche gesellt Selysses sich hinzu. Beide verzehren die grauenvollen, halb englischen, halb afrikanischen Gerichte mit Gleichgültigkeit wenn nicht gar mit perverser Genugtuung. Die Billigesser müssen sich den Schlechtessern geschlagen geben, nostalgie culinaire de la boue.
Nach der Preisverleihung zeigten Interviews Modiano in seiner großbürgerlichen Pariser Wohnung, geregeltes Essengehen zeichnete sich als mögliche Komponente seiner Lebensweise ab, seine Bücher handeln davon nicht. Sie handeln von dem, was den Dichter, wie er sagt, ne concerne pas en profondeur, das ihn gleichwohl nicht losläßt, die Zeit seiner Kindheit und Jugend. In den Internaten nicht selten ein wahrer Hungerleider, lebt er später mit den Helden seiner Bücher in Paris als Stadtnomade in ständig wechselnden Zimmern und Hotels, in leeren Wohnungen, deren Besitzer verreist sind. Er kennt Essengehen nicht abgehoben vom Essen zuhaus, er kennt den Kontrast von Essengehen und Hungern, Essengehen also nicht als ein herausgehobenes Ereignis, sondern als den Normalzustand hinreichenden Essens.

Nichts weist darauf hin, daß die Dichter unter ihrer Verhaltensstörung leiden. Nabokow ist, wie bei jeder Gelegenheit, auch hier ganz und gar mit sich einverstanden. Selysses blickt mit stillem Vergnügen zurück auf seine kulinarischen Fiaskos. Für Modiano ist das Essengehen fester Teil seiner erzählerischen Topologie und unterliegt, wie das gesamte Gelände, keiner weiteren Beurteilung.

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