Montag, 7. September 2015

Downsizing

Drei Wirklichkeiten

Die Schwindel.Gefühle sind nicht nur von Gestalten der Gegenwart, sondern auch von Gestalten der Mythologie und der weit zurückliegenden Historie bevölkert, ihre Geschichte ist fragmentarisch in der Erzählverlauf eingefügt. Zu nennen sind der Jäger Gracchus, der heilige Georg und der mittelalterliche italienische Dichter Dante. Wir sehen sie einmal in ihrer vergangenen Größe und dann in einer verbürgerlichten Gegenwartsvariante, sozusagen auf Normalmaß zurechtgestutzt. Als eine Barke in den Hafen von Riva einfährt und der Jäger Gracchus an Land getragen wird, fühlt Mme Gherardi sich derart ungut berührt, daß sie darauf besteht, ohne jeden weiteren Verzug abzureisen. Im Allgäu, wo Gracchus, erkenntlich an der am Oberarm eintätowierten Barke, unter dem Namen Hans Schlag unterkommen ist, sehen wir ihn in Begleitung eines Dackels mit Namen Waldmann und ausgestattet mit einer Repetieruhr, die das Lied Üb' immer Treu und Redlichkeit zum Besten gibt. Auf Pisanellos Bild hat San Giorgio schon die schwere blutige Arbeit im Blick, sieben Berittene stehen zu seiner Unterstützung bereit. Zu Giorgio Santini geworden, besteht seine vornehmste Kunst darin, auf dem Hochseil eine Eierspeise anzurichten. Als Selysses in der Gonzagagasse zu Wien den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Florentiner Dichter Dante sieht, sieht er sein eigenes Spiegelbild. Wenn Dante mit fünfundreißig Jahren, nel mezzo del cammin di nostra vita, vom rechten Weg abgekommen ist und sich in einem dunklen Wald wiederfindet, versucht Selysses, im gleichen Alter, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Wenn Dante es eingangs mit einem Löwen und anderen großdimensionierten Raubtieren zu tun hat, spricht Selysses mit den Dohlen und einer weißköpfigen Amsel. Luciana Michelotti läßt sich nicht wie Beatrice in die obersten Himmelssphären katapultieren, mag sie sie auch an lebendiger Weiblichkeit in den Schatten stellen.

Was ist der gemeinsame Gedanke, der gemeinsame Impetus hinter diesen in gleicher Weise ablaufenden Vorgängen, Entmytho- logisierung? - wohl kaum, wenn man darunter versteht, daß im Augenblick des Abfallens der mythischen Verkleidung die Wahrheit zutage tritt. Hans Schlag ist nicht die Wahrheit des Gracchus, Giorgio Santini nicht die des heiligen Georg und schon gar nicht ist Selysses die Wahrheit Dantes. Banalisierung? - vielleicht in der Weise, daß der Dichter seine Geschöpfe nicht bewahren kann vor der Banalität der Gegenwart. Aber stimmt überhaupt die Blickrichtung, und ist nicht die entgegengesetzte die richtige, werden nicht die banalen Geschöpfe der Gegenwart mythologisiert und erhöht?

Treten wir aus der Erzählung heraus in eine plane Wirklichkeit, ist das eine so falsch wie das andere, der vermeintliche Dante in der Gonzagagasse ist ein beliebiger Passant, Giorgio Santini ist fälschlich in Verdacht, San Giorgio zu sein und gleiches gilt für den Jäger Hans Schlag im Verhältnis zum Jäger Gracchus, aber die plane Wirklichkeit ist aus der Erzählwirklichkeit verwiesen oder doch nur ein Drittes neben den Erzählwirklichkeiten der Erhöhung und der entgegengesetzten der Herabholung. Unter Schwindelgefühlen muß der Erzähler und müssen wir mit drei Wirklichkeiten zurechtkommen.

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