Freitag, 25. Dezember 2015

Oh les beaux jours

Vom Glück des Schreibens

Wie zu recht festgestellt wurde, lesen wir Sebalds Bücher mit Bewunderung und in reiner ästhetischer Freude, der Dichter selbst aber nimmt nach eigener Auskunft an diesem Glück nicht teil. Angenehm sei die Vorbereitungsphase der Recherche, die künstlerische Umsetzung aber eine Qual und der Abschluß immer verbunden mit einer großen Leere. Banville andererseits warnt vor einer allzu ausgedehnten Vorbereitung, Flaubert etwa habe es, verleitet vielleicht von einer trügerischen Behaglichkeit des schriftstellerischen Verligens, mit den vorbereitenden Studien zu Salammbô übertrieben und dann die Prosa nicht mehr recht in Gang gebracht. Selbst weist Banville gern darauf hin, was er vorbereitend noch alles hätte lesen können, aber nicht gelesen hat. Den Satz hält er für die größte Entdeckung der Menschheit und die Arbeit mit den Sätzen für das größte Privileg. Seine Frau allerdings berichtet, wenn er nach einer Schreibsession aus seinem Arbeitszimmer hervorkomme, wirke er immer wie ein Serienmörder nach einem besonders blutigen Massaker. Er hasse, so Banville, seine fertiggestellten und ihm im gleichen Augenblick fremd gewordenen Bücher. Voll Freude an der eigenen Arroganz verschweigt er dabei aber nicht, daß seine Bücher trotz ihres Ungenügens naturgemäß besser seien als die der Kollegen. Bei Kafka dürfte die unverbindliche Vorbereitungsphase ausgefallen sein, es ist nicht wahrscheinlich, daß er, um sich einzustimmen, Werke über Schlösser in Europa oder über das Gerichtswesen gestern und heute gelesen hat. Der Ausweg war, ständig Neues zu beginnen und wenig abzuschließen oder auch, die Sachen so kurz zu halten, daß Anfang und Abschluß mehr oder weniger zusammenfallen. So konnte er ständig die Euphorie des Beginnens genießen, mehr konnte er seiner alles in allem wenig euphorischen Natur auch kaum zumuten. Proust hat für die längste Zeit seines Lebens das Schreiben vor sich her und von sich weg geschoben, um dann nur noch zu schreiben, zwischen Freud und Leid war da schon nicht mehr zu unterscheiden. Von Bernhard sagt man, er habe sich mit dem Kauf seiner Landhäuser absichtlich verschuldet und so zum Schreiben genötigt. In einer Reihe von Romanen verschafft er sich zusätzlich Erleichterung in Gestalt eines Protagonisten, der ein Werk, wie er meint, mehr oder weniger fertig im Kopf hat, es aber nicht aufs Papier bringt, der Dichter selbst gleitet also gewissermaßen mit einem Bericht über die Unmöglichkeit des Schreibens schräg ins Erzählen hinein. Seine erste Alpenreise tritt Selysses an in der Hoffnung, über eine besonders ungute Zeit nach Abschluß einer größeren Arbeit hinwegzukommen, die Reise endet im Fiasko. Bei der zweiten Reise geht ihm am Gardasee das Schreiben mit erstaunlicher Leichtigkeit von der Hand, Zeile um Zeile füllt er die Bogen des linierten Schreibblocks. Luciana wirtschaftet hinter der Theke und blickt immer wieder aus den Augenwinkeln zu ihm herüber. In regelmäßigen Abständen bringt sie ihm einen Expreß und ein Glas Wasser, und einmal ist es ihm gewesen, als spürte er ihre Hand auf seiner Schulter, oh les beaux jours! Am nächsten Tag reist er ab, man darf die Götter nicht herausfordern.

Freitag, 18. Dezember 2015

Klausner

Something in between

Das wenige, das wir über den Major George Wyndham Le Strange wissen, ist einer knappen Todesnachricht in der Zeitung entnommen, aus der drei Seiten Prosa entstehen. Gerade die äußerste Knappheit der Angaben aber läßt für einen Augenblick ein Bild der Vollständigkeit vor uns erscheinen, so als sei das Leben des Majors plan ausgebreitet vor unseren Augen. Und in der Tat, wenn es zutrifft, daß alle Information und keine Information sich nicht unterscheiden voneinander, dann mögen geringe Kenntnisse und Einsichten eher Vollständigkeit suggerieren als eine Flut von Einzelheiten. Versuchen wir allerdings, das vermeintlich vollständige Bild des Majors zu fixieren, wird schnell klar, daß das wenige Feststehende nicht ausreicht, die immensen Lücken zu füllen. Die Le Strange-Episode hat den Charakter eines hagiographischen Berichts, auf realistische Amendments sollte im Grunde verzichtet werden. Fragen lassen sich aber nur schwer abweisen, wenn sie einmal aufgetreten sind, und zudem ist kein Leser unnützer Geschichten gehindert, unnützen Gedanken nachzuhängen.

Nichts wissen wir von der Kindheit und Jugend des Majors, seinen Eltern und seinen Geschwistern, wenn es welche gab. War er ein stilles, introvertiertes Kind wie der kleine Marcel, oder war er, wilden Spielen zugetan, den ganzen Tag im Gelände unterwegs mit Freunden; wie verlief seine Schul- und Studienzeit, wie waren seine Freund- und Liebschaften, welchen Beruf hat er erlernt, wie war seine militärische Karriere vor Bergen Belsen verlaufen - we know so little of him. There is no early work, no juvenilia, no remnants of his apprenticeship.
Der Blick des Dichters ist allein auf die dreißig Jahre Einsamkeit gerichtet, nachdem er die Verwaltung der ererbten Güter eingestellt und in kurzer Zeit alle Angestellten und Hausbediensteten entlassen hatte, aber auch dieser Blick fördert nur wenig Einzelheiten an den Tag. Die Haushälterin Barnes, der einzige Mensch, zu dem Le Strange noch Kontakt hat, schweigt, und nur selten lassen Blicke über den Gartenzaun einges erhaschen. Dreißig Jahre, das sind mehr als zehntausend Tage und zehntausend Nächte, von denen wir so gut wie nichts erfahren. An anderer Stelle spielt der Dichter selbst mit dem Gedanken seiner Eremitierung und stellt sich vor, er wohne in einer steinernen Burg, bis an sein Lebensende mit nichts anderem beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Es ist das denkbar kürzeste Klausnerdasein, das sich kaum länger als einen Wimpernschlag allein im Kopf abspielt und schon verdrängt wird von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand er sich auch schon in der Eingangshalle eines Museums mit Notizbuch und Bleistift und einem Billet in der Hand. Zehntausend Tage und Nächte aber, wie wurden die ausgefüllt. Alexander Cleave, der Held in Banvilles Roman Eclipse, scheitert ebenfalls beim Versuch der Eremitierung, aber nicht so prompt wie Sebalds Erzähler, bei ihm können wir uns Anregungen holen. Schwer vorstellbar etwa, daß die zehntausend Nächte in ruhigem Schlaf und traumlos verstrichen sind. In the dream I dreamed one recent night I was a torturer, a professional of long experience, skilled in the art of pain, whom people came to - tyrants, spy-catchers, brigand chiefs - to hire my unique services, when their own efforts and those of their most enthusiastic henchmen had all failed. Wäre es verwunderlich, wenn es Le Strange, den Befreier von Bergen Belsen, in schweren Träumen immer wieder auch auf die andere Seite getragen hätte?

Auch tagsüber sehen wir ihn nur selten und nur, wenn er aus dem Haus tritt, immer auffällig, mal ähnlich dem heiligen Franz, mal ähnlich dem heiligen Hieronymus, mal in einem kanarienfarbenen Gehrock und mal in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Erkennen wir eine fortschreitende seelische Erkrankung oder einen im Grunde glücklichen Menschen. Die Frage verliert ihre Schärfe, wenn wir sie verbinden mit der Frage: What is happiness but a refined form of pain? Was aber ist mit den langen Stunden, die er im Hause verbringt, sitzt er nur stumm da, an hour has gone by and he has not moved his hand, liest er, hat er Zeitschriften abonniert oder ist er mit einer Arbeit beschäftigt, etwas Handwerkliches, Drechslerarbeiten wie der alte Fürst in Krieg und Frieden, oder eine größeren Schreibarbeit vielleicht sogar, Das Leben der Heiligen etwa oder Bergen Belsen mon amour. Dann kommt wieder der Abend, the hour is late. Ghosts ring me round, gibbering. Away.

Das von Le Strange allein mit der schweigsamen Köchin Florence Barnes bewohnte große Steinhaus ist weitläufig und leer aber nicht schweigsam, it attends him, monitoring his movements, as if it had been set the task of keeping track of him, floorboards creak under his tread, door hinges squeal tinnily behind him. If he coughs, or slams shut a book, the whole house like a struck piano will give him back in echo a low, dark, jangling chord. Ist er überhaupt allein, abgesehen von Florence Barnes? The living are too much for the dead, von den Lebenden hat Le Strange sich getrennt, aber was ist mit den Toten? It is not the dead that interest him now. Who, then? The living? No, something in between, some third thing. He turned his head and caught sight of something in the doorway, not a presence but an intense absence, something more substantial than a ghost. His phantoms were his own, that was the point of them, they were a little family together.

Am Ende aber verflüchtigen sich alle Phantome, alle Überlegungen und Ergänzungen, die Geschichte vom Major Le Strange steht wieder rein und klar da, schön wie am ersten Tag, bereit, neu und anders ausgesponnen zu werden.

Samstag, 12. Dezember 2015

Im steinernen Haus

Ausgewandert

Es sind nicht nur die Protagonisten der vier langen Erzählungen, die ausgewandert sind, in der Erzählung Ambros Adelwarth ist ohnehin eine ganze Sippe nach Amerika gezogen. Vor allem aber müssen auch die hinzugezählt werden, die das innere Exil gewählt haben. Der emeritierte Richter Farrar züchtet Rosen und blickt mit einigem Entsetzen zurück auf die Jahrzehnte, die er in Gerichtssälen und Kanzleien verbracht hat. Garrad zieht sich immer mehr aus der Landwirtschaft zurück und widmet sich in der Scheune dem Bau des Tempelmodells. Die Ashburys haben sich seit jeher ausschließlich unnützen Beschäftigungen verschrieben, und noch heute reut es den Dichter, daß er nicht bei ihnen geblieben ist, um ihr immer unschuldiger werdendes Leben zu teilen. Ganz nach seinem Herzen aber ist der Major George Wyndham Le Strange; GWS und WGS, wer könnte das überhaupt zuverlässig auseinander halten.

Als Erzählfigur erblickt Le Strange 1945 bei der Befreiung Bergen Belsens das Licht der Welt, ist also ungefähr gleichaltrig mit dem Dichter. Und andererseits: Wie Modiano die Okkupationszeit zu einem Teil seines Lebens gemacht hat, so reicht Sebalds pränatale Lebensphase zurück bis 1914 und auch bei dieser Berechnung sind Le Strange und er Altersgefährten. Synchrone Lebensläufe ergeben sich naturgemäß nicht, wohl aber vergleichbare Lebensphasen. Nach dem Austritt aus der Armee unmittelbar nach dem Waffenstillstand verwaltet der Major für lange Jahre vorbildlich die Güter seines Großonkels. Dem entspricht auf der Seite des Dichters die Verwaltung der Literatur, zunächst in Arbeiten mit wissenschaftlichem Gepräge, dann stärker im Genre des Essays und schließlich lädt er nur noch Freunde zu sich ins Landhaus ein. Damit ist er nahe an dem Punkt, an dem Le Strange nurmehr allein mit der schweigsamen Köchin aus Beccles in dem großen Steinhaus lebt. Davon träumt auch der Dichter, als er durch die Straßen von Ajaccio geht und sich vorstellt, wie es wohl wäre, wenn er in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an sein Lebensende mit nichts anderem beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Schwerelos würde aus dieser Zeitmeditation die Prosa auf das Papier schweben, ähnlich wie er den Erzähler von Tlön sieht, den nichts kümmert in der Welt und der in der stillen Muße seines Landhauses an einer tastenden, an Quevedo geschulten Übertragung des Urn Burial von Thomas Browne arbeitet, die er nicht drucken zu lassen gedenkt. So könnte es sein, denkt der Leser, unversehens aber gerät die ruhende Anschauung zur verzehrenden Arbeit. Thomas Bernhard hat von steinernen Landhäusern nicht allein geträumt, er hat sie erworben, restauriert und in ihnen gewohnt und gearbeitet. In der Gestalt des Protagonisten von Beton sehen wir ihn vor uns. Die geplante Studie hat er fertig im Kopf, bereit für die Niederschrift, der Besuch seiner geistlosen Schwester läßt aber jeden Gedanken ans Schreiben ersticken. Nach der Abreise der naturgemäß in keiner Weise geistlosen Schwester ist die Lage störungsfrei und scheinbar ideal, tatsächlich aber ist die Niederschrift nun völlig ins Unmögliche entrückt. Sebalds Erzähler muß ähnliches geahnt haben, er beschädigt den Traum nicht und schließt die Tür des steinernen Hauses bevor er sie noch geöffnet hat.

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Membran

Unversorgt

In einem Gespräch stellt Sebald klar, was ohnehin klar ist: irgendwelche künstlerischen Ansprüche sind mit den in das Prosawerk eingegangenen Photos aus der eigenen Kamera nicht verbunden; das gilt ebenso auch für die Photos aus anderer Quelle. Gerade ein sogenannter Schnappschuß aber könne, anders als ein gemaltes Bild oder eine Kunstphotographie, einen Erzählreiz auslösen, das Verlangen, eine dazu passende Geschichte zu schreiben. Der Unterschied zwischen einfachem Photo und gestaltetem Bild sei diffizil und reiche in metaphysische Tiefen. Er mag tief reichen, aber auch an der Oberfläche läßt sich einiges feststellen. Der Schnappschuß ist aus der Zeit gerissenes Fragment und hinterläßt Wunden auf beiden Seiten des Risses, im mit großem Zeitaufwand gemalten Bild sind die Wundränder versorgt, die Wunden so gut wie verheilt.

Längst nicht von allen Photos im Prosawerk geht der Anreiz aus, eine Geschichte zu erzählen, wie es etwa bei dem Bild der Fall ist, das die Tante Fini und andere Familienmitglieder in der neuen Welt unter dem Gemälde des heimatlichen W. zeigt. Das Eintrittsbillet zum Giardino Giusti oder das vom Brigadiere ausgestellte Verlustdokument haben Souvenircharakter. Sebald selbst erläutert, daß er die Kamera als Notizbuch nutzt. In der Vorlichtbildzeit haben die Dichter ihre Manuskripte gern mit Zeichnungen versehen, zum Zeitvertreib, wenn die Worte sich nicht einstellen wollten, aber auch um sich, bei hinreichender graphischer Begabung, selbst ein Bild von dem verbalen Geschehen zu machen. In der Buchausgabe fehlen diese Randzeichnungen dann, in der sowjetischen Gesamtausgabe der Werke Puschkins, um dieses Beispiel zu wählen, sind aber zahlreiche Ablichtungen von Manuskriptseiten eingefügt. Sebald hat seine Photonotizen als Teil der Buchausgabe belassen. 

Was fangen wir an mit den Bildern? Mit den Worten des Argentiniers Sergio Chejfec lesen wir Sebalds Prosa voller Bewunderung und in reiner ästhetischer Freude, die Bilder können diesen Zustand allenfalls durch Kontrastwirkung noch steigern. Irgendwann geht es jedem Leser mit den Buchstaben so, wie es Rilkes Panther mit den Gitterstäben geht, und dann mag er sich gemeinsam mit Austerlitz über das doppelseitige Bild eines Wüstencamps in der walisischen Kinderbibel beugen, bald aber schon vertraut er wieder Austerlitz' Deutungsvermögen mehr als dem eigenen. Dann und wann begehren die Bilder auf gegen die geringe Beachtung, die ihnen zuteil wird. Man blättert um und stößt auf das aggressiv doppelseitige Bild zweier Billardkugeln, die eine weiß, die andere schwarz. Man blättert erneut um und liest weiter. Und doch können die Bilder beruhigt sein, man ist an sie gewöhnt und will sie nicht missen. Zwar würden die Texte auch ohne die Bilder ihre Leser finden, die Bilder ohne Texte dagegen kaum Betrachter, Verlangen nach einer bildbereinigten Ausgabe der Prosawerke hat niemand. Die Bilder sind da, wie die Welt außerhalb des Textes immer da ist, nur nicht gar so weit draußen, something in between, some third thing, eine Schutzschicht vielleicht, eher noch eine Membran.

Freitag, 4. Dezember 2015

Bellezza

Giacomettis Hilfe 

Elle était belle! Il ne la pas vue de près, mais cela ne fait rien: Elle était belle!

Jean Cau berichtet von einem gemeinsamen Cafébesuch mit Sartre und Giacometti. Giacometti, der bis dahin eigentlich nur geschwiegen hatte, habe plötzlich gesagt: Sartre, vous êtes beau. Das ging selbst Sartre - man kennt ihn von Bildern - im Prinzip in allen Richtungen und rundum von sich überzeugt und eingenommen, ein wenig weit. Giacometti aber habe nachgelegt: Vous ressemblez à Hamlet. Cau zieht für sich das Fazit: Un artiste sans mots, qui comme Dieu fabrique de l'homme avec de l'argile, m'avait révelé que j'étais libre de décider de la beauté. Soll man sich diesem Fazit aus einer besonders entscheidungs- und setzungsfrohen Zeit anschließen? Le donne belle sembrano sempre dapprima intelligenti. Un bel colore o una bella linea sono infatti l'espressione della intelligenza più assoluta. Während Giacometti Schönheit dort findet, wo sie niemand vermutet hätte, sucht Italo Svevo die Schönheit an einem als gesichert geltenden Ort auf, der Frauenschönheit. Wenn man, rückblickend von Svevo auf Giacometti, vermuten möchte, es sei Sartres unbestreitbare Intelligenz gewesen, die in den Augen des Malers Schönheit erschienen auftauchen ließ, so scheint bei Svevo umgekehrt Schönheit als das die Intelligenz erzeugende Moment. Zwischen Schönheit und Intelligenz bestünde jedenfalls ein unmittelbarer Zusammenhang unter Umgehung der Verstandeskraft. In Kreise der als intelligent bis zum Kopfschütteln angesehenen Mathematiker gelten Schönheit und Eleganz der Herleitung eines Beweises als Wahrheitsindiz, Klobigkeit begründet Vorbehalte. Den Zusammenhang zwischen mathematischer Schönheit und mathematischer Wahrheit können sie nicht erklären.

People spoke of him as the modern Henry James but he wasn't really. There were the long complicated sentences but with James I always thought they obscured the truth. With him they illuminated it. Mancher, der bei der Lektüre von Henry James das eine oder andere Mal schon für längere Zeit gegen das Geheimnis der Syntax angerannt ist und die Verdunklung gleichsam an vorderster Satzfront erlebt hat, mag für einen Augenblick meinen, mit seinem erlösenden Antipoden sei Sebald gemeint, es handelt sich aber nur um einen fiktiven Autor in einem Roman von P.D. James. Sebald selbst nimmt Maß an der schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, die er bei Gottfried Keller erlebt. Der Argentinier Sergio Chejfec spricht aus, was als erstes gesagt werden muß, wenn man sich Sebalds Texten zuwendet: il ramène le lecteur à une position souvent perdue depuis longtemps: l'admiration et le pur plaisir esthétique*.

Auch in der Form reiner ästhetischer Freude kann Schönheit nicht isoliert, allein nur für sich auftreten, am allerwenigsten in der an die Worte und damit an den Sinn gebundenen Belletristik, schöne Literatur ist nicht denkbar, ohne daß Intelligenz aufscheint. Chejfecs Aufsatz beschäftigt sich des weiteren mit der Geschichte als Repräsentation und als Leid. Man kann sich an die Makrosemantik anlehnen, das Geschichtsverständnis, der Holocaust, oder an die Mikrosemantik, etwa die Geschichte des heiligen Georgs in Bildern erzählt. Bei der Makrosemantik besteht die Gefahr, daß sie das Buch zu verschlingen sucht - nicht wenige Kommentatoren sehen den Dichter in unmittelbarem Wettstreit mit diversen Historizitätstheoretikern -, aber das katastrophische und, beim Blick in die Zukunft dystopische Geschichtsbild des Dichters ändert nichts daran daß wir bei der Lektüre nie den Zustand der reinen Freude (pur plaisir) verlassen, Schillers Forderung, in der Kunst müsse die Form den Inhalt vertilgen, ist eingelöst. Schiller sagt nicht tilgen, sondern vertilgen, also nicht verschwinden lassen, sondern zur Stärkung der Schönheit in sich aufnehmen. Sebald bevorzugt die Metapher der Flugfähigkeit der Sätze, die sie bei aller mitzutragenden Inhalts- und Bedeutungslast nicht einbüßen dürfen.

Position souvent perdue depuis longtemps: die meisten Gegenwartsautoren sind Giacomettiautoren mit einer, sofern überhaupt vorhanden, verborgener Schönheit, Sebald ist einer der wenigen Svevoautoren, mit einer Schönheit, die offen in das Antlitz der Sätze geschrieben ist. Die Schönheit der Sätze färbt ab, le donne di Sebald sembrano sempre dapprima belle. Daß die beiden Mitreisenden im Zug nach Mailand, die Franziskanerschwester und das junge Mädchen, von vollendeter Schönheit sind, müßte uns gar nicht ausdrücklich gesagt werden, nicht weniger schön sind Adela Fitzpatrick, Marie de Verneuil oder Mme Landau. Die einzige, die wir im Bild zu Gesicht bekommen ist allerdings die philosophisch gestimmte Saaleschifferin mit türkischen Wurzeln, und bei der Würdigung ihrer Schönheit sind wir ein wenig auf Giacomettis Hilfe angewiesen.


*Kein Zugriff auf den originalen spanischen Text