Freitag, 18. Dezember 2015

Klausner

Something in between

Das wenige, das wir über den Major George Wyndham Le Strange wissen, ist einer knappen Todesnachricht in der Zeitung entnommen, aus der drei Seiten Prosa entstehen. Gerade die äußerste Knappheit der Angaben aber läßt für einen Augenblick ein Bild der Vollständigkeit vor uns erscheinen, so als sei das Leben des Majors plan ausgebreitet vor unseren Augen. Und in der Tat, wenn es zutrifft, daß alle Information und keine Information sich nicht unterscheiden voneinander, dann mögen geringe Kenntnisse und Einsichten eher Vollständigkeit suggerieren als eine Flut von Einzelheiten. Versuchen wir allerdings, das vermeintlich vollständige Bild des Majors zu fixieren, wird schnell klar, daß das wenige Feststehende nicht ausreicht, die immensen Lücken zu füllen. Die Le Strange-Episode hat den Charakter eines hagiographischen Berichts, auf realistische Amendments sollte im Grunde verzichtet werden. Fragen lassen sich aber nur schwer abweisen, wenn sie einmal aufgetreten sind, und zudem ist kein Leser unnützer Geschichten gehindert, unnützen Gedanken nachzuhängen.

Nichts wissen wir von der Kindheit und Jugend des Majors, seinen Eltern und seinen Geschwistern, wenn es welche gab. War er ein stilles, introvertiertes Kind wie der kleine Marcel, oder war er, wilden Spielen zugetan, den ganzen Tag im Gelände unterwegs mit Freunden; wie verlief seine Schul- und Studienzeit, wie waren seine Freund- und Liebschaften, welchen Beruf hat er erlernt, wie war seine militärische Karriere vor Bergen Belsen verlaufen - we know so little of him. There is no early work, no juvenilia, no remnants of his apprenticeship.
Der Blick des Dichters ist allein auf die dreißig Jahre Einsamkeit gerichtet, nachdem er die Verwaltung der ererbten Güter eingestellt und in kurzer Zeit alle Angestellten und Hausbediensteten entlassen hatte, aber auch dieser Blick fördert nur wenig Einzelheiten an den Tag. Die Haushälterin Barnes, der einzige Mensch, zu dem Le Strange noch Kontakt hat, schweigt, und nur selten lassen Blicke über den Gartenzaun einges erhaschen. Dreißig Jahre, das sind mehr als zehntausend Tage und zehntausend Nächte, von denen wir so gut wie nichts erfahren. An anderer Stelle spielt der Dichter selbst mit dem Gedanken seiner Eremitierung und stellt sich vor, er wohne in einer steinernen Burg, bis an sein Lebensende mit nichts anderem beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Es ist das denkbar kürzeste Klausnerdasein, das sich kaum länger als einen Wimpernschlag allein im Kopf abspielt und schon verdrängt wird von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand er sich auch schon in der Eingangshalle eines Museums mit Notizbuch und Bleistift und einem Billet in der Hand. Zehntausend Tage und Nächte aber, wie wurden die ausgefüllt. Alexander Cleave, der Held in Banvilles Roman Eclipse, scheitert ebenfalls beim Versuch der Eremitierung, aber nicht so prompt wie Sebalds Erzähler, bei ihm können wir uns Anregungen holen. Schwer vorstellbar etwa, daß die zehntausend Nächte in ruhigem Schlaf und traumlos verstrichen sind. In the dream I dreamed one recent night I was a torturer, a professional of long experience, skilled in the art of pain, whom people came to - tyrants, spy-catchers, brigand chiefs - to hire my unique services, when their own efforts and those of their most enthusiastic henchmen had all failed. Wäre es verwunderlich, wenn es Le Strange, den Befreier von Bergen Belsen, in schweren Träumen immer wieder auch auf die andere Seite getragen hätte?

Auch tagsüber sehen wir ihn nur selten und nur, wenn er aus dem Haus tritt, immer auffällig, mal ähnlich dem heiligen Franz, mal ähnlich dem heiligen Hieronymus, mal in einem kanarienfarbenen Gehrock und mal in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Erkennen wir eine fortschreitende seelische Erkrankung oder einen im Grunde glücklichen Menschen. Die Frage verliert ihre Schärfe, wenn wir sie verbinden mit der Frage: What is happiness but a refined form of pain? Was aber ist mit den langen Stunden, die er im Hause verbringt, sitzt er nur stumm da, an hour has gone by and he has not moved his hand, liest er, hat er Zeitschriften abonniert oder ist er mit einer Arbeit beschäftigt, etwas Handwerkliches, Drechslerarbeiten wie der alte Fürst in Krieg und Frieden, oder eine größeren Schreibarbeit vielleicht sogar, Das Leben der Heiligen etwa oder Bergen Belsen mon amour. Dann kommt wieder der Abend, the hour is late. Ghosts ring me round, gibbering. Away.

Das von Le Strange allein mit der schweigsamen Köchin Florence Barnes bewohnte große Steinhaus ist weitläufig und leer aber nicht schweigsam, it attends him, monitoring his movements, as if it had been set the task of keeping track of him, floorboards creak under his tread, door hinges squeal tinnily behind him. If he coughs, or slams shut a book, the whole house like a struck piano will give him back in echo a low, dark, jangling chord. Ist er überhaupt allein, abgesehen von Florence Barnes? The living are too much for the dead, von den Lebenden hat Le Strange sich getrennt, aber was ist mit den Toten? It is not the dead that interest him now. Who, then? The living? No, something in between, some third thing. He turned his head and caught sight of something in the doorway, not a presence but an intense absence, something more substantial than a ghost. His phantoms were his own, that was the point of them, they were a little family together.

Am Ende aber verflüchtigen sich alle Phantome, alle Überlegungen und Ergänzungen, die Geschichte vom Major Le Strange steht wieder rein und klar da, schön wie am ersten Tag, bereit, neu und anders ausgesponnen zu werden.

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