Samstag, 12. Dezember 2015

Im steinernen Haus

Ausgewandert

Es sind nicht nur die Protagonisten der vier langen Erzählungen, die ausgewandert sind, in der Erzählung Ambros Adelwarth ist ohnehin eine ganze Sippe nach Amerika gezogen. Vor allem aber müssen auch die hinzugezählt werden, die das innere Exil gewählt haben. Der emeritierte Richter Farrar züchtet Rosen und blickt mit einigem Entsetzen zurück auf die Jahrzehnte, die er in Gerichtssälen und Kanzleien verbracht hat. Garrad zieht sich immer mehr aus der Landwirtschaft zurück und widmet sich in der Scheune dem Bau des Tempelmodells. Die Ashburys haben sich seit jeher ausschließlich unnützen Beschäftigungen verschrieben, und noch heute reut es den Dichter, daß er nicht bei ihnen geblieben ist, um ihr immer unschuldiger werdendes Leben zu teilen. Ganz nach seinem Herzen aber ist der Major George Wyndham Le Strange; GWS und WGS, wer könnte das überhaupt zuverlässig auseinander halten.

Als Erzählfigur erblickt Le Strange 1945 bei der Befreiung Bergen Belsens das Licht der Welt, ist also ungefähr gleichaltrig mit dem Dichter. Und andererseits: Wie Modiano die Okkupationszeit zu einem Teil seines Lebens gemacht hat, so reicht Sebalds pränatale Lebensphase zurück bis 1914 und auch bei dieser Berechnung sind Le Strange und er Altersgefährten. Synchrone Lebensläufe ergeben sich naturgemäß nicht, wohl aber vergleichbare Lebensphasen. Nach dem Austritt aus der Armee unmittelbar nach dem Waffenstillstand verwaltet der Major für lange Jahre vorbildlich die Güter seines Großonkels. Dem entspricht auf der Seite des Dichters die Verwaltung der Literatur, zunächst in Arbeiten mit wissenschaftlichem Gepräge, dann stärker im Genre des Essays und schließlich lädt er nur noch Freunde zu sich ins Landhaus ein. Damit ist er nahe an dem Punkt, an dem Le Strange nurmehr allein mit der schweigsamen Köchin aus Beccles in dem großen Steinhaus lebt. Davon träumt auch der Dichter, als er durch die Straßen von Ajaccio geht und sich vorstellt, wie es wohl wäre, wenn er in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an sein Lebensende mit nichts anderem beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Schwerelos würde aus dieser Zeitmeditation die Prosa auf das Papier schweben, ähnlich wie er den Erzähler von Tlön sieht, den nichts kümmert in der Welt und der in der stillen Muße seines Landhauses an einer tastenden, an Quevedo geschulten Übertragung des Urn Burial von Thomas Browne arbeitet, die er nicht drucken zu lassen gedenkt. So könnte es sein, denkt der Leser, unversehens aber gerät die ruhende Anschauung zur verzehrenden Arbeit. Thomas Bernhard hat von steinernen Landhäusern nicht allein geträumt, er hat sie erworben, restauriert und in ihnen gewohnt und gearbeitet. In der Gestalt des Protagonisten von Beton sehen wir ihn vor uns. Die geplante Studie hat er fertig im Kopf, bereit für die Niederschrift, der Besuch seiner geistlosen Schwester läßt aber jeden Gedanken ans Schreiben ersticken. Nach der Abreise der naturgemäß in keiner Weise geistlosen Schwester ist die Lage störungsfrei und scheinbar ideal, tatsächlich aber ist die Niederschrift nun völlig ins Unmögliche entrückt. Sebalds Erzähler muß ähnliches geahnt haben, er beschädigt den Traum nicht und schließt die Tür des steinernen Hauses bevor er sie noch geöffnet hat.

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