Freitag, 1. April 2016

Vogelwelt

Kaum ein lebendiger Laut

Während der Kulturrevolution gab es die Nachricht, in einer chinesischen Stadt hätten die Werktätigen unterstützt von den Bauern der Umgebung auf ihren freien Tag verzichtet, um zum Wohl des Volkes und zum Preis des Großen Vorsitzenden für Stunden mit Rasseln und Klappern durch die Straßen zu ziehen, bis auch der letzte unter den Vögeln, die sich alle wegen des infernalischen Lärms nicht niedersetzen und Ruhe finden konnten, vor Erschöpfung tot vom Himmel gefallen war. Die Ernteschädlinge waren erledigt, der Vogelgesang war abgestellt. Unter den vielen grauenhaften Nachrichten aus dem China dieser Jahre nur eine harmlose und auf ihre Art vielleicht doch die grauenhafteste von allen. Sartre hat den Kommunismus als Humanismus eingeordnet. Wenn man, wie zu befürchten ist, unter Humanismus die Ausrichtung allen Interesses auf das vermeintliche Wohl der Menschen versteht, zeigt er hier seine von Grund auf häßliche Fratze.

Selysses hat die Vogelwelt immer im Auge und im Sinn. Am Brackwassersee Benacre Broad fällt ihm auf, daß nicht ein einziger Vogel über das samtbraune Wasser flog. In nur geringer Entfernung vom See aber ist der Major Le Strange umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Als Selysses sich wieder auf den Weg gemacht hat, sieht er draußen über dem Meer die Schwalben herumschießen. In einem fort ihre winzigen Schreie ausstoßend, durchschnitten sie ihr Flugfeld, geschwinder, als ihnen mit den Augen zu folgen war. Im Bull Inn ist er eingeschlafen mit dem Schrei einer Amsel im Ohr, und im Traum sieht er unter einem Holderbusch die Hühner scharren

Ein gewaltiger Sturm war über das Land und den Park hinweggegangen. Den Winter über und bis in den März hinein waren vier bis fünf Arbeiter andauernd mit dem Zerschneiden des Astwerks und dem Hinausschleifen und Verladen der Stämme beschäftigt. Zuletzt wurden von einem Bagger große Löcher gegraben und die heufudergoßen Wurzelstöcke hineingeschoben. Dadurch kam im wahrsten Sinne das Unterste zuoberst. Die Einstrahlung der Sonne zerstörte in kürzester Frist sämtliche Schattengewächse des Gartens, und immer mehr war es einem, als lebe man am Rand der Steppe. Wo vor kurzer Zeit noch bei Anbruch des Tages die Vögel so zahlreich und lauthals gesungen hatten, daß man manchmal das Schlafzimmerfenster zumachen mußte, wo die Lerchen am Vormittag über die Felder gestiegen waren und wo man in den Abendstunden bisweilen sogar eine Nachtigall aus dem Dickicht hörte, da vernahm man jetzt kaum noch einen lebendigen Laut.

Kaum noch ein lebendiger Laut. Was in China des selbstlosen Einsatzes der Werktätigen bedurfte, erhält Europa ohne Anstrengungen gratis. Es ist nicht das gleiche, wird man sagen, die Pflanzen werden wieder sprießen, die Vögel sind nur verzogen und werden zurückkommen, das aber sind Erwägungen außerhalb der Erzählung. Die englische Wallfahrt ist mit dem Verstummen der Vögel zum Ende gekommen, ein Jenseits gibt es nicht. Das anschließende, den Fragen des Seidenbaus gewidmete zehnte Kapitel hat den Charakter eines Epilogs nach Abschluß der Wanderung. Die Vögel waren die Fachleute des lebendigen Lauts. Welches Glück war größer, als vor dem schönen Überschwang ihres Lärmens das Fenster zu schließen, die Lerche, die ihr Lied mit einer triumphalen Himmelfahrt verband, die herzzerreißende Schönheit des Gesangs der Nachtigall aus dem Verborgenen.

Keine Kommentare: