Donnerstag, 20. Oktober 2016

Grußkarte

Puenty nie ma

Im Spiegel der Flurgarderobe steckte eine Visitenkarte mit einer Nachricht: Have gone to Ithaca. Yours ever – Ambrose. Die Visitenkarte ist als Bild in den Text eingefügt, die Abbildung enthält aber abgesehen von der New Yorker Anschrift des Ambros Adelwarth keine weiteren Nachrichten, so daß wir nur flüchtig darauf blicken. Was aber, wenn wir das Kärtchen auf dem Tisch eines Kaffeehauses finden würden, der Gast, der zuvor an dem Tisch gesessen hatte, ist gerade zur Tür hinaus. Auch dann würden wir das Kärtchen wohl nur ratlos eine Weile hin und her drehen, beschließen, daß mit Ithaca eher die amerikanische Stadt als die griechische Insel gemeint ist, um es dann beiseite zu legen; die Angaben sind einfach zu knapp, um ins Träumen zu geraten, jeder New Yorker kann schließlich dann und wann in das genau 222 Meilen entfernte Ithaca fahren oder fliegen, zu welchem Zweck und mit welchem Vorhaben auch immer.

Szczepan Twardoch erzählt vom antiquarischen Kauf eines Hegelbuches, in der er eine halbierte Weihnachtsgrußkarte findet, der Teil mit der Anschrift ist abgeschnitten, erhalten der Textteil. Auf der Bildseite sind die Farben garstig, die Motivgestaltung wenig geschmackvoll. Auf der Rückseite als Anrede ein männlicher Name in einer Koseform, dann der Text: ich kann Dir kein Geschenk schicken, aber es gibt keinen Augenblick, in dem ich in Gedanken nicht bei Dir bin. Lies in einer freien Minute René Chars Commune présence. Ich bin die Deine geblieben. Abschließend ein nicht eindeutig zu entziffernder Frauenname. Jeder Satz, jede Wortgruppe wirft Fragen auf, alle Antworten bleiben ihrerseits fraglich, gleichwohl bewegen wir uns auf einem gestalteten und weitaus engerem Sinnfeld als bei der Ithacanachricht.

Wer schreibt wem, eine Ehefrau ihrem Mann, eine Frau ihrem Geliebte, eine Mutter ihrem Sohn – zur letztgenannten Möglichkeit paßt die abschließende Formel nicht recht, aber wer weiß. Warum ist man getrennt – darauf sind die möglichen Antworten endlos. Ist man für eine kurze Zeit getrennt oder für eine längere – wieder mit Hinblick auf die Schlußformel für eine längere Zeit wohl schon. Wer von den beiden ist nicht am Ort – man denkt zuerst an sie, sicher aber ist das keineswegs. Warum kann sie kein Geschenk schicken – fehlen ihr die Mittel, die Einkaufsmöglichkeiten, ist sie durch eine Krankheit ans Haus gebunden? Wie paßt die recht geschmacklose Karte zu dem feinsinnigen wenn auch äußerst kraftvoll gebauten französischen Lyriker – vielleicht war eine gediegenere Karte nicht aufzutreiben. War der Eigner des Hegelbandes der Adressat, oder hatte das Buch nicht zum ersten Mal den Besitzer gewechselt?

So wenig sich auch nur eine der Fragen sicher beantworten läßt, so sicher haben wir den Eindruck eines schönen Seelenbezirks in widrigen Umständen. Ist es ein gutes oder ein schlechtes Omen, wenn der Hegelband samt der halben Grußkarte, Jahre später offenbar, in den antiquarischen Handel gelangt ist? Bei Adelwarth wird das schlimme Ende mit allen Umständen erzählt, hätten wir aber nur das Kärtchen und nicht das Buch, gäbe es keinen Grund Schlimmes anzunehmen. Puenty nie ma, eine Pointe gibt es nicht, schließt Twardoch gern seine Beobachtungen.

Keine Kommentare: