Donnerstag, 17. November 2016

Steinbrücke, Holzbrücke

Ort in der Fremde


Selysses hat fast seinen Geburtsort erreicht, auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern blieb er lange stehen, horchte auf das gleichmäßige Rauschen der Ach und schaute in die nun alles umgebende Finsternis hinein. Uwe Schütte weist auf die Ähnlichkeit mit dem ersten Absatz von Kafkas Schloß hin, ein anderer Wanderer, der kurz vor Erreichen seines Ziels auf einer Brücke längere Zeit nachdenklich innehält: Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstraße zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor.

In seinem fiktionalen Text ist Kafka frei in der Gestaltung seiner Brücke, er entscheidet sich für eine Holzbrücke, Selysses muß eine reale, aus Stein gebaute Brücke betreten. Er hört, wie unter ihm der Fluß dahin rauscht, zu sehen ist er in der Dunkelheit kaum noch, von der umgebenden Landschaft sind allenfalls schemenhaft noch abgedunkelte Farbschattierungen wahrnehmbar. Ob unter der Brücke des Landvermessers ein Gewässer fließt, erfahren wir nicht, eher wird wohl nur eine Geländeunebenheit überwunden. Ganz vorn ist es weiß vom Schnee, weiter hinten milchig weiß vom Schnee und Nebel, einzelne schwarze Flecken, ganz hinten nur noch das Grau und Schwarz der Nacht.

Der Landvermesser, der ohne Vergangenheit aus dem Unbekannten kommt, geht in die Kälte einer unbekannten Zukunft, die sich, soweit ihm darein folgen können, nicht gut anläßt. Für Selysses ist sein Geburtsort gleich hinter der Brücke weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Diesen Ort aber betritt er dann auch kaum, er betritt vor allem den Ort, der zu seiner Kindheit hinter der Brücke gelegen hatte.

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