Dienstag, 27. Juni 2017

Ankleiden

Wetterleuchten

Er hörte gleichmäßig ihren Atem gehen. In dem Wetterleuchten, das ab und zu über den Himmel fuhr, erschien ihm für kürzeste Augenblicke ihr schönes Gesicht, und dann rauschte draußen gleichmäßig der Regen herunter, die weißen Vorhänge wehten ins Zimmer herein, und er spürte im Einschlafen als ein leichtes Nachlassen des Drucks hinter meiner Stirn den Glauben und die Hoffnung, endlich erlöst zu sein. Vor dem Morgen aber noch erwachte er aus einem Traum mit einem derart abgründigen Gefühl der Verstörung, daß er sich, ohne Marie auch nur ansehen zu können, wie ein Seekranker aufrichten und an den Bettrand setzen mußte. Hätte er doch nur traumlos in den Morgen schlafen können, um erst nach Marie zu erwachen, wie sie gerade zurück kommt aus dem Badezimmer mit den altertümlichen Wasserhähnen und der riesigen altertümlichen Brause, um sich bereit zu machen für den Tag. Watching a woman getting dressed ist quite different from watching her getting undressed, it’s more of an aesthetic experience, it burns softly into the soul and it may heal your heart. Geheilt dermaßen in Marienbad hätte sich Austerlitz nicht Jahre später auf die Suche begeben müssen nach der verlorenen Marie.

Samstag, 24. Juni 2017

Judge Roy Bean

Urteilsenthaltung

Bei Carrère spricht ein Richter von sich und seiner Kollegin als von großen Richtern, der Autor fragt sich, was gemeint sein könnte. Bei den kreativen Berufen wie Dichter, Maler, Musiker gibt es relativ verläßliche Maßstäbe für die Bemessung von Größe, aber bei Richtern? Den Gestalten des Buches der Richter, Debora etwa, könnte man Größe zusprechen, aber damals waren die Beschreibungen des richterlichen Berufsbildes noch ganz anders als heute. Auch die salomonische Urteilsfindung paßt kaum noch in die moderne Rechtspraxis. Mancher mag kurz an den legendären Judge Roy Bean denken, ein entschiedener Vertreter der Rough Justice, man wünscht ihn sich nicht an das örtliche Amtsgericht. Frederick Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaft studiert und in der Folge, wie er gelegentlich mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Die Art, wie er auf sein Berufsleben zurückblickt, läßt, wenn es denn einen Bemessungsmaßstab gäbe, nicht auf einen großen Richter schließen, andererseits aber ist einzuräumen, daß Distanz der Rechtsfindung im Grunde förderlich ist. Et puis, fügt Carrère hinzu, il y a la phrase de l’Évangile: Ne jugez pas. Da ist er wohl nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache, denn wer wollte bezweifeln, daß ein funktionierendes Rechtssystem Voraussetzung jeder darüberhinausgehenden privaten Urteilsenthaltung ist.

Mittwoch, 21. Juni 2017

Córdoba

Kurzerhand

Yo nunca llegaré a Córdoba, muß sich Lorcas Reiter eingestehen, für den Leser der Prosa Sebalds ist Córdoba das Heim des Erzählers, das er nie erreicht, nie kennenlernt. Er, der Leser, ist dabei, als der noch ledige junge Erzähler seine Unterkunft in Manchester bezieht und er ist auch dabei, als der Erzähler, inzwischen verheiratet, für seine Frau Clara und sich eine Wohnung in Hingham findet. Dann, Mitte Mai, kauft Clara eines Nachmittags kurzerhand ein Haus, und fortan sind wir von Besuchen ausgeschlossen.

Die erste Begegnung mit dem Erzähler haben wir in Wien, und überhaupt ist die Absenz der eigenen Wohnstätte, die wir mit guten Gründen in Südostengland vermuten, nirgends auffälliger als in den Schwindel.Gefühlen. Die erste der zwei Alpenreisen führt den Erzähler von Wien aus weiter nach Venedig und dann über Padua bis Verona, von wo aus er panikartig die Heimreise antritt, wir begleiten ihn aber nur bis zum Brenner, weitab noch von seinem vermuteten Wohnort. Die zweite Reise, sieben Jahre später, führt in mehr oder weniger auf der gleichen Route erneut nach Verona und dann weiter in die Gegend von Bruneck. Die Heimreise, die er diesmal unter geordneten Umständen antritt, führt ihn zunächst zu seinem Geburtsort im Allgäu, hier können wir die Wohnung betreten, in der er seine Kindheit verbracht hat. Von dort aus geht es weiter, den Rhein hinab, über den Ärmelkanal und schließlich nach London. Langsam bewegt sich schließlich der Zug aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus, das Ziel aber erreicht der Leser nicht, aunque sepa los caminos.

Es ist keineswegs verbürgt, daß der Erzähler nach seiner Italien- und Alpenfahrt zuhause angekommen ist. Vermutlich erreicht ihn dort die Nachricht vom Tod Bereyters, aber verbürgt ist auch das nicht. Ein Photoalbum seiner Mutter bringt den Erzähler später auf die Idee, dem Lebensweg des Onkels Adelwarth näher zu erforschen, eher hat er die Mutter besucht, als daß die mitsamt dem Album nach England gekommen wäre. Von wo aus das Flugzeug nach Newark startet, erfahren wir nicht. Etwas mehr Klarheit bringen die Ringe des Saturn. Zwar kann die windungsreiche Einleitung den Eindruck erwecken, der Erzähler sei unmittelbar aus dem Spital, in das er in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit eingeliefert worden war, zu seiner Fußreise aufgebrochen, tatsächlich aber ist der Ausgangspunkt das Haus, das er offenbar nach wie vor bewohnt mit Clara, die im Verlauf des Buches auch einmal erwähnt wird. Ein Blick auf oder gar ein Zugang zu dem Haus ist uns aber nicht vergönnt. Austerlitz schließlich: der Erzähler trifft ihn bei den verschiedensten Gelegenheiten und an den verschiedensten Orten, in Bahnhöfen, in Cafés und Bars, auf der Straße, am Fährhafen, an dessen Arbeitsplatz im kunsthistorischen Institut und auch in Austerlitz' Wohnung in der  Alderney Street. Der nach den gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu erwartende Gegenbesuch, für den Leser die Gelegenheit, Haus und Garten des Erzählers in Augenschein zu nehmen, bleibt aus.

Chandlers Lady in the Lake ist mit subjektiver Kamera verfilmt worden, der Zuschauer schaut mit Marlowe zu dessen Augen hinaus, bekommt ihn selbst aber allenfalls zu Gesicht, wenn er sich im Spiegel betrachtet. Das optische Medium vergröbert das Prinzip des Icherzählers und verdeutlicht es dabei: Wir schauen mit dem Icherzähler in die Welt aber nicht in ihn hinein oder doch nur soweit, wie er uns berichtend an seinen Introspektionen teilhaben läßt. Marlowe hat eine Wohnung, die der Leser betreten darf, mit, so stellt er es dar, einem Perkolator und einem Schachbrett als den wichtigsten Einrichtungsgegenständen. Die Wohnung ein bloßer Rahmen für das Ich des Icherzählers, ebenso das Büro, in dem er nachdenkt und uns davon soviel erzählt, wie er für richtig hält. Er kann den Innenblick hinter dem Außenblick verstecken, indem er etwa geduldig die hoffnungslosen Irrwege eines Käfers auf der Schreibtischplatte verfolgt und beschreibt - vielleicht denkt er aber auch gar nicht und schaut nur gedankenlos dem Käfer zu. Der Icherzähler klassifiziert die Schwindel.Gefühle im Gespräch mit Luciana Michelotti als Kriminalroman. Über sich selbst gibt er noch weniger preis als Marlowe, der Blick nach ist außen betörend reich und detailliert, der nach innen streng gefiltert. Wäre es bei der Bleibe in Manchester geblieben, mit der Teas-Maid anstelle von Perkolator und Schachbrett, würde der Zugang für uns weiterhin offenstehen, ein Familienheim aber, wie Clara es kurzerhand gekauft hatte, ist nicht angemessen für den Shamus und muß verborgen bleiben. Der Icherzähler als Wirerzähler, das wäre eine andere Geschichte

Sonntag, 18. Juni 2017

Finita la commedia

Sprachgewalt

Wenn ein Festredner zu seiner Festrede ansetze, habe er immer, so Tschechow, das nahezu unwiderstehliche Verlangen, sich unter dem nächstgelegenen Tisch zu verkriechen, an der legendären Ansprache des italienischen, seinerzeit in Deutschland beruflich tätigen Fußballehrers Trapattoni aber hätte er  zweifellos seine helle und uneingeschränkte Freude gehabt. Kafka hätte nicht gezögert, der Rede das Ehrenprädikat des Kafkaesken zuzuerkennen. Der Dichter, der bekannt hat, von Jahr zu Jahr werde es ihm unmöglicher, sich unter ein Publikum zu begeben, dem aber entgegen einer verbreiteten Einschätzung Humor nicht fremd war, wäre bei diesem Ereignis gern dabeigewesen, um der Sprachgewalt des Italieners seine Reverenz zu erweisen. Proust erinnert sich, wie er in seinen Kindertagen beim Vorlesen oft ganze Abschnitte und Seiten verträumte, wodurch die Handlung ihm aber nur umso dunkler und schöner schien. Die durch Unaufmerksamkeit verursachten Lücken wurden noch dadurch vermehrt, daß die Mutter zur Schonung des Knabengemüts alle Liebesszenen übersprang. Die bizarren Bewegungen, denen das Geschehen auf diese Weise unterworfen war, schienen die tiefsten und erregendsten Geheimnisse zu bergen: auf das Schönste wären diese teuren Erinnerungen aus glücklichen Zeiten bei Trapattonis Rede wachgerufen worden. Eine vollständige, lückenlose Exegese des Redetextes wäre keine geringere Herausforderung als es seinerzeit die Entzifferung der Keilschrift war. Eine autorisierte Rückübersetzung ins Italienische steht nach wie vor aus. Der doppelt legendäre Schlußsatz: Ich habe fertig könnte mit Finita la commedia wiedergegeben werden, mit den Worten also, vermittels derer Astrow Tschechows Drama Djadja Wanja resümiert.

Mittwoch, 7. Juni 2017

Disdain

Stumm und klug

Die Häuser der Altstadt draußen sind in einem bösen Zustand. Aus schwarzen Eingängen und Mauerlöchern schauen die mageren korsischen Katzen hervor, stumm und klug. Der Blick der Katze verunsichert uns zutiefst. What it is cats know about us that makes them disdain us so much, fragt sich Philip Marlowe, in der Obhut von Banville alias Benjamin Black. Nicht, was haben wir ihnen angetan, daß sie uns hassen müssen, ist die Frage, sondern welche verächtlichen Züge unseres Wesens haben sie entdeckt, davon gibt es nicht wenige und nichts läßt sich verstecken vor ihrem Blick. Altman hat wohl eine ähnliche Intuition gehabt wie Banville, als er The Long Goodbye abweichend vom Buch mit einer Katzenszene beginnen ließ. Marlowes Katze frißt nur Kattekit, im Supermarkt ist an diesem Abend aber nur Kittekat zu haben. Marlowe, genauer gesagt Elliott Gould füllt das Kittekat um in eine alte Kattekitdose, die er die Katze ausführlich studieren läßt, bevor er den Inhalt in den Freßnapf gibt. Die Katze straft ihn mit einem Blick of deep disdain und rührt das Fressen nicht an. Der Grund der Verachtung muß irgendwo in unserer modernen Lebensweise zu suchen sein. Im Blick der altägyptischen Katzengöttin ist Verachtung nicht zu entdecken, und auch die korsischen Katzen schauen wenn nicht freundlich, das ist der Katze fremd, so doch emotionslos in die Welt. Nicht einmal Verwunderung ist ihnen anzusehen über die großen ungefügen Wesen, die ohne Sinn und Verstand in ihrer Stadt herumirren.

Donnerstag, 1. Juni 2017

Hier und heute

Selterswasser

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre sei er, teilweise aus Studienzwecken, teilweise aus anderen, ihm selbst nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren: niemand wird behaupten, er wisse nun, warum der Erzähler den Antwerpener Bahnhof aufsucht, immerhin aber weiß er von ihm mehr als von Austerlitz, über dessen Aufenthaltsgründe nichts berichtet wird. Im weiteren Verlauf des Buches werden wir aus Austerlitz‘ eigenem Munde ausführlich unterrichtet über sein zurückliegendes Lebensschicksal, seine doppelte Kindheit und Jugend im tschechischen Prag und im walisischen Bala, mehr oder weniger gar nicht aber über sein Leben hier und heute. Es war so gut wie unmöglich, mit Austerlitz über seine Person zu reden, Auskunft über seine Lebensumstände zu erhalten, nur beiläufig erwähnt er etwa seine Dozentur an einem Londoner kunsthistorischen Institut. Die Zurückhaltung wirkt ansteckend auf den Erzähler, er stellt keine Fragen und schweigt über seine Beobachtungen. Viel zu beobachten gibt es auch nicht, immer der gleiche Schopf, das seltsam gewelltes Haar, wie man es sonst nur an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm gesehen hat, und immer der gleiche Aufzug, schwere Wanderstiefel, eine Art Arbeitshose aus verschossenem blauen Kattun, sowie ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett: die gleichbleibende Erscheinung scheint anzuzeigen, daß im aktuellen Leben eine Entwicklung, eine Lebensgeschichte nicht mehr stattfindet, Austerlitz ist zeitenthoben. Nicht nur sich selbst, seine aktuelle Person hat Austerlitz nicht im Blick, auch für das Alltagstreiben der Menschen hat er kein Auge, die Buffetdame im Bahnhofssauschank, die mit übereinandergeschlagenen auf einem Barhocker thront und sich mit vollendeter Hingabe und Konzentration die Fingernägel feilt, überhöht er gleich zur Göttin der Vergangenheit und befreit sie so von ihrem banalen Dasein. Die Arbeiter in den Goldminen der City in der Salon Bar des Great Eastern Hotel in London, die den Erzähler befremden und ratlos lassen, hat Austerlitz anscheinend gar nicht wahrgenommen.

Der Erzähler hat einen besonderen Blick für einsame Menschen in der Gesellschaft eines Getränks. Im Bahnhofsbuffet war ihm gleich der einsame Fernettrinker aufgefallen, ein abgründiger Genuß, der ihm nicht fremd ist, er selbst hatte in Verona, am hellichten Tag, in der Bar auf der Piazza einen doppelten Fernet mit Eis bestellt. Die Beobachtung des Pastistrinkers im Café des Sports in Evisa wird ihm zu einem geradezu mystischen Erlebnis: Seine vom Star getrübten Augen, die der alte Mann gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. – Als von Schwindelgefühlen geplagter Reisender in Oberitalien legt der Erzähler zudem ein enges Verhältnis zu Espresso und Cappuccino an den Tag. Einige von den zahlreichen, extremer Zufälligkeit geschuldeten Treffen des Erzählers mit Austerlitz haben eine Gastwirtschaft als Schauplatz, das Café des Espérances in Lüttich, das Billardcafé Terneuzen, die Salon Bar des Great Eastern Hotel in London. Austerlitz sitzt immer schon da, wenn der Erzähler eintritt, nach der Geschäftsordnung des Gaststättengewerbes müßte ein Getränk vor ihm auf dem Tisch stehen, eine Tasse oder ein Glas, wir bekommen es aber nicht zu Gesicht. Es könnte Kaffee, Bier oder auch Wein sein, wir votieren, so wie wir Austerlitz einschätzen, für Selterswasser, keine geeignete Grundlage für Mystizismus oder metaphysische Anwandlungen. Das Treffen in der Bistrobar Le Havane in Paris, unweit der Metrostation La Glacière, ist nicht zufällig, sondern anberaumt. In dem hoch an der Wand angebrachten Fernseher liefen gerade Bilder eines seit Wochen schon dauernden Brandes in Indonesien, vergessen ist auch hier, wenn nicht das Heute, so doch das Hier, kein Gedanke an und kein Blick für die Getränke auf dem Tisch.

In der alten Nationalbibliothek in Paris hatte die Tischnachbarin Austerlitz auf einen Kaffee ins gegenüber gelegenen Arkadencafé eingeladen. Der Kaffee ist nicht wörtlich zu nehmen, für Mme de Verneuil besteht er aus Pfefferminztee und Vanilleeis. Austerlitz‘ Order bleibt im Dunklen, man kann vermuten, aus Desinteresse an Änderung und Spezifizierung habe er tatsächlich einen Kaffee bestellt, falls nicht ein empfindlicher Magen dem entgegenstand. Auch der Morgenkaffee beim letzten Treffen des Erzählers mit Austerlitz, wieder in der Bistrobar Le Havane, ist als Chiffre zu sehen, hinter der sich alles mögliche verbergen kann. Nach seinem Vater wolle er weiter suchen, so Austerlitz, aber auch nach Marie de Verneuil, die er seit Jahren schon nicht mehr gesehen habe. Zum ersten Mal ist sein Blick nicht ausschließlich auf die Vergangenheit oder in die Höhen von Wissenschaft und Kunstbetrachtung gerichtet, sondern auch auf sein hier und heute gelebtes Leben, seine Gegenwart und seine Zukunft. Bei einem weiteren Zusammentreffen von dann nicht zwei, sondern drei Personen sähe es vielleicht anders aus, die Alltagsdinge würden stärker ins Gewicht fallen, aber dazu kommt es nicht.