Selterswasser
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre sei er, teilweise aus Studienzwecken, teilweise aus anderen, ihm selbst nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren: niemand wird behaupten, er wisse nun, warum der Erzähler den Antwerpener Bahnhof aufsucht, immerhin aber weiß er von ihm mehr als von Austerlitz, über dessen Aufenthaltsgründe nichts berichtet wird. Im weiteren Verlauf des Buches werden wir aus Austerlitz‘ eigenem Munde ausführlich unterrichtet über sein zurückliegendes Lebensschicksal, seine doppelte Kindheit und Jugend im tschechischen Prag und im walisischen Bala, mehr oder weniger gar nicht aber über sein Leben hier und heute. Es war so gut wie unmöglich, mit Austerlitz über seine Person zu reden, Auskunft über seine Lebensumstände zu erhalten, nur beiläufig erwähnt er etwa seine Dozentur an einem Londoner kunsthistorischen Institut. Die Zurückhaltung wirkt ansteckend auf den Erzähler, er stellt keine Fragen und schweigt über seine Beobachtungen. Viel zu beobachten gibt es auch nicht, immer der gleiche Schopf, das seltsam gewelltes Haar, wie man es sonst nur an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm gesehen hat, und immer der gleiche Aufzug, schwere Wanderstiefel, eine Art Arbeitshose aus verschossenem blauen Kattun, sowie ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett: die gleichbleibende Erscheinung scheint anzuzeigen, daß im aktuellen Leben eine Entwicklung, eine Lebensgeschichte nicht mehr stattfindet, Austerlitz ist zeitenthoben. Nicht nur sich selbst, seine aktuelle Person hat Austerlitz nicht im Blick, auch für das Alltagstreiben der Menschen hat er kein Auge, die Buffetdame im Bahnhofssauschank, die mit übereinandergeschlagenen auf einem Barhocker thront und sich mit vollendeter Hingabe und Konzentration die Fingernägel feilt, überhöht er gleich zur Göttin der Vergangenheit und befreit sie so von ihrem banalen Dasein. Die Arbeiter in den Goldminen der City in der Salon Bar des Great Eastern Hotel in London, die den Erzähler befremden und ratlos lassen, hat Austerlitz anscheinend gar nicht wahrgenommen.
Der Erzähler hat einen besonderen Blick für einsame Menschen in der Gesellschaft eines Getränks. Im Bahnhofsbuffet war ihm gleich der einsame Fernettrinker aufgefallen, ein abgründiger Genuß, der ihm nicht fremd ist, er selbst hatte in Verona, am hellichten Tag, in der Bar auf der Piazza einen doppelten Fernet mit Eis bestellt. Die Beobachtung des Pastistrinkers im Café des Sports in
Evisa wird ihm zu einem geradezu mystischen Erlebnis: Seine vom Star getrübten Augen, die der alte Mann gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. – Als von Schwindelgefühlen geplagter Reisender in Oberitalien legt der Erzähler zudem ein enges Verhältnis zu Espresso und Cappuccino an den Tag. Einige von den zahlreichen, extremer Zufälligkeit geschuldeten Treffen des Erzählers mit Austerlitz haben eine Gastwirtschaft als Schauplatz, das
Café des Espérances in Lüttich, das Billardcafé Terneuzen, die Salon Bar des Great Eastern Hotel in London. Austerlitz sitzt immer schon da, wenn der Erzähler eintritt, nach der Geschäftsordnung des Gaststättengewerbes müßte ein Getränk vor ihm auf dem Tisch stehen, eine Tasse oder ein Glas, wir bekommen es aber nicht zu Gesicht. Es könnte Kaffee, Bier oder auch Wein sein, wir votieren, so wie wir Austerlitz einschätzen, für Selterswasser, keine geeignete Grundlage für Mystizismus oder metaphysische Anwandlungen. Das Treffen in der Bistrobar
Le Havane in Paris, unweit der Metrostation La Glacière, ist nicht zufällig, sondern anberaumt. In dem hoch an der Wand angebrachten Fernseher liefen gerade Bilder eines seit Wochen schon dauernden Brandes in Indonesien, vergessen ist auch hier, wenn nicht das Heute, so doch das Hier, kein Gedanke an und kein Blick für die Getränke auf dem Tisch.
In der alten Nationalbibliothek in Paris hatte die Tischnachbarin Austerlitz auf einen Kaffee ins gegenüber gelegenen Arkadencafé eingeladen. Der Kaffee ist nicht wörtlich zu nehmen, für Mme de Verneuil besteht er aus Pfefferminztee und Vanilleeis. Austerlitz‘ Order bleibt im Dunklen, man kann vermuten, aus Desinteresse an Änderung und Spezifizierung habe er tatsächlich einen Kaffee bestellt, falls nicht ein empfindlicher Magen dem entgegenstand. Auch der Morgenkaffee beim letzten Treffen des Erzählers mit Austerlitz, wieder in der Bistrobar
Le Havane, ist als Chiffre zu sehen, hinter der sich alles mögliche verbergen kann. Nach seinem Vater wolle er weiter suchen, so Austerlitz, aber auch nach Marie de Verneuil, die er seit Jahren schon nicht mehr gesehen habe. Zum ersten Mal ist sein Blick nicht ausschließlich auf die Vergangenheit oder in die Höhen von Wissenschaft und Kunstbetrachtung gerichtet, sondern auch auf sein hier und heute gelebtes Leben, seine Gegenwart und seine Zukunft. Bei einem weiteren Zusammentreffen von dann nicht zwei, sondern drei Personen sähe es vielleicht anders aus, die Alltagsdinge würden stärker ins Gewicht fallen, aber dazu kommt es nicht.