Samstag, 21. Oktober 2017

Schwarz vor Augen

Ausgeschieden


Quatre corps par mètre carré soit un total de huit cents corps chiffre rond 

On ne saurait aimer la masse humaine ni en gros ni en détail

Schwarz von Menschen, schwarz vor Augen, schwarz vor Augen von Menschen. Sloterdijk zitiert Canetti: Einige wenige Leute mögen beisammen gestanden haben. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. - Das frühe 20. Jahrhundert ist die hohe Zeit der Massen im öffentlichen Raum. Die Massen, las masas, wurden unterschiedlich bewertet, den einen hielten sie für bedrohlich, den anderen waren sie Heilsbringer, wenn sie denn, etwa als Proletariat, auf der richtigen Seite und für Fortschritt und Revolution standen. Aus einer mittleren Position heraus wurde und wird die Entwicklung der Massen zum Subjekt unter dem Namen einer mündigen Öffentlichkeit erhofft. Hier gibt es wiederum zwei Lager, die einen halten das Projekt für so gut wie gelungen, die anderen sehen Indizien für eine Rückwärtsbewegung, wenn es denn je eine Bewegung nach vorn gegeben haben sollte. Wer versehentlich auch nur für Sekunden in das sogenannte Unterhaltungsprogramm eines privaten Fernsehsenders gerät, kann sich eigentlich nur auf die Seite der Zweifler schlagen.

Sebald ist der Dichter der Vereinzelten und Einsamen, Freude und Genugtuung beim Anblick einer Menschenmasse kann man bei ihm und seinen Gestalten nicht erwarten. Sie hatte sich einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Was Mathild Seelos im einzelnen erlebt hatte, weiß niemand. Vor dem inneren Auge ziehen Menschenmassen vorbei, Gewalt, Blut, Tod. Unmittelbar vor dem ersten Krieg war Mathild in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen. Ordensgemeinschaften sind keine Menschenmassen, vielleicht aber ihr Kondensat, sie versuchen auf Dauer zu stellen, was diese für den Augenblick generieren, ein gemeinsames Erleben, eine gemeinsame Sicht, ein gemeinsames Ziel. Mathild Seelos war wohl einfach kein Gemeinschaftsmensch, nicht erst die Schreckenserlebnisse hatten sie zweifeln lassen. Nach ihrer Rückkehr ins Dorf hat sie vollständig rückgezogen gelebt und sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch die gehässigen Bemerkungen ihrer Mitbewohner in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt.

Aurach hatte als Kind und Heranwachsender andere Eindrücke von den Massen. Aus der Zeit nach 1933 kann er sich an kaum etwas anderes erinnern als an Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat. Entweder es war Maifeiertag oder Fronleichnam, Fasching oder der zehnte Jahrestag des Putschs, Reichsbauerntag oder die Einweihung des Hauses der Kunst. Entweder trug man das Allerheiligste Herz Jesu durch die Straßen oder die sogenannte Blutfahne. - Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden, plötzlich ist alles schwarz von Menschen: es ist, als sollte genau dieser Effekt durch eine pausenlose Abfolge organisierter Aufmärsche und Prozessionen ausgeschaltet werden, die Masse ist gezähmt, auch die Zuschauermassen sieht man wohlerzogen ausharrend hinter den Sperrgittern. Von Mal zu Mal hat bei den einander ablösenden Versammlungen und Aufmärschen die Anzahl der verschiedenen Uniformen und Abzeichen zugenommen, es war als entfalte sich vor den Augen der Zuschauer eine neue Menschenart nach der anderen, neue Menschenarten, von denen man sich gewiß nichts Besseres erhoffen kann als von den alten. Gleichermaßen erfüllt von Bewunderung, Zorn, Sehnsucht und Ekel hat Aurach das Kind in der je nachdem jubelnden oder ergriffenen Menge gestanden und seine Unzugehörigkeit als Schande empfunden.
Maximilian Aychenwald berichtet vom Reichsparteitag in Nürnberg. Stunden vor der Ankunft des Führers seien die aus allen Teilen des Landes herbeigekommenen Menschen dicht an dicht und in erwartungsvoller Erregung entlang der vorbestimmten Route gestanden, bis endlich, aus dem brausenden Jubel heraus, die Motorkavalkade der schweren Mercedeswagen erschien und im Schrittempo durch die enge freigelassene Gasse glitt. Er selbst habe sich in dieser zu einem einzigen Lebewesen zusammengewachsenen und von sonderbaren Kontraktionen durchlaufenen und durchzuckten Menge als Fremdkörper empfunden, der nun gleich zermahlen und ausgeschieden werden würde. – Die Lage hat sich verändert, die ebenso grelle wie graue Vielfalt der Aufmarschanlässe ist beiseite gewischt von dem alles gespenstisch überstrahlenden Großereignis. Ein Zwiespalt zwischen Bewunderung und Ekel besteht nicht mehr, man weiß, was man zu denken hat.

Die drei Probanden, Mathild, Aurach und Aychenwald, leiden sämtlich an Massenunverträglichkeit, Aychenwald hat, wenn man so will, den Vorteil, es nicht mehr herausfinden zu müssen. Der Erzähler, Selysses, wird nicht mit politisch motivierten Menschenansammlungen konfrontiert, sie sind inzwischen selten geworden und wirken, wenn sie stattfinden, wie an den Haaren herbeigezogen*. Den sich zusammenrottenden Spaßversessenen geht er nach Möglichkeit aus dem Weg, die Einladung zu den Festspielen in Bregenz angenommen zu haben, reut ihn noch Jahre später. Dem Ferienvolk aber kann er nicht immer entkommen, eine einzige buntfarbene Menschenmasse schob sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter waren es, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten. Daraufhin reist er ab aus Limone.

* Catalunya ausgenommen

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