Savannenprägung
Sloterdijk, der sich selbst, und niemand würde ihm widersprechen, als behauptungsfroh einschätzt, legt Wert auf die Feststellung, die Wandlung vom Affen zum Menschen habe sich in der Savanne vollzogen. Aufgrund seines nunmehr dezidiert aufrechten Gangs hatte der neuentstandene Hominide fortan einen hervorragenden Rundumblick bis zum Horizont. Nur vier Objekte können sich in seinem übersichtlichen Gesichtsfeld bewegen, er selbst, die Genossen, der Feind oder die Beute. Auch ein Sonderproblem findet seine Lösung: Schwindel ist eine neurologische Monstrosität, die eintritt, wenn sich der Horizont selbst in Fahrt versetzt. Nähern wir uns mit diesem Ansatz den beklemmenden Schwindelgefühlen des Dichters. Sie treten erstmalig auf in der Stadt Wien. Eine Stadt definiert sich durch den Umstand, daß der Horizont verstellt ist. Tagelang wandert der Dichter ziellos durch Wien, um bei einem späteren Blick auf den Plan zu seinem Erstaunen festzustellen, daß er über einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich nie hinausgekommen war. Offensichtlich handelt es sich bei dem lunar geformten Umriß seines Wanderbezirks um Reste des eingestürzten und versunkenen Horizonts, der mithin eine in besonderem Maße schwindelerregende Abwärtsbewegung vollzogen hatte. Während der anschließenden Bahnfahrt durch das Friaul reißt der Dichter das Abteilfenster herab, im Morgengrauen rasen draußen verschobenes Erdreich, Felsbrocken, in sich zusammengesunkenes Bauwerk, Schutt- und Schotterhalden vorbei, eine seitenverkehrte Variante der klassischen, von Sloterdijk als Beleg seiner Theorie angeführten Situation: man sitzt im Zug und wartet auf die Abfahrt, nun rollt der Zug an, wird schneller und schneller und dann ... verschwindet wider alles Erwarten der letzte Wagen des Zuges vom Gleis gegenüber aus dem Bahnhof, der eigene, was man auf Grund der fest in den Genen verankerten Savannenprägung nicht wahr haben wollte, steht noch still. Wen kann es wundernehmen, wenn nach dem Erlebnis im Friauler Land auch der anschließende Italienaufenthalt unter dem Unstern der Schwindelgefühle steht. Bei der zweiten Italienreise, sieben Jahre später, fehlen die horizontinduzierten Ursachen und mithin die Schwindelgefühle weitgehend. Wie Sloterdijk an anderer Stelle beipflichtend zitiert: Die Grundlage ist immer noch das Fundament der Basis und wird es auch bleiben.