Donnerstag, 25. Januar 2018

Himmelfahrt

Gestern und heute

Andrea Mantegnas Himmelfahrt wirkt in der oberen Bildhälfte wie eine flugtechnische Studie aus vormoderner Zeit. Elf zwergwüchsige Engel sind auf eine nicht ganz durchsichtige Art mit dem Flugapparat verbunden, ihre Flügel schwirren mit der Schlagfrequenz des Kolibris, regenerative, ursprungslose, unerschöpfliche Energie. Der Maler unterschlägt das dynamische Detail des Flügelschlags, ihm kommt es an auf die majestätische Form des Abhebens, vielleicht reicht auch für den Augenblick noch der bodennahe Aufwind, und die Flügel stehen tatsächlich still. Eile ist jedenfalls nicht geboten, am ptolemäischen Himmel sind die Distanzen kurz, noch vor Einbruch der Nacht wird man am Ziel sein. Wir wissen, es ist anders. Kaum außer Sichtweite ändert der Flugkörper radikal das Verhalten, mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit geht es dahin, vorbei an Cassiopeia, den Pleiaden, der Auriga, fast verloren ist der Reisende in dem überall ausgestreuten flimmernden Staub der Myriaden namenloser Sterne, durch riesige Regionen interstellaren Gases sodann, die sich zu gewitterwolkenartigen, mehrere Lichtjahre in den Weltraum hinausragenden Gebilden zusammenballen und in denen in einem unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig sich intensivierenden Verdichtungsprozeß neue Sterne entstehen. Hier, in der Nähe des Geburtsortes der Sterne, ist das Ziel erreicht, die Halle, in der er sitzen wird zur Rechten Gottes und von dannen er letztendlich wird kommen, zu richten die Lebendigen und die Toten. Wir wissen es also besser und naturgemäß wußte auch der Herr es besser, aber er wollte uns verschonen mit aufklärerischen Erkenntnissen jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Kopernikus, Domherr von Beruf, Kepler, Newton, kreuzfromme Leute allesamt, und doch haben sie das uns schützende Geheimnis judasgleich verraten.

Dienstag, 23. Januar 2018

Lacrimosa

Gestrandet

Lacrimi și sfinți, die ursprüngliche Fassung, Des larmes et des saints, die überarbeitete Fassung, Von Tränen und von Heiligen, die Übersetzung der überarbeiteten Fassung, für Cioran bilden, in welcher Sprache auch immer, Heiligkeit und Tränen eine unauflösliche Einheit. Im Werk des Dichters tritt, gemessen am Durchschnitt zeitgenössischer Prosa, eine stattliche Zahl von Heiligen auf, die aber trockenen Auges sind, es sei denn, bei der Vision des im Sumpf treibenden Franziskus würde es sich um die traumgerechte Umformung eines unterdrückten Tränenstroms handeln. Auch das nichtheilige Personal der Erzählungen neigt überwiegend nicht zum Tränenerguß, obwohl eine nicht geringe Anzahl von ihnen dazu durchaus Anlaß hätte. Nur die Tante Theres, eine wahre Lacrimosa, hatte, wie es heißt, unmittelbar am Wasser gebaut. Bei ihren Besuchen in Bayern weinte sie nach der Ankunft noch drei Wochen aus Wiedersehensfreude und bereits drei Wochen vor der Abreise weinte sie aus Trennungsschmerz. Blieb sie länger als sechs Wochen, so gab es in der Mitte des Aufenthalts eine gewisse Zeit der Beruhigung. Schon als Kind und in der Schule ist die Theres eigentlich andauernd am Weinen gewesen. Gar nie habe man sie anders als mit einem nassen Taschentuch in der Hand gekannt. Manchmal, im Sommerlicht, habe sie einer Heiligen gleichgesehen, und vielleicht, sagte die Tante Fini, ist die Theres wirklich eine Heilige gewesen. Die Fini war damit sehr nah bei der Intuition Ciorans, mit der Maßgabe, daß das Weinen nicht so sehr ein Merkmal der Heiligen ist, als es vielmehr die Heiligkeit erzeugt. Kaum verzeihlich, daß wir die Theres bei den verschiedentlichen Besprechungen der Heiligen bislang nicht berücksichtigt haben. Vielleicht ist die Theres gar ein gestrandeter Engel Giottos, der zuvor mit seinen Kameraden nahezu siebenhundert Jahren über unserem unendlichen Unglück dahingeschwebt war.

Unrecht

Tierwohl

Am Anfang war kein Unrecht, titelt Luhmann. Der Anfang, das war die Zeit, bevor Adam, angestiftet von der aufklärerisch gesonnenen Eva, in die Frucht vom Baum der Erkenntnis und dabei auch auf das Kerngehäuse des Rechts biß. Das von den Menschen auf diese Weise gefundene Recht gilt nur für die Menschen und, wie Regelungen zum Natur- und Tierschutz zeigen, für von ihm beschädigte Gegenden, für nichts und niemanden sonst in den endlosen Hallen des Alls, es sei denn, auch Gott hätte den Rechtsweg betreten.

Bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel, heißt es in den Schwindel.Gefühlen, insgesamt aber ist die Präsenz der Tiere in diesem Werk und auch in dem nachfolgenden, den Ausgewanderten, gering. In den späteren Werken, den Ringen des Saturn und Austerlitz nimmt sie sprunghaft zu. Zu einem nicht geringen Teil sind es Tiere, denen, anders als den Dohlen und der Amsel in Wien, offensichtlich Unheil widerfährt. Gleich zu Beginn von Austerlitz treffen wir im Zwielicht des Antwerpener Nachtzoos auf den Waschbären, der am Bächlein sitzt und immer denselben Apfelschnitz wäscht, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Ein höheres Maß an Deprivation noch weist die chinesische Wachtel auf, die uns in den Ringen des Saturn über den Weg läuft. Offenbar in einem Zustand der Demenz rennt sie in einem fort am rechten Seitengitter ihres Käfigs auf und ab und jedesmal, bevor sie kehrtmacht, schüttelt sie den Kopf, als begreife sie nicht, wie sie in diese aussichtslose Lage geraten sei. Eine träumerische Versunkenheit, wie sie vielleicht noch beim Waschbären annehmbar wäre, scheidet bei der Wachtel aus. Zurück zu Austerlitz und wiederum eine Reihe von Stufen höher auf der Leiter von Unrecht und Verzweiflung, hin zu den Tauben in ihrem Folter- und Todeskerker. Der Erdboden im Inneren des gemauerten Kogels war bedeckt mit dem unter dem eigenen Gewicht zusammengepreßten und doch bereits bis zu einer Höhe von zwei Fuß angewachsenen Taubendreck, auf dem zuoberst die Kadaver einiger todkrank aus ihren Nischen gestürzten Vogeltiere lagen, während ihre noch lebendigen Genossen, in einer Art von Altersdemenz, in der Düsternis unter dem Dach leise klagend durcheinander gurrten. - Den soweit vorgeführten Vertretern der Tierwelt hat die Domestikation und damit der Umzug in das Gebiet von Unrecht und Recht nicht zum Wohl gereicht und nicht zum Recht verholfen.

Wieder zurück zu den Ringen des Saturn. Langsam öffnete das Schwein, als er sich niederbeugte zu ihm, sein kleines von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickte ihn fragend an. Er fuhr im mit der Hand über den unter der ungewohnten Berührung erschauernden Rücken und strich ihm über das Gesicht, bis er aufseufzte wie je ein von endlosem Leiden geplagter Mensch, tatsächlich aber in wohliger Wollust. Vermittels einer seltsamen Alchemie ist nach einem alten Traum, einer alten Verheißung die Liebe an die Stelle von Recht und Unrecht getreten. Sogleich aber kommt die berüchtigte biblische Schweineszene in den Sinn: Der Herr aber befahl den bösen Geistern hineinzufahren in die Sauherde, und die Säue, von denen der Evangelist sagt, daß es an die zweitausend gewesen sind, stürzten sich von dem Abhang herab und ersoffenen in der Flut. Handelt es sich bei dieser grauenvollen Geschichte um den Bericht eines glaubwürdigen Zeugen, und wenn ja, bedeutet das nicht, daß unserem Herrn bei der Heilung des Gadareners ein böser Kunstfehler unterlaufen ist? Uns springt das Unrecht ins Auge, der Herr hat einen anderen Blickwinkel oder ein grundlegend anderes Rechtsverständnis.

Bei Nacht wurden die Netze ausgebracht, und bei Nacht wurden sie wieder eingeholt. Alles spielt sich ab in wüster Finsternis. Schließlich nehmen die Güterwagen den ruhelosen Wanderer der Meere auf, um ihn an die Stätten zu bringen, wo sich sein Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird: die Tonspur des Films aus dem Jahre 1936 zum Fang und Transport der Heringe klingt grad so, als ginge es um die Verschickung der Juden. Das war die Zeit, als alles Recht zu Unrecht wurde, als nur noch Unrecht war und kein Recht. Für die Heringe und andere Meerestiere im Einflußbereich der Menschen ist eine Verbesserung der Rechtslage seither nicht eingetreten.

Dienstag, 16. Januar 2018

Genießer

Fleisch oder Fisch


Der beseligten Gesichtsausdruck des Herodes, in der Darstellung Antoniazzo Romanos, läßt sich kaum anders deuten, als daß ihm mit dem abgetrennten Kopf des Täufers endlich die schon lang erwartete Lieblingsspeise gereicht wird. Heute würde dem feinschmeckerischen König die Auszeichnung Genießer des Jahres winken. Die vier Tischgenossen scheinen seine Vorliebe nur in Maßen zu teilen und wären womöglich mit einer kunstgerecht zubereiteten Seezunge nicht weniger zufriedengestellt. Wie hätte sich wohl Wittgenstein, dem ja bekanntlich egal war, was er aß, wenn es nur immer das gleiche war, an der Tafel verhalten. Der Dichter ist zwiegespalten. Er weiß nicht, wie er sich in den fremden Städten die Lokale aussucht, in die er einkehrt. Einerseits ist er zu wählerisch und geht stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe er sich entscheiden kann; andererseits gerät er zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehrt dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein ihm in keiner Weise zusagendes Gericht. Offenkundig leidet er auf dem Gebiet der Kulinaristik überdies unter einer fatalen Nostalgie de la boue. In dem großen Speisesaal, in dem er an jenem Abend als einziger Gast saß, wird ihm ein gewiß schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabener Fisch gebracht, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer er dann die Zinken seiner Gabel verbog. Tatsächlich machte es ihm solche Mühe, ins Innere des, wie es sich schließlich zeigte, aus nichts als seiner harten Umwandung bestehenden Gegenstandes vorzudringen, daß sein Teller nach dieser Operation einen furchtbaren Anblick bot. Die Sauce Tartare, die er aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen, war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn hatte vorstellen sollen, lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips. Die genießerische Freude an der destruktiven Aktion, die weit über jede denkbare Gaumenwonne hinausgeht, ist unverkennbar, eine Einladung zu Hofe kann er bei einer derart perversen Veranlagung nicht erwarten.

Sonntag, 14. Januar 2018

Die Kaffeesiederin

Im Bilde

Im Vordergrund, gegen den rechten Bildrand zu, ist eine Dame beim Eislauf zu Fall gekommen. Sie trägt ein kanariengelbes Kleid, ihr Kavalier beugt sich besorgt über sie. Es scheint, als sei der von Lucas van Valckenborch dargestellte Augenblick niemals vergangen, als sei die kanariengelbe Dame gerade jetzt erst gestürzt oder in Ohnmacht gesunken, die schwarze Samthaube eben erst seitwärts von ihrem Kopf weggerollt, als geschähe das kleine, von den meisten Betrachtern gewiß übersehene Unglück immer wieder von neuem, als höre es nie mehr auf und als sei es durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen. Bei dem ständigen und erfolglosen Bemühen sie aufzurichten, gewinnen wir kein Bild von ihr. Man müßte sie bei Vermeer ein zweites Mal treffen, unweit eines Fensters, versunken in eine stille Tätigkeit, hier ist die Zeit in ihrem Verlauf nicht gestört, die Dame in Gelb würde im Kreis ihrer Gefährtinnen für immer wachsen und Gestalt annehmen, wer die Briefleserin einen Liebesbrief lesen läßt und bei der Perlenwägerin eine Schwangerschaft diagnostiziert, hat gar den Entwurf zu einem kleinen Roman, in dem sie einen Part übernehmen könnte.

Vom Eisschießen auf einem Weiher im Allgäu wird berichtet, nicht aber von einer gelb gekleideten Dame, die beim Schlittschuhlauf zu Fall kommt. Farblich am nächsten kommt ihr die Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln, errichtet von Frau Unsinn in ihrem Konsumgeschäft, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Ein Photo, gegebenenfalls von Andy Warhol überarbeitet und geadelt, wäre das angemessene Medium, der modernistischen Pyramide mit der hinter ihr versteckten Ladeninhaberin bildlichen Ausdruck zu verleihen. Die Modistin Valerie Schwarz, belastet, bei geringen Körpergröße, mit einer Brust gewaltigen Ausmaßes, ordnet der Dichter selbst dem photographisch-kinematographischen Bildmedium zu, nur einmal noch habe er ähnliches gesehen und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord.

Wer glaubt, die Bina und die Babett, die das nie jemals von einem zahlenden Gast betretene Café Alpenrose betreiben, könnten in einer von Ludwig Richter oder Philipp Otto Runge gestalteten Idylle angemessen bewahrt werden, ist auf dem Holzweg, in einem Short Play Becketts wären die beiden ideal aufgehoben. Im ersten Stock wohnte noch die Engelwirtin, Rosina Zobel, die die Führung der Wirtsstube vor etlichen Jahren aufgegeben hatte und sich seither den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube aufhielt. Entweder sie saß in ihren Ohrensessel, oder sie ging hin und her, oder sie lag auf dem Kanapee. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht hatte oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hatte. Können wir sie den Niederländern überlassen oder sollen wir sie besser auch in die Obhut Becketts geben?

Wenn wir hören, die Mathild Seelos habe sich einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, taucht vor unseren Augen sogleich La Liberté guidant le peuple auf, fälschlicherweise, denn eine der Marianne vergleichbare Position hat sie während der Unruhen sicher nicht eingenommen und die über alle Schicklichkeit hinaus derangierte Kleidung trauen wir ihr auch nicht zu. In einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand ist sie dann allerdings nach Haus zurückgekehrt. Nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ist sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm; sie hatte dabei etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. In jedem Fall müssen wir für ihre spätere Lebensphase ein zweites Bild entwerfen und könnten dabei auf den alpinen Jugendstil des Ferdinand Hodler zurückgreifen, angelehnt an das Fröhliches Weib etwa oder an das Lied aus der Ferne. Die Seelos Maria war eine schwere langsame Frau, die seit dem Tode ihres Mannes Baptist der einige Jahre schon zurücklag, Schwarz trug und ihre Tage beim Kaffeesieden verbrachte, das sie auf türkische Art vornahm. Die Kaffeesiederin, hier nun endlich ist Vermeer erneut gefordert. Eine bedächtige Tätigkeit, das Kaffeesieden nach türkischer Rezeptur, bildet den Mittelpunkt, von der Perlenwägerin sowie auch von der Magd mit Milchkanne könnten Bildkomponenten übernommen werden, das feine Gerät und das Umgießen von Flüssigkeit. Die besondere Trägheit der Maria verleiht dem Gemälde einen eigenen Ton.

Donnerstag, 11. Januar 2018

L’autre

Konvivialität

L'enfer c'est les autres, hatte Sartre herausgefunden, l’autre n’existe pas, beruhigt Cioran sogleich. Nun sind Ciorans Feststellungen selten von schlichter Zuverlässigkeit, und zudem bliebe, wenn er denn recht hätte, die Frage nach dem Verbleib der Hölle. So oder so, der Dissens auf der philosophischen Ebene verunsichert und stimmt auch den Dichter vorsichtig. Den Verkehr mit anderen beschränkt er auf das Notwendige. Auf Reisen ist er immer allein, ohne Reisegefährten und schon gar nicht ist er Mitglied einer Reisegruppe. Immer wieder hat er Halluzinationen des Alleinseins, große Städte scheinen wie entvölkert. Er hatte niemanden, mit dem er sprechen konnte, selbst die Telephone blieben stumm, bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel: es klingt wie eine Klage, aber das mag täuschen, vielleicht taugt es ihm, wie man im Süden sagt, vielleicht ist es ihm gerade recht so. Ein wohldosierter Verkehr mit Menschen, die ihm begegnen oder die ihm einst begegnet sind, ist aber zulässig. Die Anderen, an denen ihm gelegen ist, können Tote sein, Bereyter, Adelwarth. Die Toten scheinen eine wohltuende Wirkung auszuüben auch auf die, die mit ihnen lebten, Mme Landau oder der Onkel Kasimir und die Tante Lina weisen weder höllische Merkmale auf noch bestehen Zweifel an ihrer Existenz. Naturgemäß gibt es auch zahlreiche positiver gefärbte Theorien über die Anderen. Bei den alten Griechen bestand das beste Leben darin, jeden Tag mit Freunden, also mit Anderen, ein paar Worte über die großen Dinge, ta megala, auszutauschen. Auch das leuchtet dem Dichter ohne weiteres ein, im Gespräch mit Malachi werden gewichtige Themen wie das Verbrennen der Welt oder die undurchsichtigen Abläufe bei der Auferstehung des Fleisches angeschnitten, im Gespräch mit Austerlitz das alles überwölbende Geheimnis der Zeit. Selbst verhält der Dichter sich in diesen Gesprächen überwiegend schweigsam, schon Sokrates ließ vorzüglich die anderen reden, allerdings aus anderen Gründen.

Langsam öffnete er, als ich mich niederbeugte zu ihm, sein kleines von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickte mich fragend an. Ich fuhr im mit der Hand über den unter der ungewohnten Berührung erschauernden Rücken und strich ihm über das Gesicht, bis er aufseufzte wie je ein von endlosem Leiden geplagter Mensch. Vielleicht war die an uns ergangene Aufforderung, im Anderen den Nächsten zu sehen, ihn zu lieben auf engstem Raum, denn doch zu blauäugig. In großer Nähe zeigt der Andere satanische Züge oder verschwindet gar im toten Augenwinkel. Entfernte Andere, beispielsweise Dohlen, Amseln oder Schweine mit ihren kleinen, von hellen Wimpern umsäumten Augen, und die Toten eben, lockern, wie uns vorgeführt wird, das Feld des Beisammenseins auf und entspannen die Lage. Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang, Luhmann zusätzlich und maßgeblich in die Diskussion einbeziehend, von posthumanistischer Konvivialität.

Freitag, 5. Januar 2018

Enge

Break

Die Krummenbacher Kapelle war so klein, daß mehr als ein Dutzend nicht auf einmal darin ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten: hätte der Wanderer die Tür zur Kapelle geöffnet und dort elf Andächtige vorgefunden, um keinen Preis der Welt wäre er in das Gotteshäuschen eingetreten. Auch sechs Andächtige hätten ihn abgeschreckt und selbst noch drei. Einen einzelnen Andächtigen hätte er vielleicht akzeptiert, und womöglich wäre es gar zu einem Gedankenaustausch gekommen, ähnlich wie mit anderen Zufallsbekanntschaften, dem Venezianer Malachi etwa oder dem Holländer Cornelis de Jong. Mehr als einem, allenfalls zwei Gesprächspartnern gleichzeitig ist der Dichter nicht gewachsen. Beim Besuch des Onkels Kasimir und der Tante Lina redet er mal mit dem einen und mal mit der anderen, kaum je mit beiden gleichzeitig. Bei drei Personen beginnt das Publikum, sich unter ein Publikum zu begeben aber wurde dem Dichter, wie er freimütig bekennt, von Jahr zu Jahr unmöglicher. Seine Scheu vor vielen Menschen auf engem Raum geht womöglich auf eine sorgsame Lektüre Dostojewskis zurück, der immer wieder Menschengedränge mit explosiven Resultaten inszeniert. Am beeindruckendsten ist fraglos das zweistufige Fest – mit einem Publikum, unter das sich der Dichter weder für Geld noch für gute Worte gemischt hätte - beim Gouverneur in den Dämonen (Бесы), ein Fest, das in ein völliges Debakel mündet. Nun ist es nicht so, als wüßte Dostojewski nicht, was er tut, welche Gefahren er heraufbeschwört. Unter der Leitung des Pjotr Werchowenski läßt er eine ganze Crew an dem Ruin der Veranstaltung arbeiten und behält sich selbst mit unverkennbar perversem Genuß die künstlerische Gesamtleitung vor.

Da das Fest in den weitläufigen Fluchten der Gouverneursresidenz abläuft, ist räumliche Enge allerdings nicht der Auslöser des Desasters. Eine in einen Eklat mündende Szene extremer Beengung findet in Schuld und Sühne (Преступление и наказание) statt. Raskolnikows Quartier ist so klein, daß kaum mehr als ein Gast darin Aufnahme finden konnte, versammelt sind aber, abgesehen von dem krank auf dem Diwan ruhenden Raskolnikow selbst, schon drei, nämlich der Arzt Sossimow, die Dienstmagd und Rasumichin, der Studienfreund. Man stand so dicht gedrängt, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte, wie es an einer anderen Stelle heißt. Und dennoch drängt sich zusätzlich Luschin hinein, der Bewerber um die Hand der Schwester Raskolnikows. Zweifellos wäre auch ein ungestörtes Zwiegespräch zwischen Raskolnikow und Luschin nicht glimpflich verlaufen, in der Enge des Raums aber ist die Katastrophe nicht nur unausweichlich, sie wird zudem von Rasumichin und dem Arzt ähnlich kunstvoll orchestriert wie die Überführung des Festes beim Gouverneur in ein tödliches Chaos durch Werchowenski und seine Spießgesellen. Die kunstreichen Manöver machen den Leser zum Komplizen, rechtfertigen kann er sich damit, daß die Opfer es nicht anders verdient haben, auch wenn es das Gouverneursehepaar ein wenig zu hart trifft – aber wer will da kleinlich mäkeln. Razumichin beweist überdies parastrategische Fähigkeiten, letztlich wird er Raskolnikows Schwester Dunja heiraten, die er vorerst noch gar nicht kennt. Wer, wie der Dichter, krisenhafte Begegnungen auf engem Raum scheut, bringt sich damit auch um die Chance gelungener Eheanbahnungen. Er nimmt es billigend in Kauf. Dichte ist das Hauptmerkmal unserer Weltform, diagnostiziert Sloterdijk, und sie ist, würden einige ergänzen, unser großes Leid. Die so denken hören im Werk des Dichters ständig das leise aber beharrlich gesprochene, aus dem Boxsport bekannte Kommando: Break!

Donnerstag, 4. Januar 2018

Kindervilla

Verwehtes Parfum

Prousts Kathedrale der verlorenen Zeit betreten wir durch das Portal des Kinderzimmers, wo, bereits im Bett liegend, der kleine Marcel den Gutenachtkuß der Mutter herbeisehnt. Ähnliches kann oder will Sebalds Erzähler nicht berichten. Von der elterlichen Wohnung lernen wir nur die Wohnstube kennen, die allerdings in aller Ausführlichkeit, keinen Einblick haben wir in die Küche oder das Eßzimmer geschweige denn in die Kinderzimmer, falls es so etwas gab, nicht jeder Heranwachsende hatte in diesen Jahren a room of his own. Generell werden uns von einem Kind bewohnte aktuell Kinderzimmer im Prosawerk vorenthalten. Wir sehen kleinen Paul B. auf seinem Dreirädchen selig im Emporium radeln, aber auch bei einer großzügigen Streckung des Begriffes ist ein Emporium kein Kinderzimmer. Ein wenig anders sieht es aus im Fall der Mme Landau. Der verwitwete Vater hatte eine kleine Villa am Seeufer gekauft und dabei fast sein gesamtes Vermögen veräußert, so daß er mit seiner Tochter für Jahre in dem so gut wie unmöblierten Haus hatte wohnen müssen. Dem Mädchen aber war das Wohnen in den leeren Zimmern nicht als ein Mangel, sondern vielmehr durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung und Vergünstigung erschienen, die Villa eine Art Villa Kunterbunt oder besser Lichterhell, das ganze Haus ein Kinderzimmer. Das Kinderzimmer wächst gar noch über das Haus hinaus. Das leere Haus mit den weit offenen Fenstern war die Kulisse zu einem Zauberspiel, und als dann den See entlang bis nach bis nach St. Aubin und weiter hinauf ein Feuer ums andere aufzuleuchten begann, da war sie vollends überzeugt gewesen, daß dies alles nur ihretwegen, zu Ehren ihres Geburtstags geschah. Das Kinderzimmer wächst bis zu Horizont und darüber hinaus.

Die Erinnerung an das Kinderzimmer ist eins, es nach langer Zeit der Abwesenheit als Erwachsener wieder zu betreten ein anderes. Als er zum erstenmal seit zehn Jahren das Kinderzimmer wieder betrat, sagte Ashman, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre um seinen Verstand gekommen, es sei ihm gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit. Eine Wut sei in ihm aufgestiegen, und ehe er noch wußte, was er tat, habe er draußen auf dem Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Zifferblatt des Uhrtürmchens geschossen: ein naturgemäß nicht siegreicher Versuch der Rache an der Zeit und dem Verlust des Paradieses. Was den Cosmo Salomon anbelangt, so war er nach dem Ausbruch seiner zweiten schweren Nervenkrise eines Tages verschwunden gewesen. Nach zwei, drei Tagen hat man ihn endlich im obersten Stock des Hauses in einem seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer entdeckt. Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer. Er habe nach seinem Bruder schauen wollen, antwortete er auf die Frage, zu welchem Zweck er hier heraufgegangen sei; einen solchen Bruder aber hatte es nie gegeben. Der Versuch der Rückkehr scheitert auf der ganzen Linie, bald schon wird er in die Nervenklinik Samaria in Ithaca eingeliefert, wo er innerhalb desselben Jahres, stumm und unbeweglich, wie er war, verdämmerte.

Unter den Füßen waren die unebenen Pflastersteine zu spüren, sie führen nicht zum Palais der Guermantes, sondern zur Šporkova Nr. 12, zu Veras Wohnung, die gleichzeitig Jacquots Kinderzimmer war, sie führen zum Gutenachtkuß der Mutter. Weit jenseits seiner Schlafenszeit, die Augen weit offen, hatte er auf dem Diwan zu Veras Bett gelegen, bis Agata nach Hause kam, bis er den Wagen, der sie aus der anderen Welt zurückbrachte, anhalten hörte, bis sie endlich ins Zimmer trat und sich zu ihm niedersetzte, umhüllt von einem seltsamen, aus verwehtem Parfum und Staub gemischten Theatergeruch.

Es scheint, als habe Mme Landau aus der lichthellen Weite der Kindervilla heraus ihr Leben bruchlos und ohne unübliche Mühen fortsetzen können. Ashman und Cosmo Solomon können wir zurückbegleiten in ihre Kinderzimmer, in ihre Kindheit aber haben wir keinen Einblick. Austerlitz‘ Kindheit wird mit der Verschickung nach Wales jäh unterbrochen und bleibt für Jahre auch seiner eigenen Erinnerung verschlossen. Gleichzeitig aber bleibt sie versiegelt und unbeschädigt, als er den unebenen Steinen folgt, öffnet sie sich ihm in der Šporkova Nr. 12 als das verlorene Paradies.