Sonntag, 18. März 2018

Dünner Faden

Neue Interessenlage

Die Erzählung Austerlitz hängt am dünnen Faden ihres Titels. Der Dichter war mit Arbeiten zu seinem Korsikabuch beschäftigt, Erkundigungen, erste Niederschriften, die später dann in diesem unfertigen Zustand veröffentlicht wurden. In den Mittelpunkt der Überlegungen rückten unvermeidlich Napoleon, so oder so der größte aller Korsen, und seine Schlachten, Marengo, Ulm, Jena, Waterloo und gut sechzig weitere, darunter die bei Austerlitz. Während er sich Notizen macht zu der Schlacht nahe der tschechischen Stadt, erinnert er sich an ein Buch, das von den Kinderevakuierungen aus der Tschechei nach Großbritannien bei Ausbruch der Judenverfolgung in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts berichtet. Diese Erinnerung führt zu einer plötzliche Verschiebung der Interessenlage, an die Stelle der Schlacht bei Austerlitz tritt die Romanfigur Austerlitz. Die bereits gesammelten Materialien zu der Schlacht werden dem Lehrer Hilary ausgehändigt, der sie zu einem Vortrag für seinen Schüler Dafydd Elias alias und gemäß Geburtsregister Jacques Austerlitz verarbeitet. Weitere Einzelheiten wandern von der Mittelmeerinsel Korsika aufs europäische Festland, so etwa der Pilot Gerald Ashman, der dabei in Gerald Fitzpatrick einerseits und James Mallord Ashman andererseits zerfällt. Die Schlacht von Austerlitz erweist sich als die Urzelle des Prosawerkes Austerlitz. Weiter vom Dichter geleitet, stützt Hilary sich in seinen Ausführungen maßgeblich auf Stendhal. Wie dieser nimmt er an, unser Verständnisvermögen sei weitgehend von in unser Hirn fest eingravierten Bildern bestimmt, wie Stendhals Held Fabrizio del Dongo kann er die Schilderung des Kampfgeschehens letztendlich nur zusammenfassen in dem lachhaften Satz: Die Schlacht wogte hin und her, oder einer ähnlich hilf- und nutzlosen Äußerung.

Der dünne Faden wird durch zwei weitere strapazierfähige Fäden verstärkt. Fred Astaire, mit bürgerlichem Namen Frederick Austerlitz, der Mann, von dem es heißt, er habe nie wirklich den Boden berührt, großes Vorbild für das Stilideal der Levitation. Born and raised in Omaha, unweit des Bahnhofs, die Nächte über ununterbrochen anhaltende Rangiergeräusche, Astaire, der Spender des Bahnhofsmotivs, ohne das Austerlitz nicht denkbar wäre. Und dann der kleine krummbeinige Mann Austerlitz aus Kafkas Tagebüchern, Kafka, der auf eine etwas hinterhältige Art über unserem Schlaf wacht, anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, liegen nicht nur die Londoner, sondern wir alle in unseren Betten, zugedeckt und, wie wir glauben müssen, unter sicherem Dach, während wir doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst auf dem Weg durch die Wüste.

Keine Kommentare: