Mittwoch, 14. März 2018

Riva

Kafkas Emissäre

Der Erzähler, Selysses, besteigt in Desenzano den Bus nach Riva. Er wolle mit dem Bus nach Riva fahren, sagt er ausdrücklich, also ist Riva nicht oder nicht nur die mögliche Endstation der Buslinie, sondern vor allem das individuelle Reiseziel. Das Reiseziel wird nicht erreicht, der Erzähler steigt, entgegen seinem Plan, vorzeitig in Limone sul Garda aus, weil er die Atmosphäre im Bus nicht länger erträgt, man hält ihn dort, fälschlicherweise naturgemäß, für einen zu seinem Vergnügen in Italien herumreisenden englischen Päderasten; schuld an der Misere sind zum einem seine unzureichenden Italienischkenntnisse und zum anderen die geringe Vertrautheit der Landbevölkerung mit den Glanzlichtern der Weltliteratur, darunter Kafka an vorderster Front. Der Aufenthalt im Hotel Sole wäre demnach mehr oder weniger zufällig zustande gekommen, zufällig damit auch die sich anspinnende zarte Romanze mit der Wirtin, die schließlich gar zu einer, wenn auch äußerst flüchtigen, Eheschließung führt. War es Zufall, oder waren Kafkas beiden Helfer und Emissäre in Gestalt des ihm, Kafka, täuschend ähnlich sehenden Zwillingspaars, beauftragt, die Entwicklung insgeheim in diese Richtung zu steuern? Und wenn es so war, wollte Kafka dem Dichterkollegen eine unerwartete Freude machen, oder wollte er ihn aus Eigeninteresse von Riva fernhalten? Beyle jedenfalls wurde von Kafka mit Hilfe des Jägers Gracchus aus Riva verscheucht. Vom Anblick des schweren alten Kahns, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln und mehr noch vom Anblick der nach dem Ankern an Land getragenen Bahre war Mme Gherardi so ungut berührt, daß sie darauf bestanden hatte, ohne jeden weiteren Verzug aus Riva abzureisen. Es ist noch nicht der wahre Gracchus, der hier in den Hafen eingefahren ist, der Emissär ist ein Vorbote, eine Attrappe des Jägers. Schon in Wien hatte Kafka schlechte Erfahrungen mit einem Kollegen gemacht, Grillparzer, nahezu restlos vergreist, machte ungute Faxen und legte ihm einmal sogar die Hand aufs Knie. Beyle mit seiner ganz anderen Liebeseinstellung konnte Kafka in Riva ebensowenig gebrauchen wie Grillparzer oder verschiedene andere aus dem Metier. Der General ist gestorben, die Genuesin ist abgereist, der Erzähler wurde umgelenkt nach Limone, Beyle ins Salzburger Land, jetzt hat Kafka die nötige Muße, um den Jäger Gracchus, der nicht sterben kann, ins Leben zu rufen. Der Sinn der unablässigen Fahrten des Jägers Gracchus bestünde, so heißt es, in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, die uns immer genau dort ergreift, wo scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist.

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