Samstag, 12. Oktober 2019

Gottgläubig

Ein Gerücht

Von Paul Bereyter ging das Gerücht um, er sei gottgläubig. Ähnlich wie sich der Dichter bei Hebel, angesichts der ätherischen Flüchtigkeit seiner Gestalten, immer wieder vergewissert, ob es den Barbier von Segringen und den Schneider von Pensa noch gibt, blättert der Leser angesichts der bis zur Unglaubwürdigkeit ätherischen Gestalt des Gerüchts erneut nach, ob davon wirklich geschrieben steht. Dem Dichter selbst spricht von einem ihm lange Zeit unverständlichen Gerücht, es ist nicht klar ob ursprünglich unverständlich wegen seiner Jugend und Unerfahrenheit oder später unverständlich angesichts des Bildes, das er inzwischen von Bereyter hat. Weder ist bekannt ob es das Gerücht gibt, oder vielleicht nur ein Gerücht, daß es dieses Gerücht gibt, ein Gerücht des Gerüchtes also, noch woher es kommt und wer es in Umlauf gebracht hat. Unbekannt ist ferner, worauf, auf welchen Beobachtungen das Gerücht, wenn es denn besteht, beruht, was es beinhaltet, was die Substanz der Gottgläubigkeit ist und ob sie stabil ist oder nur eine flüchtige Laune.

Für einen Augenblick mag es scheinen, als sei das Gerücht von der Gottgläubigkeit ohne Zusammenhang so dahingestellt, der Zusammenhang stellt sich aber sogleich ein mit der Episode des Weihwasserstreits. Immer wenn der Katechet Meier das Weihwasserbehältnis aus einer eigens geweihten Flasche nachfüllen will, hat Bereyter, dem nichts so zuwider ist wie die katholische Salbaderei, bereits mit der Gartengießkanne den Pegelstand auf das angemessene Maß gehoben. Seine freie Zeit verbringt Bereyter mit Vorliebe in der Gesellschaft des Schumachers Colo, der ein Philosoph und regelrechter Atheist gewesen ist. Am Tage des Herrn spielen Bereyter und Colo gern Schach miteinander, beautiful, cold remorseless chess, almost creepy in its silent implacability. Es stellt sich die Frage, ob das Gerücht der Gottgläubigkeit Bereyters durch die Freundschaft mit Colo bereits widerlegt und verworfen ist, oder ob nur die Umrisse der Gottgläubigkeit ein wenig deutlicher geworden sind. Offenbar ist sie näher beim Atheismus als beim Katholizismus, sie muß mit Colos Atheismus, den wir im Detail nicht kennenlernen, aber nicht zusammenfallen.

Dem Duo bestehend aus dem Katecheten Meier und dem Schuhmacher Colo ähnelt in auffälliger Weise dem Duo Prediger Emyr Elias und Schuhmacher Evan. Der Dichter, so die Fiktion, erzählt das, was Austerlitz ihm erzählt hat und läßt dabei eine gewisse Sympathie für den Prediger als einem Waffenbruder im Kampf mit den Worten durchblicken. Der Prediger saß, wie es seine unabänderliche Gewohnheit war, in seinem Studierzimmer, das auf ein finsteres Eck des Gartens hinausging, und dachte sich seine am nächsten Sonntag zu haltende Predigt aus. Keine dieser Predigten hat er je niedergeschrieben, vielmehr erarbeitete er sie nur in seinem Kopf, indem er sich selber damit peinigte, wenigstens vier Tage lang. Völlig niedergeschlagen kam er jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Auch der Umstand, daß die schwer erarbeiteten Predigten regelmäßig den Charakter einer Strafpredigt annehmen, nach der die Gemeindemitglieder kreideweiß im Gesicht aus dem Gotteshaus treten, mindert seine Zuneigung des Dichters nicht, sieht doch auch er im Menschen, als Gattung und als Individuum, nicht allein das herrliche Geschöpf, dem man ständig nur bestätigend auf die Schulter klopfen kann. Der Mensch kann tiefer sinken als das Tier, verkündet Heidegger, aber eignet sich denn das Tier als Meßlatte, kann nicht allein der Mensch sinken und das Tier nicht? Der junge Dafydd Elias, später Austerlitz, neigte freilich weniger dem Prediger zu als dem Schuster Evan (Ifan), der neben seiner Handwerkstätigkeit ein Geisterseher und ausgewiesener Philosoph des Totenreiches gewesen ist. Jede freie Stunde ist er bei ihm in der Werkstatt gesessen. Wie Bereyter gleitet auch Austerlitz von Theologie und Kirche hinüber zur philosophischen Schuhmacherwerkstatt.

Bereyters Gottgläubigkeit, wenn sie denn besteht, zielt auf irgendeine Form des christlich-jüdischen Glaubens, sonst wäre das Gerücht in seinem katholischen Umfeld nicht aufgetreten, und ist doch weit entfernt von den offiziellen Glaubensangeboten. Dann und wann scheint ein diffuses Gerücht umzugehen, auch der Dichter sei gottgläubig gewesen. Seine Gläubigkeit wäre dann der Gottgläubigkeit Bereyters in jedem Fall ähnlich, wie immer es um sie bestellt gewesen sein mag.

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