Mittwoch, 28. Oktober 2020

Taxidriver

In weiblicher Gestalt


In den USA ist Adroddwr in einem Mietwagen unterwegs und erweist sich damit als Inhaber einer Fahrerlaubnis, beschränkte man sich allein auf die innereuropäischen Reisen, bliebe die Frage nach dem Führerschein unbeantwortet. Bei größeren Entfernungen bevorzugt er die Eisenbahn, kürzere Strecken erledigt er zu Fuß. Als er in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr in Manchester eintrifft, hat er den Führerschein womöglich noch nicht, und naturgemäß wartet kein eigenes Fahrzeug auf ihn, ein Taxi ist verfügbar. Der Mann am Steuer ist schweigsam, und als er den Fahrgast in der frühen Morgenstunde vor der Pension AROSA absetzt, rät er nur: Just keep ringing. In Mailand verläßt Adroddwr den Bahnhof (looking more like an art museum than a railway station*) und wird sogleich Objekt eines Raubversuches, den er aber durch den schwungvollen Einsatz seiner Reisetasche abwehren kann. Als er dem Taxifahrer davon erzählt, antwortet der nur mit einer stummen Geste der Hilflosigkeit. Der Fahrer ist geschützt durch ein Gitter an seinem Seitenfenster und ein Medaillon Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen. Am Ende der Fahrt nimmt er stillschweigend das Geld entgegen. In den Wartepausen, abseits vom Lenkrad, können die Fahrer ein anderes Temperament entwickeln. Als der eher schmächtige Carabiniere, der seinen Wagen im Halteverbot unmittelbar vor dem Eingang abgestellt hatte, wieder zum Bahnhof herauskommt, umringen ihn die Taxifahrer und machen ihm Vorhaltungen über sein gesetzwidriges Verhalte, das ganze wohl als eine Art Komödie zur Vertreibung der Langeweile gedacht. So ist der Mensch, wenn die Arbeit stillsteht, ist ihm jedes Vergnügen recht.

Anders als Adroddwr haben Modianos Erzähler und Protagonisten keine gleichbleibende Nähe zum Autor, schon daran erkenntlich, daß sie, wie etwa in La Petite Bijou, den Autor auch in weiblicher Gestalt spiegeln können. Ganz überwiegend handelt es sich bei den Protagonisten um Jugendliche, die vermutlich keinen Führerschein und sicher kein eigenes Auto haben. Mit Vorliebe bewegen sie sich zu Fuß, j‘aurais voulu me promener dans les allées, größere Strecken werden mit der Metro, dem Bus oder auch, wenn das Geld gerade reicht, mit einem Taxi bewältigt. Das Taxi ist immer harmlos, das private Auto nicht. Autobesitzer waren zu der fraglichen Zeit noch deutlich in der Minderheit, und das Drohende, Verstörende, Beklemmende, das immer über Modianos Prosa liegt, wird durch ein Automobil nur noch verstärkt. Die Autobesitzer sind fast ausnahmslos zwielichte, wenn nicht offen kriminelle Gestalten. Ils sont tous du même monde, Menschen, die oft in leerstehenden, kaum möblierten Wohnungen campieren, keinen rechten Wohnsitz haben aber ein Auto. Als M. Valadier in sein voiture noir steigt, weiß la Petite Bijou endgültig, was sie von den Valadiers zu halten hat. In Dimanches d‘août wird die Einladung der Neal, mitzufahren in ihrem Auto dem jungen Paar zum Verhängnis, der junge Mann wird an der Tankstelle zurückgelassen, die junge Frau sieht man nicht wieder. Un cirque passe endet mit Gisèles Unfall in dem Auto, das ihr der Eigentümer überlassen hat. In beiden Fällen sind die jungen Frauen vermutlich tot, eine ausdrückliche Bestätigung gibt es nicht. Zehn Jahre später kommen dem Erzähler die Tränen, als Gisèles Name fällt.

Zehn Jahre später, zwanzig Jahre, zu Adroddwrs Zeit, hat das Auto bereits das Heft in der Hand, kaum noch jemand, sei er nun gut oder böse, der ohne es auskommt. Die Brandung des Verkehrs ist der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben über die gesamte Breite der Städte kommen die Wellen daher, werden lauter und lauter und laufen als Brecher aus über den Asphalt und über die Steine. Aus dem Getöse entsteht jetzt das Leben, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird.

*Elmore Leonards Beurteilung des Mailänder Bauwerks

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