Dienstag, 6. Oktober 2020

Flucht

Verweht


Jansen considerait les êtres et les choses de très loin: das erinnert fraglos an den Astrophysiker, Malachio, der alles aus größter Ferne sah, nicht allein die Sterne, aber nicht dieser Spur soll nachgegangen sein. Der Major Le Strange ist der herausragende Weltfluchtexperte in Sebalds Werk, alles spricht dafür, daß die Teilnahme an der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen Belsen ihm fortan das Leben unter Menschen unmöglich machte. Es war allerdings kein abrupter Entschluß, sondern eine schleichende Einwicklung. Nach Kriegsende hatte er für gut zehn Jahre die Güter seines Großonkels verwaltet, nach dessen Tod aber jedweden menschlichen Kontakt abgebrochen, ausgenommen die gemeinsamen, aber wortlosen Mahlzeiten mit der Haushälterin Florence Barnes. Was in seinem Inneren vorgegangen sein mag, bleibt und verborgen.

Was der Erzähler über den Major Le Strange weiß, weiß er aus der Zeitung und ähnlichen Quellen. Jansen, der Photograph, bewegt sich leibhaftig in Modianos Buch. Er wählt den noch jungen Erzähler, den Chien de printemps, als Photomodell für einen gewerblichen Auftrag, ein Auftrag, dem er nur noch sehr lustlos nachgeht. An der Wand des Studios hängt ein Bild, das Jansen an der Seite Robert Capa zeigt, Capa, der legendäre Kriegsphotograph, der in Ausübung seiner Mission von einer Personenmine zerfetzt wurde. Die Freude am Photographieren hat Jensen seither verloren, auch an anderen Dingen, wenn vielleicht auch nicht an allen. Als der Erzähler sich daranmacht, im Studio die wahllos in drei Koffern gesammelten Photos zu katalogisieren, ist Jansen nur belustigt, dankbar ist er dagegen, wenn sein neuer Assistent ihm das Publikum vom Leib hält. Jansen hatte angedeutet, daß er sich ins mexikanische Exil zurückziehen will, verschwunden ist er dann aber urplötzlich unter Mitnahme der drei Koffer, wohl mit dem Ziel der Vernichtung des Inhalts. Der Katalog ist fortan ohne Wert und Gegenstand.

Von Jean Moreno alias Jimmy Sarano wird nicht nur erzählt, er selbst ist der Erzähler in Vestiaire de l’enfance, und er ist bereits angekommen im selbstgewählten Exil, einer Gibraltar ähnelnden Lokation. Die Angelegenheit wird, wie man sagt, von hinten aufgerollt. Vor Jahren als Moreno ein anerkannter Schriftsteller in Frankreich, ist Sarano jetzt der Verfasser der trivialen Endlosserie Les aventures de Louis XVII, die in kleinen Brocken täglich vom Radio Mundial gesendet wird. Ein sich zufällig in der Gegend aufhaltender Journalist erkennt Sarano als Jean Moreno und drängt auf ihn ein: Habe er damals in dem Wagen gesessen, in dem die junge Frau ums Leben kam, sei es ein Unfall gewesen oder ein Verbrechen, sei sein Verschwinden Flucht gewesen oder Weltflucht, das eine oder das andere oder beides zusammen?

Obwohl Jansen und Moreno längere Zeit unter erzählter Beobachtung stehen, erhellt sich ihr Seelenleben für uns kaum mehr als das des Majors Le Strange. Die Exilanten schweigen, offenbaren sich nicht. Könnten sie reden über ihren Zustand und zugleich weiterbestehen?

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