Nachtfahrt
***
Ich saß in
einem Zug. Ich fuhr nicht, weil ich irgendwo hin wollte und auch nicht, weil
ich etwas zu erledigen hatte an einem anderen Ort, ich hatte auch keinen Brief
erhalten, daß mich jemand gastfreundlich erwarte in den Ferien: irgendeine
Seele. Mich hatte noch niemand entdeckt. An der Kasse hatte ich eine
Einlaßkarte gekauft, um auf den Bahnsteig zu kommen, ich wollte mich nicht für
ein paar Groschen um eine andere Möglichkeit bemühen, etwa um den Bahnhof
herumgehen, um von der anderen Seite her auf den Bahnsteig zu gelangen. Denn da
gab es einen Übergang. Zwei Gitterstäbe waren umgebogen. In der Frühe kamen die
Leute von da, um den Arbeiterzug zu erreichen. Bei meiner Ankunft hatte ich selbst
diesen Weg genutzt, als ich vor ein paar Tagen hier ausgestiegen war, zum
ersten Mal an diesem Ort. Ich fuhr ohne Fahrschein, aber kein Schaffner
belästigte mich. Bis zum Morgen war es nicht mehr weit. Hinter dem Fenster
wurde es schon heller. Warm war es im Zug, und bis zum Morgen konnte ich
weiterfahren. Ich stieg aber aus, warum weiß ich nicht. Es war eine große
Stadt. Das war erst einige Tage her, wie bereits gesagt.
Der Zug fuhr ein.
Er kam aus der gleichen Richtung, wie vor ein paar Tagen, als ich ankam, aber
in die gleiche Richtung. Was war, das war. Dasselbe wird sich nicht noch einmal
ergeben. Es kommt nicht zurück. Es kann besser oder schlechter werden. Eher
schlechter. Ich will so reden und achtgeben, denn die Hoffnung könnte mich ein
wenig schwächen, irreführen. Hoffnung ist nicht gut. Glaube ist gut. Das beste.
Persönlich glaube ich endlos. Aus aller Tiefe heraus. Ich glaube, daß mich
irgendwann jemand erkennt, mein gutes Herz, meine Sprache, nichts
Doppelzüngiges daran. Irgend jemand wird mich irgendwann richtig einschätzen:
als einfachen Menschen. Immer habe ich daran geglaubt. Von Anfang an.
Der Zug legte
zu und machte jetzt fünfzig, fünfundsechzig km/h. Ich merkte das an den ratternden
Gleisgeräuschen. Das ist ziemlich leicht, wenn man das Gehör ein wenig geschult
hat. Der Zug war voll von Fahrgästen, und ich rede so, als ob ich allein wäre.
Allein wäre ich nicht gern gewesen. Nicht, weil ich mich einsam und verloren
fühlen würde. Ganz und gar nicht. Sicher nicht. Ich fühle mich sehr wohl, wenn
ich allein bin. Jemandem, der in mein Abteil tritt, sage ich sofort, er möge
sich nicht ärgern, wenn ich für eine Weile fortgehe. Wenn ich sage, ich wäre
nicht gern allein im Zug, dann weil der Schaffner schon bald nach meiner
Fahrkarte fragen würde. So aber, im Gedränge, gibt es immer eine Möglichkeit,
ihn loszuwerden. Und es ist warm in der Menge. Durch das Gedränge. Durch die
Nähe. Indem er atmet, wärmt einer den anderen. Mag sein, wenn sie wüßten, daß
sie einander Gutes tun, würden sie lieber nicht atmen, wenn es möglich wäre
oder, wenn das nicht möglich ist, dann Eisluft aus ihren Eisbechern.
Ich fuhr in der
Mitte des mittleren Waggons. Ich hatte mich so eingerichtet, daß ich für
einige Zeit Ruhe hatte, oder jedenfalls nur eine leichte Anspannung. Die
Schaffner machen es meistens so, daß einer in den vordersten und einer in den
hintersten Waggon einsteigt, um dann von beiden Seiten her zur Mitte
vorzudringen. Leider, leider aber nicht immer. Natürlich klar, daß nicht immer.
Ich will darüber nicht streiten, aber ich weiß, daß nicht immer. Manchmal
fangen sie in der Mitte an, und der eine geht nach vorn und der andere nach
hinten. Ich weiß das, weiß es. Wenn der Zug nicht voll ist, machen einige gar
nichts oder schauen allenfalls in der Ersten Klasse nach oder setzen sich in
ein reserviertes Abteil, bis es dunkel wird, und wenn eine Station kommt,
steigen sie aus und rufen laut den Namen der Station, damit die Leute nicht
glauben, der Zug führe ohne Schaffner, ohne Herrscher. Ich hatte also gesehen,
daß sie an den Enden anfingen, denn der Zug begann seine Fahrt in eben dieser
Stadt. Die recht groß war, siebzig Kirchen, sagte mir jemand, zwei Marktplätze:
ein großer und ein kleiner. Der Zug wurde schon eine halbe Stunde vor Abfahrt
bereitgestellt, aber es warteten auch schon viele Leute auf dem Bahnsteig, so
daß man schnell hineinspringen und einen Platz belegen mußte, manche auch
gleich für zwei. Ich sprang aber als erster hinein. Ich ging in die Erste
Klasse und setzte mich an ein Fenster, die Zeit vor der Abfahrt zu nutzen, um
auszuruhen. Dann, kurz vor der Abfahrt, verließ ich die Erste Klasse und suchte
die Zweite auf, mehr oder weniger in der Mitte des Zuges, irgendwie preßte ich
mich durch und öffnete das Fenster zum Bahnsteig, schaute vorgeblich
gleichgültig vor mich hin, in Wahrheit aber hielt ich Ausschau nach den
Schaffnern. Ich sah also, daß sie an den Enden, vorne und hinten, anfangen
würden, so daß ich gut untergebracht war, mindestens bis zum ersten Halt,
vielleicht sogar bis zum zweiten, mehr aber wohl nicht, denn zu Anfang beeilen
sich die Schaffner eher, und erst, wenn der Zug sein Ziel fast erreicht hat,
kontrollieren sie praktisch gar nicht mehr. Gott mit ihnen.
Ich erinnere
mich immer an das Gedränge. Das war stark. Die Leute waren zusammengezwängt.
Auf den Korridoren war das größte Gedränge, und jeden Augenblick quetschte sich
jemand hindurch, der noch keinen Platz gefunden hatte. Mag sein, sie träumten
alle von einem Sitzplatz, wenn sie in die Abteile schauten, irgendein freier
Platz, der sich finden würde, sie entschuldigten sich, die Leute verfluchten
sie insgeheim, sie entschuldigten sich höflich und schließlich blieben sie vor
der Toilette stehen, der schlimmsten Ecke, und jetzt verfluchten sie insgeheim
die, die sich entschuldigten, weil sie zur Toilette wollten. Ihre Hoffnung
erfüllte sich nicht. Ich war in der Mitte des Waggons mehr oder weniger. Im
größten Gedränge. Ich stand an die Tür des Abteils gelehnt. Rauchte eine
Zigarette. Hatte aber ein Gefühl der Sicherheit, so wie das Gedränge war, die
Spannung ließ nach, Kopf und Beine beruhigten sich.
Oh, es ist
nicht diese schöne bodenlose Ruhe, wenn man nichts spürt, keinen Schmerz, keine
Nervosität, nichts, nur die Erde spürt man, das Gras unter den Füßen. Oh ja.
Ich spreche darüber, weil ich mich erinnere, daß ein gewisser Pan Gralewski mir
diesen Unterschied erklärt hat. Zum Beispiel wie man geht: Gehen im Paßgang,
normales Gehen, Schaukelgang, elastisches Gehen. Oder wie man ißt:
Verschlingen, Schlucken, normales Essen, Festmahl. Oder auch zum Beispiel, wie
man schläft: Alptraum, normales Schlafen, unterbrochenes Schlafen. Fast überall
gibt es diese Unterschiede. Kategorien.
Fortwährend
denke ich an das Gedränge. Eine Frau vom Dorf mit einer Art Rucksack drängte
sich hindurch. Sie war korpulent und eingehüllt in verschiedene Schals und
Westen. Das war seltsam, denn alle sonst hatten ihren Platz gefunden. Der Zug
fuhr schon seit einer halben Stunde. Aber sie bewegte sich noch von Ort zu Ort.
Dabei drängte sie nichts, keine Panik, kein innerer Sturm. Wortlos zwängte sie
sich durch die eng stehenden Menschen, entschuldigte sich nicht, und sie hatte
recht, sie hatte recht, denn die Menschen verfluchten sie so oder so, das
spürte man in der Luft, daß alle sie verfluchten. Sie aber nic, nichts. Sie
drängte sich schnaubend voran, und eine Stelle ungefähr drei Schritte von mir
entfernt mußte ihr wohl zugesagt haben, den sie nahm ihren Rucksack ab, ließ
ihn fallen und setzte sich darauf. Ich hörte, wie jemand fragte: Ist das nun
der rechte Platz? Sie antwortete: Vielleicht gut oder auch nicht gut. Niemand
sagte noch etwas. So ist das in Zügen, zunächst spricht niemand. Dann erst
kommt ein Gespräch auf: Haben Sie vielleicht Streichhölzer?/ Bitte sehr./
Fahren Sie weit?/ Bis zum Ende, und Sie?/ Auch bis zum Ende./ Wirklich?
Fein. - Nicht immer, nicht immer. Einige
legen gleich los, dann werden die Worte immer knapper und versiegen in einem
monotonen Schweigen.
Vielleicht war
das der Augenblick, als die ersten wieder in monotones Schweigen verfielen und
die anderen noch nicht angefangen hatte. Deswegen war so gut wie nichts zu
hören. Deswegen war es still. Ich war der allerstillste. Versuchte mit
niemandem ein Gespräch anzufangen. Man würde mich von zwei Seiten her in die
Zange nehmen, und schon säße ich in der Falle. Notiert, bewiesen, und schon
wäre ich der Dumme. Man würde mir mit Verachtung oder mit Mitleid begegnen.
Oder noch schlimmer, der Schaffner nähme mich beiseite, ein paar Scheinchen in
die Pfote, nein, nein. Das will ich nicht. Besser ich lasse mich auf kein
Gespräch ein, und wenn es jemand versucht, bremse ich nach Möglichkeit. Ich
sage ja oder nein, der Gesichtsausdruck ohne Gesprächslust, bis er es einsieht
und seinen Monolog abbricht. Und ich begebe mich dann anderswo hin, denn schon
diese wenigen Worte haben mich an ihn gebunden, und wenn sie mich fassen, müßte
ich mich schämen für diese paar dummen Worte. Aber auch in Monotonie darf ich
nicht verfallen, denn sie könnte mich meiner Wachsamkeit berauben, mit
klebrigen Händen ersticken. Aus Honig oder aus Wein ergibt sich eine ähnlich
trügerische Schwere. Sie könnten kommen und mich schnappen. Die ersten würden
sich sofort einmischen, müßten nicht erst nach Streichhölzern fragen. Nur so:
Wie, was. Reist ohne Fahrkarte. Will umsonst auf Staatskosten reisen. Die
anderen, die Monotonen, würden auch ein wenig aufleben. Ganz allgemein gesagt,
würde es alle ein wenig auseinanderreißen.
Aber bislang
ist es nicht eingetreten, bislang jedenfalls nicht. Das Gedränge ist
unwiderlegbar, will heißen, alle sind bedrängt, so sagt man und das sage ich
auch. Der Zug bremste, denn er fuhr in eine Station ein, und ich hätte gerne
gefragt, wo die Menschen mit ihren Körpern und ihren Gepäck unterkommen sollen,
denn sicher wollen mehr ein- als aussteigen. So ist es immer. Im weiteren Leben
genauso. In der weiteren Lebensreise. An das Gedränge denke ich nicht. Daß
irgendein Schaffner sich hindurchzwängen wollte. Der es sehr stark wollte.
Sicher hatten sie sich ausgeklinkt in die Erste Klasse oder ein reserviertes
Abteil aufgeschlossen und pennen dort, bis es dunkel wird. Jetzt aber springt
einer hinaus, denn wir sind in der Station angelangt, wie ich schon gesagt
habe, und er wird mit voller Lautstärke den Namen der Station hinausschreien,
damit niemand meint, es gebe keinen Schaffner, keinen Herrn über ihm. So jemand
ist noch nicht geboren. Ich bin unabhängig. Ich kann nicht von irgend jemanden
abhängig sein.
Der Zug kam zu
Stehen und ich hörte sofort die sehr laute Stimme des Schaffners, wie er den
Namen der Station hinausschrie. Der Ruf kam, so schien es, von recht weit,
mindestens zwei Waggons entfernt, so daß ich einigermaßen in Sicherheit war. So
hörte ich es. Dann hörte ich aus der gleichen Entfernung: Platznehmen,
platznehmen – die gleiche Stimme des Schaffners, sehr gut zu hören, denn der
Zug wird sich nicht umsehen nach den Leuten, er darf sich nicht verspäten, er
hat vorgeschriebene Stunden und Minuten. Noch einmal tönte es: Platznehmen, und
dann: Abfahrt, denn es war kalt auf dem Bahnhof, der Winter hatte schon spürbar
begonnen, auch wenn noch kein Schnee lag und nicht fallen wollte. Und das war
schlimmer. Den würde Schnee fallen, dann wäre es besser. Er würde die Kälte aus
dem gefrorenen Boden besänftigen. So aber, ohne Schnee, ist es kalt von unten
und von oben. Vom Himmel herab und aus der Hölle. Schnee ist wunderschön. Was
ist überhaupt ein Winter ohne Schnee? Und was ist ein Sommer ohne Sonnenschein?
Ich möchte das fragen. Was sind das für unklare Jahreszeiten?
Wir fuhren. Der
Zug nahm Fahrt auf. Oh ja, Schnee ist über die Maßen schön. Ich liebe den
Schnee, verehre ihn. Wie er fällt. Das ist für mich immer eine große
herabrieselnde Freude. Ich gehe und hebe das Gesicht zum Himmel, hebe die Arme
hoch, Flocken fallen auf sie und verwandeln sich sogleich in Wasser, in Tränen
verwandeln sie sich, in ein Weinen, denn man darf sie nicht anfassen, es sind
makellos weiße Dziewice, Mädchen. Deshalb stecke ich die Hände schnell in die
Taschen, daß sie keine Gewalt anwenden, und nicht etwa deswegen, daß sie kalt
würden. Das ist für andere vielleicht unverständlich, ging mir durch den Sinn. Auf
ähnliche Art fuhr ich im Zug. Ich fuhr,
weil ich nicht wußte wohin, und nicht, weil ich an einem anderen Ort etwas zu
erledigen hätte, oder weil ich einen Brief erhalten hätte, daß jemand dort
gastfreundlich auf mich wartet in den Ferien: eine Seele. Nein. Noch hat mich
niemand entdeckt. Einige Leute, die auf dem Bahnsteig gestanden hatten,
näherten sich dem Waggon, drängten aber nicht weiter hinein, als sie die Lage
sahen. An den Türen verharrten sie. Ich weiß nicht. Vielleicht nahmen sie
Vorlieb mit dem Durchgang zwischen den Waggons. Eine Art Ziehharmonika. Da erfaßte
sie der Wind von oben und von unten und von der Seite her. Von allen
durchlöcherten Seiten.
Der Zug legte
zu und erreichte jetzt fünfzig bis fünfundsechzig km/h. Ab und zu pfeift er
oder heult wie ein Schiff und es war alles, alles gut, sage ich. Ich erlaubte
mir eine Zigarette. Ich erlaubte mir
auch, umherzuschauen. Ein wenig aufmerksamer. Zuvor hatte ich auch
umhergeschaut, erlaubte mir aber nicht Blicke aufzufangen, Begegnungen meiner
Blicke mit anderen Blicken, den Blick einige Sekunden oder eine Sekunde
anzuhalten. Zuvor hatte ich völlig unpersönlich geschaut. Wie ein Leerzeichen. Denn
ich wollte keine anderen Blicke auf mich ziehen. Sollten sie mich erwischen,
sollte etwas mit mir geschehen, dann würde ich mich sicher an diesen Blick
erinnern, und sollten sie mich wirklich erwischen, dann würde mich ein dummes
Schamgefühl ergreifen, denn ich würde mich an diesen Blick erinnern. Aber weil
ich mit niemandem Worte gewechselt hatte, niemandes Blick getroffen hatte, dann
mögen sie mich erwischen, das würde kein dummes Schamgefühl hervorrufen, denn
ich wäre niemandem nahegekommen. Mögen sie ihren Spaß haben, für mich
existieren sie nicht, spielen keine Rolle für mich. Das mag für andere
unverständlich sein. Ich nehme das nur an.
Aber angesichts
des überall herrschenden Gedränges, erlaubte ich mit einige Blicke in die
Runde. Ich rauchte eine Zigarette, schaute nach links und nach rechts und ging
dem Blickwechsel nicht besonders aus dem Weg. Wir fuhren wohl schon knapp eine
Stunde, aber das war immer noch der Beginn der Reise, frühe Jugend gleichsam.
Das spiegelte sich in den Blicken links und rechts. Die Blicke waren noch
frisch, voller Lebensfreude, noch war niemand erschöpft, niemand hatte schon
genug. Und ich war der fröhlichste von allen. Nichts drohte mir, es wurde schon
warm im Waggon, ich rauchte eine Zigarette, war mein eigener Herr. Die
Müdigkeit löste sich, berührte mich nur noch ein wenig und das war sogar
angenehm, gebe ich zu. Der Zug ratterte und schaukelte.
Ich stand am
Fenster, den Blick dem Fenster zugewandt. Hinter dem Fenster war nichts zu
sehen. Aber ich sah immerhin, daß es Mondzeit war, also mußten dunkle, große
Wolken den Himmel verdecken. Ich dachte daan eine Sache, aber schauen wir.
Alles läßt sich betrachten: was sein wird. Jetzt stand ich mit dem Rücken zum
Fenster, das Gesicht zum Abteil. Im Abteil saßen Leute. Diejenigen, die das
Schicksal ein wenig verwöhnte, die saßen jetzt in den Abteilen. Mich hatte das
Schicksal auch verwöhnt, denn ich war als erster in den Zug gesprungen. Im
Lauf, als er einfuhr. Niemand war schon da. Ich saß schon gemütlich am Fenster,
während der Zug noch stand. Dann aber, als der Zug bald abfahren würde, mußte
ich den Platz verlassen, denn ich mußte schauen, von welcher Seite sie kommen
würden, um ihnen durchs Netz zu gehen. Gott mit ihnen. Die ganze Erste Klasse
war schon voll besetzt. Das war anscheinend der beste Zug und der schnellste
und von allen Seiten hörte ich, wie sie ihn rühmten. Also, als die Abfahrt
bevorstand, verließ ich das Abteil, das schon voll besetzt war, auch in den
Korridoren standen schon viele Leute. Großes Gedränge war nicht, denn immerhin war
es die Erste Klasse. Zunächst wollte ich meinen Platz einem hübschen Mädchen
überlassen, die an der Seite stand, schnell aber kehrte die Vernunft und das
Gerechtigkeitsgefühl zurück und alle sonstigen Tugenden, und ich suchte jemand
anderen, der mir gefiel. Der mir gefallen würde. Ich ging durch den ganzen
Waggon, betrachtete alle, die auf dem Flur standen, aber ich fand niemanden,
den ich ohne Zögern erwählt hätte. Schließlich gab ich den Platz an einen
älteren Menschen weiter. Er war nicht der älteste von allen, aber sein Gesicht
war hinreichend zerfurcht, ein einfacher Mensch wohl. Ich führte ihn zum
Abteil, zeigte ihm den für ihn bestimmten Platz. Dann ging ich schnell zu einem
Waggon in der Mitte des Zuges und reihte mich ein in dicht stehende Menge. So
fuhr ich denn und so fuhr ich schon für eine gute Stunde.
Bald müßte eine
Station kommen. Der Zug bremste noch nicht. Zweimal gab er ein Warnzeichen,
aber nicht deswegen wußte ich, daß die Station nah ist. Nun fing der Zug
langsam zu bremsen, und gern hätte ich gewußt, wo die Menschen auf dem
Bahnsteig bleiben sollten, denn sie stehen da sicher, und sicher wollen mehr
ein- als aussteigen. So ist es immer am Anfang. Erst mit der weiteren Fahrt
steigen mehr aus als ein. Der Zug hielt an, und ich drehte den Kopf zum
Fenster, um alles zu sehen. Der Bahnhof war recht groß. An kleinen Bahnhöfen hält
dieser Zug nicht an. Nur an großen oder doch recht großen. Auf dem Bahnsteig
liefen die Leute, die einen in die eine und die anderen in die andere Richtung.
Wohin? Ich hätte gern gefragt. Der Bahnhof war neumodisch beleuchtet, mit
diesen langen Röhren, so daß die Augen schmerzen. Ich erinnere mich, daß ich
eine Sache beachten mußte: ist es windig draußen? Ich öffnete das Fenster und
spuckte hinaus, damit die Leute glauben, ich hätte aus diesem Grund das Fenster
geöffnet, daß sie sich nicht schüttelten und sagten, ich würde die Kälte
hereinlassen. Ich spürte keinerlei Wind, das war gut, denn er hätte die Wolken
vom Himmel verjagen können und damit auch den Schnee. Der Schaffner. Genauso
wie zuvor hörte ich ihn rufen: Platznehmen, platznehmen, aus der gleichen
Entfernung, das war gut, sehr gut, es beruhigte mich sehr, ich strich die
Sorgenfalten aus meiner Stirn.
Wir fuhren. Ein wenig war noch zu sehen hinter dem Fenster, denn für eine Zeit fuhren wir noch durch den Ort. Leer war es in den Straßen, es war halt Nacht. Deswegen. Das Nachtleben einer Stadt findet überwiegend an einem anderen Ort statt. Ich steckte erneut eine Zigarette an und schaute, wie wir aus der Stadt hinausfuhren, an den letzten Häuschen und Baracken vorbei, bevor sie in der Dunkelheit verschwanden. Das war wirklich ein besonderer Augenblick. Ich zündete eine Zigarette an und drückte die Stirn gegen das Fenster. Zur Abkühlung. Denn es war warm. Sehr schön.
Das war jetzt
die zweite Stunde der Fahrt. Eine zweite Jugend, aber nicht immer, nicht immer.
Ich hatte das Gesicht noch immer zum Fenster gewandt, die Stirn an die Scheibe
gedrückt, und liebevoll dachte ich an das Bad in der Frühe am nächsten Morgen,
in einem leeren und kühlen Raum, schon drehe ich alle Kräne auf, und das Wasser
floß heiß hervor, verdunstet rings umher, langsam wird es wärmer, das Wasser
fließt über die Haare, über meinen armen Kopf, auf die Schultern, über den
ganzen gehetzten und ramponierten Körper, schmutzig von all dem, aber wohin
gehen, wohin sich wenden? Immer noch hatte ich den Kopf zum Fenster gewandt,
die Stirn klebt an der Scheibe. Die liebevollen Gedanken wandten sich jetzt dem
Frühstück zu, der kleinen Milchbar, wo es sauber ist, die Scheiben geputzt, das
Wachstuch auf den Tischen ordentlich, nirgendwo verschmutzt, ich kaufte ordentlich
Milch, vier Brote mit Fleisch und Käse, die Milch ist ganz heiß, es brennt mir
in der Kehle von den kräftigen Schlucken, die ich nehme, sauber ist es ringsum,
still, ruhig, und ich esse langsam und trinke dazu.
Ich hatte das
Gesicht noch immer zum Fenster gewandt, die Stirn an die Scheibe gedrückt und
liebevoll dachte ich an den schönen Sommer, diese herrliche Sommerzeit, wie ich
auf einer Wiese liege, im Gras oberhalb des Flusses, lange hatte ich getaucht,
geschwommen, gespritzt, ich liebe es, lange im Wasser zu sein, und jetzt
verliebe ich mich in die Sonne, küsse freiherzig den Sonnengott.
Ja. Hoffnung
ist nicht gut. Glaube ist gut. Am besten. Ich glaube endlos. Aus all meinen
Tiefen glaube ich tief. Irgendwer wird mich irgendwann entdecken. Das weiß ich,
das habe ich immer gewußt. Irgendwann wird es gut. Irgendwann wird es so sein,
daß kein Albtraum mehr über mir schwebt. Keine Panik wird
mich verfolgt, mich von Ort zu Ort jagt. Nichts wird mir den klaren Blick
verschleiern. Kein schwarzes Siegel. Immer habe ich das gewußt. Deswegen halte
ich aus. Auch das Schlimmste. Deshalb können jetzt Albträume über meinem Kopf
schweben, mal höher, mal niedriger. Manchmal allerdings schweben sie so dicht
vorbei, daß mich der Wahnsinn bedroht, Chryste Panie, laß es nicht zu, ich bin
dem Ende nahe. Aber das ist noch nicht das Schlimmste, denn mein tiefer Glaube
obsiegt letzten Endes immer. Schlimmer sind andere Augenblicke, andere
Geschehnisse: ich spüre dann nicht die geringste Angst, Albträume quälen mich
nicht, ich spüre keinen Kummer, keine Qual, alles scheint in Ordnung zu sein,
ich denke an nichts, und das ist genau das, um das es geht, mein Kopf scheint
sich zu entfernen, weit weg von allem, von dem, was ich weiß und von dem was
ich nicht weiß, aber ich stelle mir vor, was ich mir vorstellen kann. Das ist
kein Traum, denn ich sehe keine Traumfiguren, kann auch nicht sehen, denn ich
habe keinen Kopf. Und weiß nicht, wo er ist. Mit den Sternen dreht er sich
nicht, das ist sein Alltagsbrot. Und auch das ist noch nicht das Schlimmste. Im
übrigen ist es weder das Schlimmste noch das Beste, es ist nicht einmal nichts,
denn ich habe keinen Kopf, wie schon erwähnt. Das Schlimmste sind die die
Augenblicke danach. Wenn der Kopf zurückkommt auf seinen Platz von seinen
Wanderungen jenseits des Grabes. Diese Augenblicke. Das Schlimmste ist, daß es
Augenblicke ohne Glauben sind, das muß ich sagen, ohne meinen großen tiefen
Glauben an das, was sich mir offenbart. Das muß ich sagen und ich muß sagen,
daß ich das ohne Reue sage, aber so ist es. Oh ja. Das sind hoffnungslose
Augenblicke. Es rettet mich nur die selbstbezogene Liebe, die
Selbstvergötterung, der Glaube an mich selbst. Mein Gesicht ist immer noch zum
Fenster gewandt, die Stirn klebt an der Scheibe, und meine liebevollen Gedanken
richten sich auf mich selbst.
Wir fahren. Ich war froh, daß ich nicht pinkeln mußte, daß ich
mich nicht einen halben Waggon weit durch das Gedränge zum Lokus zwängen mußte.
Selten habe ich einen derart überfüllten Zug gesehen. Alle standen gedrängt Arm
an Arm, schweigend. In den Tagen vor einem großen Fest ist das so. Vor allem zu
Weihnachten und Ostern ist es so. Dann treffen sich die Familien, alle ihre
Zweige, jede Art von Verschwägerung: Onkel, Tanten, Schwäger, Schwägerinnen,
Cousins und Kusinen, Schiegereltern, und auch studierende Töchter und Söhne,
die Zukunft unseres Landes, die Blüte. Alle fahren sie dann. Aus fernen und
nahen Gegenden. Schon einige Tage zuvor leben sie in festlicher Spannung. In
dieser Stimmung. Aber wenn der feierliche Tag der Abfahrt kommt, nehmen sie
ihre Taschen und Koffer, kaufen sich im Bahnhof eine Fahrkarte, obwohl der Zug
erst in drei Stunden kommt oder in vier Stunden, aber das schadet nicht. Sie
sitzen dann mit ihrer Fahrkarte im Wartesaal oder im Gemeinschaftsraum, am
Fenster, wenn möglich, oder sie stehen, das Gepäck dicht vor den Füßen, die
Taschen auf den Knien, denn sie kennen die Gepflogenheiten. Dann gehen die Reisenden
auf den Bahnsteig, drängeln sich ungeduldig nach vorn, obwohl der Zug erst in
einer Stunde kommt oder in anderthalb. Das schadet nicht. Wenn dann die Zeit
kommt, zu der der Zug hätte einfahren sollen, hören sie über den Lautsprecher,
daß der Zug Verspätung hat, ungefähr dreißig Minuten oder vierzig, niemand weiß
es. Niemand weiß es, denn aus dem Lautsprecher kling es so, als hätte der
Sprecher Rizinus getrunken oder eine andere Schweinerei, man fragt einander,
einer sagt dreißig Minuten, ein anderer vierzig, wieder ein anderer zwanzig.
Der Zug fährt nach einer Stunde ein, hält an, hält noch nicht ganz an, und dann
erst beginnt der Kampf um die Plätze, wer was erwischt. Sie drängeln und
stoßen, das gilt für alle: Onkel, Tanten, Schwäger, Schwägerinnen, Cousins und
Kusinen, Schiegereltern, und auch studierende Töchter und Söhne, der Stolz
unseres Landes, die Blüte.
Wir fuhren. Ich versuchte, mich zu entsinnen, ob es in den
nächsten Tagen einen großen Feiertag geben würde, konnte mich aber nicht entsinnen.
Vielleicht gab es nichts. Weihnachten nahte, aber erst in ungefähr zwanzig
Tagen. Vielleicht in zehn Tagen, jedenfalls nicht früher. Woher also diese
Menge? Vorher hatte ich darüber nicht nachgedacht. Die Menge war mir sehr
recht, ganz ohne Nachdenken. Meine Gedanken waren mit anderem beschäftigt. Der
eigenen Sicherheit. Aber weil es recht sicher war, recht sicher, ganz sicher
kann ich nicht sagen, ließ ich den Gedanken freien Lauf, daß sie ein wenig
Auslauf hatten, wohin es ihnen gefiel. Ich ließ die Zügel los, und jetzt kam
mir das Gedränge seltsam vor. Woher konnte es kommen? Einen Festtag gab es in
den nächsten Tagen sicher nicht. Aber vielleicht lag etwas an, dort wohin der
Zug fuhr? Hatte es vielleicht ein Wunder gegeben? Hat sich dort etwas gezeigt,
eine Erscheinung? War vielleicht etwas Übernatürliches geschehen nach
menschlicher Ermessen? Und alle fuhren dorthin, um es zu betrachten? Alle
fuhren dorthin. Aus fernen und nahen Gegenden. Denn so eine Meldung verbreitet
sich schnell in der Welt. Pfeilschnell. Aber das kann wohl doch nicht sein,
dann würden alle davon reden, wenn es so wäre. Überall würden Simmen laut, in
einer anderen Stimmung würde man fahren, in einer religiösen Atmosphäre. In
einer Atmosphäre geheimer Mächte. Jeder würde etwas zum Thema sagen: der eine,
wie es ihn aufgerüttelt habe, der Geist des Herrn sei zu preisen; der andere,
daß ihm die Mutter ganz in Weiß erschienen sei, die Mutter, die längst tot war;
wieder ein anderer, daß er Stimmen gehört hatte, der Geist des Herrn sei zu
preisen. Nein, nein. Das wäre eine eigenartige Belebung für die ganze Fahrt.
Und was wäre dann mit dem Gedränge? Wenn etwas passierte, hätte es große
Verluste unter den Menschen geben können.
Der Zug hielt einige Male an und war jetzt gut drei Stunden
unterwegs, aber schon nicht mehr die dritte Jugend, die Reisenden merkten das,
redeten nur noch wenig, einige redeten noch, die, die immer reden. Ich war der
allerstillste. Ich versuchte, mit keinem ins Gespräch zu kommen, ganz allgemein
bin ich jemand, der gerne nicht spricht. Nicht weil ich nichts zu sagen hätte,
im Gegenteil, ganz im Gegenteil, aber mit wem reden, wem antworten, wer kann
das sagen. Deswegen höre ich lieber zu. Ab und zu höre ich aufmerksam zu, dann
wieder unaufmerksam, und wenn ich nichts mehr hören will, wechsele ich den Ort,
und wenn gegessen und getrunken wird am Tisch, dann höre ich mit einem Ohr und
lasse es zum anderen wieder raus, während ich esse und trinke. Niemand soll mir sagen, das sei Betrug oder
Untreue. Ich kenne noch die kleinsten Vergehen, und wenn mir derartiges
unterläuft, bestrafe ich mich. Also niemand muß mir das erklären. Man muß essen
und trinken. Das nennt man Mahlzeit. Oft hört man besser nicht hin. Während des
Essens redet man ohnehin besser nicht. Etwas anderes ist es, still und fröhlich
vor sich hinzusingen.
Ich stand immer
noch dem Fenster zugewandt, mit dem Gesicht zum Fenster, und hörte mit dem
einen Ohr und ließ es zum anderen hinaus, was die redeten, die immer reden
müssen. Ich verbrachte eine recht lange Zeit in einer solchen Milieu, besser
wäre es, aufzustehen und wegzugehen, sage ich. Ich erzähle von diesem Milieu,
weil ich in der Tat eine lange Zeit dort verbracht habe und alles Recht dazu
hatte, alles Recht. Aber bald wurde mir klar, daß es eine große Schande für die
meisten Mitglieder der Gesellschaft ist. Reinheit regiert dort nicht und auch
keine schöne Schamhaftigkeit, weder Stolz noch Ehre, die einfachsten
menschlichen Tugenden. Dunkle Kräfte walteten dort, dunkle Mechanismen, Doppelgesichtigkeit
und Löchergraben. Aber diese Leute galten als die Auserwählten, und so mußten
sie sein, so mußten sie sein, das Licht zur Wahrheit tragen. Noch eins sage ich
über die Mitglieder der Gesellschaft, eins sage ich noch. Ich sage noch mehr,
denn ich habe sie kennengelernt, lange Zeit in ihrer Mitte verbracht, denn ich
wollte alles wissen, alles. Um ein Urteil zu fällen.
Wir fuhren. Ich
wandte mich vom Fenster ab, das Gesicht zum Abteil, um die Augen mit etwas zu
beschäftigen, denn die Müdigkeit überwältigte mich. Gern hätte ich die Hände
gewaschen. Wie kommt das? In einem Zug werden sogleich die Hände schmutzig. Der
Schmutz kriecht unter die Fingernägel und sonstwohin. Ich schaute meine
Fingernägel nicht an, wußte, daß sie schmutzig sind, wollte das aber nicht sehen,
denn jeglicher Schmutz quält mich. Auch Häßlichkeit quält mich und vieles
andere noch. Etwas machte mir im Mundwinkel zu schaffen,
eine Art Schorf. Ich nahm einen Taschentuch aus der Tasche, das ich im
städtischen Bad gewaschen hatte, denn ich liebe saubere Taschentücher, säubere
sie dort, wo ich kann, wo es sich trifft. Ich liebe große Tücher für sieben,
acht Hände, und ganz kleine, so daß man eine ganze Woche schneuzen kann, und
nicht nur ins Gewebe hauchen, so wie es fälschlich die eleganten Frauen machen.
Ich nahm das Tuch, wie schon erwähnt, zog es glatt, und begann den Mundwinkel
zu bearbeiten, um den Schorf zu entfernen, der dort entstanden war und der sich
noch verbreiten und lange nicht heilen würde, und wenn ich den Mund öffnete,
würde er aufreißen. Und das überträgt sich gleich aufs Gemüt, auf den Humor,
das Verhalten. Das verletzt die Seele und den Körper. Daher besser ganz
wegkratzen. Und da gibt es ein Vorgehen. Am besten mit einem groben Handtuch.
Es gibt solche Handtücher. Frotteehandtücher heißen sie. Anschließend sollte
man die Stelle mit Kölnisch Wasser oder Rosenwasser bearbeiten. Es sticht
zunächst ein bißchen, aber das läßt sich aushalten. Als ich klein war habe ich
bei kleinen Verletzungen und ähnlichem immer an die Indianer gedacht, wie
mannhaft sie das Leiden ausgehalten haben. Auch jetzt, nicht wenn es um den
Schorf im Mundwinkel geht, denn das ist eine Kinderei, aber wenn ich, was
selten vorkommt, Zahn- oder Kopfschmerzen habe, was selten vorkommt, dann aber,
wie man sagt, gleich doppelt, immer dann denke ich an die Indianer: wie würdig
sie waren.
Ich leckte von
Zeit zu Zeit über den Schorf im Mundwinkel, denn Speichel hat seine eigene
Heilkraft. Im Abteil spielten vier Reisende Karten auf einem Koffer. Auf dem
Gang unterhielten sich zwei über den Krieg, die Kriegszeit hatten sie
gleichermaßen in Erinnerung. Sie fegten die Scheiße mit dem Mist zusammen,
Offiziere der Armee. Und dennoch, so sagten sie, das war die Schule des Lebens,
die Universität des Lebens. Zum einen Ohr kam es mir herein, zum anderen wieder
hinaus, solche Erinnerungen hatte ich schon tausendmal gehört. In Zügen hört
man es ständig. Ich schaute auf die Passagiere im Abteil. Vier spielten Karten.
Ich wollte mit den Augen etwas erhaschen, ein lebendiges Bild, denn eine Welle
von Erschöpfung und Müdigkeit erfaßte mich ziemlich heftig, und es war weder
Zeit noch Ort zum Schlafen. Es war immer noch gut, keineswegs schlecht, Ruhe
und Wolken am Himmel, aber es war weder Zeit noch Ort zum Schlafen, sage ich.
Man sollte nichts auf die Schnelle entscheiden.
Am Fenster des
Abteils saßen ein Mann und eine Frau, die Frau entgegen der Fahrtrichtung, die
Köpfe hielten sie unter den Mänteln, die Beine ineinander verflochten. Es sah
aus, als würden sie schlafen. So sah es aus. Aber als ich ein wenig länger auf
die Beine schaute, sah ich, daß die Beine nicht schliefen. Als schliefen sie
nicht. Wenn sie schliefen, würden auch die Beine schlafen. Und die Hände, und
die Ohren, und die ganze Haut. Das ist die allgemeine Ökonomie des Schlafens
eines jeden. Ein schönes Gesetz. Gesetz die Ruhe des Menschen betreffend. Aber
ich hörte auf, auf ihre Beine zu schauen, denn das quälte mich, das Warten auf
die nächste Bewegung. Wenn ich einer Lesung zuhöre, und es fällt immer wieder
dasselbe Wort: Wahr, oder: Um das hier zu sagen – dann quält mich das auch, ich höre
nicht mehr zu, sondern warte nur, daß wieder das leere Wort kommt. Aber dann
will ich schon nicht mehr und stehe auf. Gehe weg.
Also, ich
schaute nicht mehr auf die Beine und sah mich nach einer anderen Bewegung um,
die der Kartenspieler auf den Koffern. Sie hatten zwei Koffer auf ihre Knie
gestellt und spielten ein Spiel, das ich zu entziffern versuchte, so daß ich
mit dem mitspielen konnte, der am nächsten zur Tür saß und dessen Karten ich
genau sehen konnte. Das Spiel hieß Rommé oder auch Wariat, was verrückt
bedeutet, wie einige sagen. Die Karten werden vom Haufen genommen, eine nach
der anderen und nach der Farbe oder dem Bild ausgelegt. Der erste, der alle
vierzehn Karten ausgelegt hat, hat gewonnen. Ich kannte das Spiel sehr gut. Ein
Gesellschaftsspiel. Es wird vor allem in den Sphären der Intelligenz gespielt,
obwohl ich sagen kann, das es keine großen Anforderungen stellt. Oft habe ich
es gespielt, wenn ich mich in einem Intelligenzlerhaushalt befand. Es war kein
adeliges Spiel, nicht königlich, wie etwa Schach und auch nicht herausfordernd
wie Poker. Mit Enthusiasmus habe ich es nicht gespielt, beileibe nicht, wie man
sagt, aber das war diese seltsame Anordnung. Ich mußte mich nicht zurückziehen,
nicht in meine verborgenen Gedankenwelt, und das ist auch nicht möglich. Alles
kommt freiwillig zurück in den Kopf. Ohne gedankliche Anstrengung, und dann
beginnt schon das nächste. Das dritte ist noch nicht beendet, da beginnt schon
das vierte. Das ist wieder diese seltsame Anordnung.
Erschöpfung und Müdigkeit überfielen mich: eine Welle. Dann verließ sie mich wieder, vielen Dank. Vielen Dank. Soweit bin ich schon gefahren, vielen, vielen Dank. Daß ich schon so lange lebe, vielen, vielen Dank: zwanzig und ein paar Jahre. Daß es Berge gibt, das Meer und Flüsse, vielen, vielen Dank. Daß es den Frühling gibt und den Sommer, den Herbst, vielen, vielen Dank. Daß es den Winter gibt, vielen, vielen Dank. Daß es Felder gibt und Wälder, die Sonne, schattige Wälder, vielen, vielen Dank. Daß es Hunde gibt und Kühe, und Ziegen, vielen, vielen Dank. Daß es die Erde gibt und den Himmel, Wolken, vielen, vielen Dank. Daß Schnee fallen kann, vielen, vielen, vielen Dank.
Auf der ersten Nachtfahrt nach Venedig hat der Dichter seine Schwindelgefühle noch längst nicht überwunden, der nahezu unbesetzte Zug erlaubt ihm aber in einen wenn auch nicht traumlosen Schlaf zu verfallen. Nach dem Erwachen lenkt er sich ab durch die Betrachtung der am geöffneten Fenster vorbeirasenden Außenwelt. Bei der zweiten Nachtfahrt sieben Jahre später ist der Zug hoffnungslos überfüllt, gerade das erlaubt im aber, auf dem eigenen Reisegepäck sitzend, sich ganz in seine Aufzeichnungen zu vertiefen. Ähnlich komfortabel hat es Stachuras Erzähler nur in der ersten halben Stunde, als der bereitgestellte Zug noch nicht abfahrtsbereit ist, er macht es sich in der Ersten Klasse bequem. Während der Fahrt dann geht es ihm, dem Schwarzfahrer vordringlich darum, mit Strategie und Taktik eine Begegnung mit den Schaffnern zu vermeiden, dazwischen drängen sich fortwährend Phasen der Selbstbetrachtung, in geringerem Umfang auch Betrachtungen der Mitreisenden, es geht um die Tiefen und Untiefen des menschlichen Seins, eine immer seltsamer werdende bunte Mischung. Die Außenwelt ist im Dunkel so gut wie verschwunden. An die Stelle des aus anderen Erzählungen bekannten Lobpreis des Morgenlichts tritt die hoffnungsvolle Erwartung von Schneefall, einer anderen Form erlösender Helligkeit.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen