Donnerstag, 18. September 2008

Land & Wasser

Entfaltung und Einfaltung in Lyrik und Prosa

Im Nachwort zum aus dem Nachlaß herausgegebenen Lyrikband Über das Land und das Wasser zitiert der Herausgeber Sebald mit den Worten: Mein Medium ist die Prosa – und schränkt das mit Hinweis auf die fortgesetzte lyrische Produktion des Autors ein. Man mag darin zunächst Marketing für das Buch und allenfalls an zweiter Stelle einen Dissens zwischen Autor und Herausgeber sehen. Jedenfalls wird, wer den Prosadichter Sebald liebt und sich auf dem Boden der Lyrik generell unsicher fühlt, gern der Selbsteinschätzung des Autors folgen. Er wird dem Herausgeber dann auch großzügig nachsehen, daß er nicht mit offenen und obendrein mit gezinkten Karten spielt, das vollständige Zitat lautet nämlich: Mein Medium ist die Prosa und nicht der Roman – ein Unterschied, den zu betonen Sebald allen Anlaß hatte. Prosa ist also gar nicht der Lyrik konfrontiert, die Idee, sie, die Lyrik, könne sein endgültiges Medium sein, lag Sebald wohl eher fern. An dieser Stelle soll jedenfalls keine nähere Beschäftigung mit der Lyrik stattfinden, es sollen nur einige Reflexe ins Auge gefaßt werden, die entstehen, wenn man die Lyrik auf die Prosa projiziert.

In der angelsächsischen Kritik ist Sebald als easy read charakterisiert worden. In der Tat gibt es kaum einen zeitgenössischen Autor, der sich vergleichbar, wie es scheint, um eine ganz und gar klare und ungetrübt durchsichtige Prosaoberfläche bemüht wie Sebald. Immer wird noch ein zusätzliches klarstellendes Wort eingefügt, noch ein weiterer erläuternder Halbsatz aufgeklappt. Die Klarheit der Oberfläche zieht aber sichtbar-unsichtbar das ganze vielgestaltige Dunkel der Welt hinter sich her. Man könnte glauben, Sebald habe erst mit der Veröffentlichung künstlerischer Prosa begonnen, als dieses Prosaideal für ihn feststand und auch erreichbar war. Der Einsatz fand mit den Schwindel.Gefühlen denn auch gleich auf dem höchsten, nicht mehr zu übertreffenden, sondern nur noch zu variierenden Niveau statt. Wie verhält sich dazu die Lyrik.

Das erste Gedicht in dem Band lautet:

Schwer zu verstehen
ist nämlich die Landschaft,
wenn du im D-Zug von dahin
nach dorthin vorbeifährst,
währen sie stumm
dein Verschwinden betrachtet.

Weder entfaltet noch eingefaltet, ein Augenblick der Evidenz mit einer durchaus durchsichtigen Bedeutungsschicht überzogen, die aber, wie die spätere Prosa, das Dunkel der Unverständlichkeit im Nacken hat (Schwer zu verstehen...). Der knappe Vers enthält mit dem Reisen ein Generalthema der Prosa, und auch die Inversion, die den Blick vom Leblosen auf das Belebte lenkt, wird zum Prosathema: Was mich beunruhigte war die an sich unsinnige Vorstellung, daß die durch diese Verschuppung ihrer Oberfläche gewissermaßen ans Lebendige heranreichende gußeiserne Säule sich erinnerte an mich (AUS 319/320).

Einige Gedichte weiter (LW 10):

Versiegelt die Absicht
bewahrter Zeichen.
Durch Regen gereist
verwischt die Adresse.
Vermute das „Wiederkehr“
am Ende des Briefes!
Zuweilen gegen das Licht
erscheint: „der Seele“.

Eine Annäherung an das vermutete Prosaideal der Oberflächenklarheit hat auf den wenigen Seiten, die zwischen den beiden Gedichten liegen, nicht stattgefunden, die Sprache ist deutlich nicht entfaltend, sondern eingerollt, verrätselt.

Ganz anders sieht es aus bei der späten, parallel zur Prosaproduktion, man kann vermuten: zur Entspannung entstandenen Lyrik aus. Ein besonders ansprechendes Beispiel ist die auf das 1999 datierte Marienbader Elegie. Es ist eine Schriftstellervignette ähnlich der Rousseaus im Landhaus, Stendhals und Kafkas in den Schwindel.Gefühlen oder Chateaubriands und Swinburnes in den Ringen des Saturn. Es ist die gleiche Mischung kollegialer Nähe zu Mitgliedern der Glücks- und Leidensgemeinschaft der Schreibenden, äußerster Dezenz der Annäherung, aber auch einer leicht spöttischer Distanz, die freilich umfassend auf die seltsamen Handwerke des Schreibens, des Lebens und des Liebens zielt und insofern selbstreflexiv den Autor selbst bewusst immer mit einbezieht. Noch weitergehend sind auch wir einbezogen, denn stilistisch sind wir alle als Teilnehmer einer Comédie Humaine verstanden. Dabei ergibt sich speziell an dieser Stelle zusätzlich Entlastung für alle, die dem Mittelteil der Trilogie der Leidenschaft nicht ohne ein gewisses hilfloses Stirnrunzeln gegenüberstehen:


Mir aber wollte es
nicht recht gefallen
dies herrliche Geflecht
verschlungener Minnen.

....Ein
Faksimile davon habe
Ich heute gesehen im Museum
Von Marienbad nebst
ein paar anderen Sachen

die mir viel näher
gingen & unter denen
eine Dochtschere gewesen
ist & ein Siegellacksatz,
ein Ablegeschälchen aus
Papiermaché & eine Feder-
zeichnung Ulrikes...

Wenn das Gedicht insgesamt als eine Wortwelterinnerungen zu charakterisieren ist, so gleitet es dann hin zu den aus den stummen Dingen des ANTIKOS BAZAR, auf den Selysses allenthalben stößt und aus denen sein Blick die tieferliegenden Erinnerungen der Wortlosigkeit löst. Man kann mutmaßen, daß in einem parallelen Prosatext die Entfaltungen noch über tausend Blütenblätter weiter gegangen wären. Die Nagelprobe ist möglich an zwei Gedichten, zu denen es eine derartige Prosavariante gibt. Dabei kann es natürliche nicht um absolute Maßstäbe gehen, da Lyrik ganz allgemein als eine einfaltende und Prosa demgegenüber als ein entfaltende Literaturform zu kennzeichnen wäre. Das Interesse zielt vielmehr auf das Verhältnis einer nur schwach einfaltenden, eigentlich schon entfaltenden Lyrik zu einer extrem entfaltenden Prosa.

Viele der Gedichte sind offenbar auf Reisen entstanden, einige von den späteren offenbar auf Reisen, die zu Prosazwecken unternommen wurden. Die Entstehung der Marienbader Elegie möchte man einer Reise in die Tschechei zuordnen, die für das Austerlitzbuch notwendig war. Man stellt sich den Dichter einsam in einem Hotelzimmer vor, wie er versucht, die rastlos sich bewegenden, noch nicht in Prosaform gebrachten Stoffmengen, die ihm den Schlaf rauben, durch das Gedicht zum Schweigen zu bringen, eine persönliche Mentalhygiene also. Der Beginn des Gedichtes In Bamberg:

In Bamberg
liege ich schlaflos
in einem steinernen
Haus (76)

scheint diese Phantasie zu bestätigen.

Das Gedicht New Jersey Journey (60) verarbeitet in der angenommenen Art Material der Erzählung Ambros Adelwarth:

Eine zerdehnte Katastrophe
der Strom des Verkehrs
Überholvorgänge die eine Ewigkeit
währen todessüchtige Blickwechsel
mit den wildfremden Menschen
auf der anderen Spur

Im Prosatext ist die Todessehnsucht verschwunden, und es wird daraus eine der bei Sebald gar nicht seltenen Stellen, wo die Klarheit der Prosa vor einem semantisch hellen, geradezu spaßigen Hintergrund steht, hier umso schöner, als die Helligkeit von dunklen Menschen ausgeht: Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen (AW 154). Das Überholen, auf deutschen Autobahnen, wenn es nach dem Willen und der Absicht der Verkehrsteilnehmer geht, eine Sache von Sekundenbruchteilen, hier fast in den Stundenbereich gedehnt: ganz offenbar ein gefundenes Fressen für Sebalds Entfaltungskunst, mit dem knappen Aufklappen in der Gedichtform konnte er noch längst nicht zufrieden sein.

Die Überholszene ist in der Erzählung in die Fahrt nach Ithaca New York verlegt, die weiteren Szenen des Gedichts verbleiben auch in der Prosaspiegelung in New Jersey. Dem Gedicht entsprechen in der Erzählung im wesentlichen die Seiten 104 bis 130.

Getrieben von der Sehnsucht
nach den Brüdern der grauen Vorzeit
erhebt sich aus dem Flughafen Newark
ein Jumbo über Lagunen und Sümpfe
über ein rauchendes
Riesengebirge aus Müll
und die ungezählten Lichter der Raffinerien

Gleich außerhalb des Flughafengeländes wäre ich um ein Haar von der Straße abgekommen, als ich über einem dort aufgeworfenen wahren Riesengebirge aus Müll einen Jumbo wie ein Untier aus ferner Vorzeit schwerfällig in die Luft sich erheben sah. Er zog einen schwarzgrauen Rauchschleier hinter sich her, und einen Augenblick lang war mir, als habe er die Schwingen bewegt (AW 105).

Die Entfaltung geht weniger in den Umfang, als daß, wie schon beim Überholvorgang, eine Veränderung der Tonlage ins Entspannte, Freundlichere, fast Heitere stattfindet. Mit dem Beinaheunfall (wie dürfen uns von Sebalds schlimmen persönlichem Schicksal nicht in der literarischen Wahrnehmung beirren lassen) wird ein wenn auch nur leichter Slapstickeffekt erzielt. Schon in Verona, auf dem Corso Cavour, wäre Selysses fast dem Verkehr zum Opfer gefallen, als er einem herrenlosen Hund nachschaut (SG 139). Sebalds Humor ist längst nicht so deadpan wie der Buster Keatons, den niemand jemals hat lachen sehen, für viele aber anscheinend unsichtbar.

Krüppelholz meilenweit
Telegraphenstangen Blaubeerfelder
eine sibirische Gegend
kolonisiert und verwildert
totgesagte Supermärkte
aufgelassene Hühnerfarmen
durchgeistert von Abermillionen
von Frühstückseiern
bergend die unentzifferten Seufzer
einer ganzen Nation

Den ganzen Garden State Parkway entlang gab es nichts als Krüppelholz, verwachsenes Heidekraut und von ihren Bewohnern verlassene, teils mit Brettern vernagelte Holzhäuser, umgeben von verfallenen Gehegen und Hütten, in denen, wie der Onkel Kasimir mir später erklärte, bis in die Nachkriegszeit hinein Millionen von Hühnern gehalten wurden, die unvorstellbare Abermillionen von Eiern legten für den Markt von New York, bis neue Methoden der Hühnerhaltung das Geschäft unrentabel machten und die Kleinhäusler samt ihrem Federvieh verschwanden (AW 105).

Hier ist die räumliche Entfaltung wieder deutlicher, vor allem eignet sich der sozusagen de profundis hervorgestoßene lyrische Text erneut als Kontrastmittel, um zu zeigen, wie sehr der Erzähltext durch eine zwischengeschobene Erzählerinstanz, durch das zeitliche Nachschieben der Erklärung, durch ein wenig niedliche Vokabeln wie Kleinhäusler oder Federvieh auf Distanz und freundliche Verträglichkeit gebracht wurde.

Die im Gedicht festgehaltene Episode des Besuchs beim Onkel Kasimir und der Tante Lina gibt in der Erzählung nur den Rahmen ab für Gespräche über den Titelhelden Ambros Adelwarth, die Erzählung entfaltete sich insofern über lange Strecken in eine Richtung, für die die Projektion auf das Gedicht nicht ergiebig ist, Gedicht und Erzählung treffen sich dann abererneut:

Schnaps trinkend
erzählte er mir später
von der Eroberung New Yorks
Schnaps trinkend überlege ich
die Verzweigung unseres Unglücks
und die Bedeutung des Bildes
das ihn meinen Onkel
als Spenglergesellen im 23erjahr
auf dem neuen Kupferdach
der Augsburger Synagoge zeigt
was waren das für Zeiten

Der Onkel hatte zwei Gläser hervorgeholt und schenkte den Enzian ein, den ich mitgebracht hatte. In Deutschland sei er auf keinen grünen Zweig gekommen. Nur ein einziges Mal habe er, wie er mit der Spenglerlehre in Altenstadt fertig war, eine Arbeit gehabt, anno 28, als ein neues Kupferdach auf die Augsburger Synagoge gemacht worden sei. Das hier bin ich, sagte der Onkel Kasimir, indem er eine postkartengroße gerahmte Fotographie, die er von der Wand genommen hatte, mir über den Tisch zuschob.... (AW 117).

Anderntags fahren wir hinunter ans Meer
Seaside Park Avenue um zwölf Uhr mittags
menschleer die hölzernen side-walks
verbarrikadierte Stehrestaurants
im alpenländischen Stil Sommerhäuser
in denen die Zugluft umgeht
Segelboote klappernd vor Kälte
Dünen unterwandern die Stadt

Vor den haushohen braunen Wellen
des Ozeans macht der Onkel
vornübergebeugt in den Wind
mit seinem Polaroidapparat
noch ein Bild von mir

Die Straßen waren leer. Wir brauchten für die zwanzig Meilen bis an den Atlantik hinunter bald eine Stunde, weil der Onkel Kasimir so langsam fuhr, wie ich auf einer freien Strecke noch nie habe jemand fahren sehen. Im Hafen lagen dicht wie eine verängstigte Herde aneinandergedrängte Segelboote mit scheppernden Takelwerk. Der Buyright Store, der Pizza Parlour und der Hamburger Haven und auch die Wohnhäuser waren versperrt und hatten die Läden herabgelassen. I often come out here, sagte der Onkel Kasimir, it makes me feel that I am a long way away, though I never quite know from where. Dann holte er seine Kamera aus seinem großkarierten Überzieher heraus und machte diese Aufnahme, von der er mir zwei Jahre später einen Abzug schickte zusammen mit seiner goldenen Taschenuhr (AW 129f).

Das Motiv der extrem langsamen Fahrzeugbewegung, diesmal nicht relativ beim Überholen, sondern absolut, ist ein zweites Mal genutzt, wieder fühlt man sich in der Prosa, anders als im Gedicht, behütend bei der Hand genommen. Das Gedicht wirkt schon optisch so, als stände es in einem harten Wind, der von Osten in es einschlägt, in der Prosa bewegen wir uns hinter unsichtbaren schützenden Wällen.

Wenn schon die Marienbader Elegie als Nebenprodukt einer Prosaerkundungsreise gedeutet wurde, so gilt das umso mehr für Das vorvergangene Jahr (LW 65). Dem Gedicht entspricht eine konkrete Erzählstrecke im Austerlitzbuch (AUS 298ff). Der Lyrik/Prosakontrastbefund ist dem Wesen nach ähnlich wie bei der New Jersey Reise, aus einem Motorradfahrerfahrer im Gedicht werden zwei in der Erzählung, den vier Seiten Lyrik, allenfalls halbe Zeilen, werden zehn Seiten Prosa, dem kann im einzelnen nicht nachgegangen werden. Der Titel des Gedichtes ähnelt dem des bekannten Films Letztes Jahr in Marienbad. Dem könnte aber nur nachgehen, wer den bekannten Film auch kennt.

Das in den Gedichten durchgängig verwendete Zeichen & möchte man, weil man es nicht besser weiß, als eine Besonderheit des lyrischen Sebald verstehen, tatsächlich handelt es sich aber, wie dem Marbacher Katalog Wandernde Schatten zu entnehmen ist, um eine übliche Handschriftengewohnheit des Dichters, die bei der Veröffentlichung der Prosatexte dann aufgehoben wurde. Bei den Gedichten hat man davon abgesehen, Rücksprache mit dem Dichter war nicht mehr möglich. Es ist zweifellos ein anmutiges Zeichen, fast schon, als sei es dem kartwelischen Alphabet entlehnt.

2 Kommentare:

con vivator hat gesagt…

Alles phantastisch!
Könnten wir das irgendwie einbinden in wgsebald.de?

Mit bewundernden Grüßen

C. wirth

Peter Oberschelp hat gesagt…

Dieser Kommentar ist natürlich eine große Freude für mich. Ich bin seit langem ein Bewunderer und Nutzer der Seite wgsebald.de und habe mich das eine oder andere Mal auch schon direkt mit Fragen an Sie gewandt. Der Gedanke an "Fusion" ist mir auch schon gekommen, schien mir von meiner Seite aus dann aber doch zu mutig und außerdem konnte ich nicht zu Ihrer E-Mail gelangen. Meine lautet:

mail@oberschelp-bonn.de

Für jede Art der Einbindung haben Sie freie Hand.