Nie hat sich Selysses einer Stadt in angenehmerer Weise genähert als der Stadt Mailand in trauter Lesegemeinschaft mit der Franziskanerin und dem in Brescia zugestiegenen jungen Mädchen. Nie aber auch ist er in häßlicherer Weise empfangen worden als in der Stadt Mailand, noch auf dem Bahnhofsgelände. Gerade noch hat er in die schönsten Worte und Sätze gefaßten träumerischen Gedanken nachgehangen betreffend den Zusammenhang zwischen den beiden liebreizenden Leserinnen und der riesigen, alles bislang in Europa Dagewesene übertrumpfenden Konstruktion des Mailänder Bahnhofsgebäudes aus dem Jahre 1932, zwischen den sogenannten steinernen Zeugen der Vergangenheit und dem, was als eine undeutliche Sehnsucht über unsere Körper sich fortpflanzt, um sie zu bevölkern, die staubigen Landstriche und die überschwemmten Felder der Zukunft; gerade noch hatte er sich beglückwünscht zum Kauf des Stadtplans, der auf der Vorderseite zwar ein Verderben versprechendes Labyrinth zeigt, auf der Rückseite aber beruhigt mit der Versicherung: Una guida sicura per Milano, als zwei junge Männer auf ihn zukommen. Schon spürt er ihre Hände unter seiner Jacke, und erst als er die Schultertasche mit einem Schwung in sie hineinfahren läßt, gelingt es ihm freizukommen. Der Taxifahrer, als er ihm von dem Vorfall erzählt, antwortet nnur mit einer Geste der Hilflosigkeit.
Das Hotel Boston hat Selysses für die Übernachtung offenbar mit bewußtem Masochismus ausgewählt. Die Empfangsdame, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, mustert ihn mit skeptischem Vogelblick, und der Schlüssel wird ihm schließlich auf eine halb mitleidige, halb verächtliche Weise ausgehändigt. Die Nacht verläuft gewohnt ungut, unterbrochen am frühen Morgen von einem Duschbad in dem hinter einem stockfleckigen Plastikvorhang verborgenen Brausebecken.
Mailand stand nicht auf dem Reiseplan des Selysses für Oberitalien, falls von einem solchen Plan überhaupt gesprochen werden kann. Der Besuch hat einen unvorhergesehenen und pragmatischen Grund, es geht um ein Ersatzdokument für den in Limone abhanden gekommenen Reisepaß. Der Schengenraum bestand anno 1987 noch nicht und Großbritannien, wo die Reise enden soll, liegt bis zum heutigen Tag ohnehin außerhalb seiner Grenzen. Trotz des geschäftsmäßigen Besuchsanlasses verläuft der Aufenthalt in Mailand nicht schwindelfreier als in Venedig oder Verona. Der sichere Führer durch Mailand hält nicht, was er verspricht, und auch das bunte Medaillon Unserer Lieben Frau im Taxi verscheucht nicht das Dunkel. So wie Selysses in Venedig im leichten Schlaf den heiligen Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser sieht und die heilige Katharina über die Sümpfe schreitend, so sieht er jetzt im morgendlichen Halbschlaf die ihm aus seiner Kindheit vertraute Klosterfrau Schwester Mauritia mit ausgebreiteten Armen über einem Maisfeld schweben. Bei derartiger Einstimmung in den heiligen Bezirk verwundert es kaum noch, wenn er am folgenden Morgen im Wartesaal des deutschen Konsulats in der Via Solferino auf den Heiligen Georg trifft. Der hat seinen Namen in Giorgio Santini verwandelt und damit den Bedingungen der bürgerlichen Welt angepaßt und trägt noch immer den wirklich wunderbaren formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den Pisanello ihm aufgesetzt hatte. Ob Selysses den Hochseilartisten als San Giorgio erkennt, mag dahingestellt bleiben, Sebald hat den nur leichten Schleier der Tarnung ohne Frage durchschaut.
Eine heilsame Wirkung auf den verwirrten Selysses geht auch vom Namenspatron nicht aus. Ein kleiner, ja zwergwüchsiger Konsulatsbeamter - der Gegenentwurf zum grandiosen Brigadiere, der das erste Notdokument für den verlorenen Paß ausgestellt hatte - stellt die verlorengegangene Identität des Selysses fest und mit der Aushändigung eines neuen Passes auch wieder her, kann sie aber dem Eigentümer nicht wirklich zurückgeben, und der weiß bald nicht einmal mehr, ob er noch in der Landschaft der Lebendigen oder bereits an einem anderen Ort weilt.
Das Hotel Boston hat Selysses für die Übernachtung offenbar mit bewußtem Masochismus ausgewählt. Die Empfangsdame, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, mustert ihn mit skeptischem Vogelblick, und der Schlüssel wird ihm schließlich auf eine halb mitleidige, halb verächtliche Weise ausgehändigt. Die Nacht verläuft gewohnt ungut, unterbrochen am frühen Morgen von einem Duschbad in dem hinter einem stockfleckigen Plastikvorhang verborgenen Brausebecken.
Mailand stand nicht auf dem Reiseplan des Selysses für Oberitalien, falls von einem solchen Plan überhaupt gesprochen werden kann. Der Besuch hat einen unvorhergesehenen und pragmatischen Grund, es geht um ein Ersatzdokument für den in Limone abhanden gekommenen Reisepaß. Der Schengenraum bestand anno 1987 noch nicht und Großbritannien, wo die Reise enden soll, liegt bis zum heutigen Tag ohnehin außerhalb seiner Grenzen. Trotz des geschäftsmäßigen Besuchsanlasses verläuft der Aufenthalt in Mailand nicht schwindelfreier als in Venedig oder Verona. Der sichere Führer durch Mailand hält nicht, was er verspricht, und auch das bunte Medaillon Unserer Lieben Frau im Taxi verscheucht nicht das Dunkel. So wie Selysses in Venedig im leichten Schlaf den heiligen Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser sieht und die heilige Katharina über die Sümpfe schreitend, so sieht er jetzt im morgendlichen Halbschlaf die ihm aus seiner Kindheit vertraute Klosterfrau Schwester Mauritia mit ausgebreiteten Armen über einem Maisfeld schweben. Bei derartiger Einstimmung in den heiligen Bezirk verwundert es kaum noch, wenn er am folgenden Morgen im Wartesaal des deutschen Konsulats in der Via Solferino auf den Heiligen Georg trifft. Der hat seinen Namen in Giorgio Santini verwandelt und damit den Bedingungen der bürgerlichen Welt angepaßt und trägt noch immer den wirklich wunderbaren formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den Pisanello ihm aufgesetzt hatte. Ob Selysses den Hochseilartisten als San Giorgio erkennt, mag dahingestellt bleiben, Sebald hat den nur leichten Schleier der Tarnung ohne Frage durchschaut.
Eine heilsame Wirkung auf den verwirrten Selysses geht auch vom Namenspatron nicht aus. Ein kleiner, ja zwergwüchsiger Konsulatsbeamter - der Gegenentwurf zum grandiosen Brigadiere, der das erste Notdokument für den verlorenen Paß ausgestellt hatte - stellt die verlorengegangene Identität des Selysses fest und mit der Aushändigung eines neuen Passes auch wieder her, kann sie aber dem Eigentümer nicht wirklich zurückgeben, und der weiß bald nicht einmal mehr, ob er noch in der Landschaft der Lebendigen oder bereits an einem anderen Ort weilt.
Der soweit durchlaufene Heiligenparcours führt Selysses folgerichtig in den Mailänder Dom und dort hinauf bis in die oberste Galerie. Bedeutsames oder gar Rettendes über den Köpfen stellt sich aber nicht ein. Als drohendes Sinnbild steht im Westen eine ungeheurere Wolkenwand. Rettung, wenn auch nur auf der Ebene der allersparsamsten Realitätsversicherung, kommt von unten: Ihm kam der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen. Die notdürftig wiedergewonnene Fassung reicht hin, um noch am Abend nach Verona weiterzureisen und dort die ausgehenden Sommermonate in einigermaßener Ruhe zu verbringen, allerdings weiter unter Verzicht auf die eigene Identität als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker von Landeck.
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