Bazar und Museum
In Austerlitz erscheinen die beiden böhmischen Städte Prag und Marienbad in der deutschen Namensform, Terezín dagegen in der tschechischen, der deutsche Name Theresienstadt ist dem Lager vorbehalten, der Stadt, die der Führer den Juden schenkt.
Austerlitz ist nicht in guter Verfassung, als er nach Terezín aufbricht. Tags zuvor hatte ihn der Blick des Pagen der Rosenkönigin durchdrungen, also der photographierte Blick seiner selbst als Kind, und sprach- und begriffslos und zu keiner Denkbewegung imstande gemacht. Zwar fällt Austerlitz’ böhmischer Besuch schon in die Nachwendezeit, in der mit mehreren Mänteln bekleideten Bauersfrau aber auf dem Bahnhofsvorplatz Lovosice, die hinter einem notdürftig zusammengezimmerten Stand darauf wartet, daß es jemandem einfallen möchte, eines der vor ihr aufgetürmten Krauthäupter zu kaufen, sowie in dem vom Rost zur Hälfte schon zerfressenen petrochemischen Kombinat sind die deprimierenden Formate des gerade erst untergegangen Bauern- und Arbeiterstaates noch gut zu erkennen. Von Lovosice – weiteres war von der Stadt nicht zu sagen - macht Austerlitz sich zu Fuß auf den Weg nach Terezín, offenbar über verborgene Feldwege, denn von irgendeiner Begegnung, sei es Mensch oder Fahrzeug, ist nicht die Rede. Das Land ist immer bereit, sich für den wandernden Dichter zu entvölkern. Wegemale fehlen, die Silhouette der Festung sollte sich abzeichnen, tatsächlich aber duckt Terezín sich tief in die feuchten Niederungen des Zusammenflusses von Eger und Elbe hinein.
Selbst nachdem man es betreten hat, wird Terezín kaum sichtbarer als zuvor. Was eine Stadt ausmacht: Menschen, die sie bewohnen, fehlt so gut wie vollständig. Eine vornübergebeugte Gestalt bewegt sich an einem Stock unendlich langsam voran und ist dann plötzlich verschwunden. Ein Geistesgestörter fuchtelt wild, ehe er, mitten im Davonspringen, vom Erdboden verschluckt wird. Am unheimlichsten aber waren die Türen und Tore von Terezín, die sämtlich den Zugang versperrten zu einem nie noch durchdrungenen Dunkel. Nicht nur die Häuser sind verschlossen, auch die Sprache ist weggesperrt, über mehrere Seiten findet sich kein Wort, nur ganzseitige Abbildungen der Türen, hinter denen nicht etwa Menschen wohnen, sondern Spinnen, Totemtier der Nornen, die ihre Fäden ziehen, mit ihren hastig trippelnden Beinen über die Dielen laufen und erwartungsvoll in ihren Geweben hängen. Das moderne Terezín ist, dieser Eindruck stellt sich ein, schwer gezeichnet von seiner Theresienstädter Vergangenheit.
Am Antikos Bazar, in gewisser Weise das kulturelle Zentrum des Ortes, trifft Austerlitz auf einen weiteren, wenn auch nur flüchtigen Bewohner, es ist sein eigenes Schattenbild im Fenster der Auslage. Dem Leser will allerdings scheinen, daß es weniger Austerlitz als Selysses ähnlich sieht, der wiederum, wie sich aus verschiedenen über das Werk verstreuten Photographien ergibt, verblüffende Ähnlichkeit mit dem Dichter Sebald hat. Da Selysses ausweislich des Romans nicht in Terezín war, hat mit großer Wahrscheinlichkeit Sebald auf den Spuren des Jacques Austerlitz die böhmische Stadt besucht und das fragliche Photo geschossen. Wessen Kopf auch immer dort schemenhaft über dem reitenden Helden schwebt, der ein verlassenes weibliches Wesen zu sich emporzieht und so vor einem grauenvollen Unglück rettet, den Besitzer des Ladens, einen gewissen Augustýn Němeček, bekommt er nicht zu Gesicht. In den vier Fenstern des Ladens erscheinen die Ausstellungsstücke als willkürlich zusammengesetzte Stilleben. Zierstücke, Geräte und Andenken sind es - darunter die Hirschhornknöpfe, die eine bekannte deutsche Kritikerin vor Jahren gründlich aus der Bahn geworfen hatten -, die aufgrund unerforschlicher Zusammenhänge ihre ehemaligen Besitzer überlebt und den Prozeß der Zerstörung überdauert hatten. Austerlitz ist derart angezogen von der Ausstellung, daß er sich lange nicht losreißen kann und, die Stirne gegen die kalte Scheibe gepreßt, die hundert verschiedenen Dinge studiert, ausgeliefert der Melancholie dessen, was unser Leben bestenfalls ist und was vom ihm bleibt. Man weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das uns manchmal so rührt. Der Antikos Bazar ist Ouvertüre oder Einübung in den Besuch des Ghettomuseums, dessen Gegenstück auf der bürgerlichen Seite der Gesellschaft sozusagen. Im Museum sind ganz ähnlich Gegenstände und Hinterlassenschaften verwahrt wie im Bazar, Handtaschen nämlich, Gürtelschnallen, Kleiderbürsten und Kämme. Von unerforschlichen Zusammenhängen kann aber nicht die Rede sein, die Handtaschen, Gürtelschnallen, Kleiderbürsten und Kämme sind gefertigt von den bald dann ums Leben gebrachten Häftlingen. Während der Antikos Bazar reichlich und liebevoll mit Bildern dokumentiert ist, fehlt für das Museum jegliche Bilddokumentation.
Wir können vermuten, daß Austerlitz das Ghettomuseum lieber nicht betreten und es gern beim Antikos Bazar belassen hätte. Wie unter Zwang aber betritt er den Vorraum zur Hölle und läßt sich von einer freundlichen Wärterin das Eintrittsbillet ausstellen. Die ganze Zeit über häkelnd scheint es sich um eine entfernte und volkstümliche Verwandte der Nornen zu handeln. Das weiße Taschentuch, das sie mit blütenblattähnlichen Schlaufen umsäumt, wird nach der Fertigstellung womöglich schon bald im Bazar zum Verkauf ausliegen. Der eigentliche Brotberuf im Museum überfordert sie nicht, bis zum Schließen, am späten Nachmittag wohl, bleibt Austerlitz der einzige Besucher.
Lovosice und Terezín sind ganz in graudunklen Tönen gehalten, von denen sich allenfalls die elfenbeinfarbene Porzellankomposition in der Auslage des Antikos Bazar mild abhebt, und wenn Austerlitz im Museum wie geblendet dasteht, so ist die Lichtquelle nicht etwa die weiße Häkelarbeit der Wärterin mit der altmodisch gewellten Frisur, es ist vielmehr der mit ausgeklügeltem Aufwand in die Praxis umgesetzte Ordnungs- und Sauberkeitswahn der Herren des Lagers Theresienstadt. Das und anderes begreift Austerlitz und begreift es auch nicht in einer ganz anderen Art des Nichtbegreifens wie vor den Auslagen des Antikos Bazar, den es womöglich schon gab, als Theresienstadt noch eine stille Garnison im kaiserlich und königlichen Reich war, mit Offiziergattinnen, die sich unendlich langweilten und einem, wie man glaubte, in alle Ewigkeit geltenden Dienstreglement. In diese Vergangenheit hätte sich der Bazar ganz unauffällig eingefügt.
Die Rückfahrt bestreitet Austerlitz nicht mit der Bahn, sondern mit einem altertümlichen Omnibus, der aus dem Nirgendwo auftaucht. Der Bus ist naturgemäß nicht führerlos, aber wortlos nur gibt der Fahrer auf einen Hundertkronenschein das Wechselgeld heraus. Einmal, als Austerlitz sich umwendete während der Fahrt, sieht er, daß die Fahrgäste in den Schlaf gesunken waren, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnen und hängen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt. Manche röcheln leise. Es ist ein Totenbus, mit dem schließlich eine Art Rampe hinunter in die Vorstädte von Prag einfährt.
Der Dichter ist kein auf Objektivität bedachter Historiograph und auch kein in Böhmen reisendes Mitglied des deutschen Ethikrates. Sein in Austerlitz’ Erleben gespiegeltes Terezín ist so real wie ein Bild Chiricos. Le surréalisme est un réalisme, könnte man sagen, oder, ungefähr so hat sich Sebald ausgedrückt, der Realismus vervollständigt sich im Surrealismus. Die Textpassage schließt mit einem geträumten Vernichtungswunsch: Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane, von denen ich mir in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub. Alle Farben sind endgültig verschwunden. Anders als der weiße Schnee wird der schwarze nicht auftauen im Frühjahr und eingeschneite Menschen werden nicht wieder hervorkommen. Der Vernichtungswunsch betrifft nicht allein und nicht einmal vordringlich das an sich schöne und unschuldige Land Böhmen. Der schwarze Staub soll bis an das Ende der Welt reichen. Es ist der Todeswunsch des Jacques Austerlitz, der das Buch schließlich dann aber lebend verläßt, auf der Suche nach seinem Vater und nach Marie de Verneuil.
Kafka ist in Terezín nicht vertreten. Im Jahr 1944 wurden Agátas Schwestern Milena Jesenká in Ravensbrück und Julie Wohryzek in Auschwitz ums Leben gebracht.
Austerlitz ist nicht in guter Verfassung, als er nach Terezín aufbricht. Tags zuvor hatte ihn der Blick des Pagen der Rosenkönigin durchdrungen, also der photographierte Blick seiner selbst als Kind, und sprach- und begriffslos und zu keiner Denkbewegung imstande gemacht. Zwar fällt Austerlitz’ böhmischer Besuch schon in die Nachwendezeit, in der mit mehreren Mänteln bekleideten Bauersfrau aber auf dem Bahnhofsvorplatz Lovosice, die hinter einem notdürftig zusammengezimmerten Stand darauf wartet, daß es jemandem einfallen möchte, eines der vor ihr aufgetürmten Krauthäupter zu kaufen, sowie in dem vom Rost zur Hälfte schon zerfressenen petrochemischen Kombinat sind die deprimierenden Formate des gerade erst untergegangen Bauern- und Arbeiterstaates noch gut zu erkennen. Von Lovosice – weiteres war von der Stadt nicht zu sagen - macht Austerlitz sich zu Fuß auf den Weg nach Terezín, offenbar über verborgene Feldwege, denn von irgendeiner Begegnung, sei es Mensch oder Fahrzeug, ist nicht die Rede. Das Land ist immer bereit, sich für den wandernden Dichter zu entvölkern. Wegemale fehlen, die Silhouette der Festung sollte sich abzeichnen, tatsächlich aber duckt Terezín sich tief in die feuchten Niederungen des Zusammenflusses von Eger und Elbe hinein.
Selbst nachdem man es betreten hat, wird Terezín kaum sichtbarer als zuvor. Was eine Stadt ausmacht: Menschen, die sie bewohnen, fehlt so gut wie vollständig. Eine vornübergebeugte Gestalt bewegt sich an einem Stock unendlich langsam voran und ist dann plötzlich verschwunden. Ein Geistesgestörter fuchtelt wild, ehe er, mitten im Davonspringen, vom Erdboden verschluckt wird. Am unheimlichsten aber waren die Türen und Tore von Terezín, die sämtlich den Zugang versperrten zu einem nie noch durchdrungenen Dunkel. Nicht nur die Häuser sind verschlossen, auch die Sprache ist weggesperrt, über mehrere Seiten findet sich kein Wort, nur ganzseitige Abbildungen der Türen, hinter denen nicht etwa Menschen wohnen, sondern Spinnen, Totemtier der Nornen, die ihre Fäden ziehen, mit ihren hastig trippelnden Beinen über die Dielen laufen und erwartungsvoll in ihren Geweben hängen. Das moderne Terezín ist, dieser Eindruck stellt sich ein, schwer gezeichnet von seiner Theresienstädter Vergangenheit.
Am Antikos Bazar, in gewisser Weise das kulturelle Zentrum des Ortes, trifft Austerlitz auf einen weiteren, wenn auch nur flüchtigen Bewohner, es ist sein eigenes Schattenbild im Fenster der Auslage. Dem Leser will allerdings scheinen, daß es weniger Austerlitz als Selysses ähnlich sieht, der wiederum, wie sich aus verschiedenen über das Werk verstreuten Photographien ergibt, verblüffende Ähnlichkeit mit dem Dichter Sebald hat. Da Selysses ausweislich des Romans nicht in Terezín war, hat mit großer Wahrscheinlichkeit Sebald auf den Spuren des Jacques Austerlitz die böhmische Stadt besucht und das fragliche Photo geschossen. Wessen Kopf auch immer dort schemenhaft über dem reitenden Helden schwebt, der ein verlassenes weibliches Wesen zu sich emporzieht und so vor einem grauenvollen Unglück rettet, den Besitzer des Ladens, einen gewissen Augustýn Němeček, bekommt er nicht zu Gesicht. In den vier Fenstern des Ladens erscheinen die Ausstellungsstücke als willkürlich zusammengesetzte Stilleben. Zierstücke, Geräte und Andenken sind es - darunter die Hirschhornknöpfe, die eine bekannte deutsche Kritikerin vor Jahren gründlich aus der Bahn geworfen hatten -, die aufgrund unerforschlicher Zusammenhänge ihre ehemaligen Besitzer überlebt und den Prozeß der Zerstörung überdauert hatten. Austerlitz ist derart angezogen von der Ausstellung, daß er sich lange nicht losreißen kann und, die Stirne gegen die kalte Scheibe gepreßt, die hundert verschiedenen Dinge studiert, ausgeliefert der Melancholie dessen, was unser Leben bestenfalls ist und was vom ihm bleibt. Man weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das uns manchmal so rührt. Der Antikos Bazar ist Ouvertüre oder Einübung in den Besuch des Ghettomuseums, dessen Gegenstück auf der bürgerlichen Seite der Gesellschaft sozusagen. Im Museum sind ganz ähnlich Gegenstände und Hinterlassenschaften verwahrt wie im Bazar, Handtaschen nämlich, Gürtelschnallen, Kleiderbürsten und Kämme. Von unerforschlichen Zusammenhängen kann aber nicht die Rede sein, die Handtaschen, Gürtelschnallen, Kleiderbürsten und Kämme sind gefertigt von den bald dann ums Leben gebrachten Häftlingen. Während der Antikos Bazar reichlich und liebevoll mit Bildern dokumentiert ist, fehlt für das Museum jegliche Bilddokumentation.
Wir können vermuten, daß Austerlitz das Ghettomuseum lieber nicht betreten und es gern beim Antikos Bazar belassen hätte. Wie unter Zwang aber betritt er den Vorraum zur Hölle und läßt sich von einer freundlichen Wärterin das Eintrittsbillet ausstellen. Die ganze Zeit über häkelnd scheint es sich um eine entfernte und volkstümliche Verwandte der Nornen zu handeln. Das weiße Taschentuch, das sie mit blütenblattähnlichen Schlaufen umsäumt, wird nach der Fertigstellung womöglich schon bald im Bazar zum Verkauf ausliegen. Der eigentliche Brotberuf im Museum überfordert sie nicht, bis zum Schließen, am späten Nachmittag wohl, bleibt Austerlitz der einzige Besucher.
Die Rückfahrt bestreitet Austerlitz nicht mit der Bahn, sondern mit einem altertümlichen Omnibus, der aus dem Nirgendwo auftaucht. Der Bus ist naturgemäß nicht führerlos, aber wortlos nur gibt der Fahrer auf einen Hundertkronenschein das Wechselgeld heraus. Einmal, als Austerlitz sich umwendete während der Fahrt, sieht er, daß die Fahrgäste in den Schlaf gesunken waren, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnen und hängen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt. Manche röcheln leise. Es ist ein Totenbus, mit dem schließlich eine Art Rampe hinunter in die Vorstädte von Prag einfährt.
Der Dichter ist kein auf Objektivität bedachter Historiograph und auch kein in Böhmen reisendes Mitglied des deutschen Ethikrates. Sein in Austerlitz’ Erleben gespiegeltes Terezín ist so real wie ein Bild Chiricos. Le surréalisme est un réalisme, könnte man sagen, oder, ungefähr so hat sich Sebald ausgedrückt, der Realismus vervollständigt sich im Surrealismus. Die Textpassage schließt mit einem geträumten Vernichtungswunsch: Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane, von denen ich mir in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub. Alle Farben sind endgültig verschwunden. Anders als der weiße Schnee wird der schwarze nicht auftauen im Frühjahr und eingeschneite Menschen werden nicht wieder hervorkommen. Der Vernichtungswunsch betrifft nicht allein und nicht einmal vordringlich das an sich schöne und unschuldige Land Böhmen. Der schwarze Staub soll bis an das Ende der Welt reichen. Es ist der Todeswunsch des Jacques Austerlitz, der das Buch schließlich dann aber lebend verläßt, auf der Suche nach seinem Vater und nach Marie de Verneuil.
Kafka ist in Terezín nicht vertreten. Im Jahr 1944 wurden Agátas Schwestern Milena Jesenká in Ravensbrück und Julie Wohryzek in Auschwitz ums Leben gebracht.