Donnerstag, 23. August 2012

Böhmen

A desert country near the sea

Wer ohne jede Vorbereitung zu Sebalds Roman Austerlitz greift, ist nach kurzer Zeit dépaysé, wie in einer falschen Welt. Was wird ihm hier eigentlich erzählt, geht es um Bauwerke, Festungen zumal, oder um Bahnhöfe, um Reisen vielleicht, soll Europa in seiner Vielfalt und Einheitlichkeit dargestellt werden – keiner dieser Ansätze wäre falsch, keiner ist naturgemäß aber auch nur im geringsten erschöpfend. Unter den vom Buch erfaßten europäischen Regionen nimmt Böhmen, tschechisch Čechy, einen der vorderen Plätze ein.

In den Schwindel.Gefühlen, die nach Sebalds eigenem Bekunden eine einzige Hommage an den in Böhmen beheimateten Dichter Kafka sind, hatte Selysses auf der Rückfahrt nach England im Zug das Rheintal abwärts die Winterkönigin getroffen, auf das tiefste versenkt in ein Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer ihm unbekannten Autorin namens Mila Stern. Weder über das Buch noch über die Autorin läßt sich sehr zum Leidwesen des Reisenden später auch nur das geringste herausfinden. In Austerlitz hatte Marie de Verneuil geäußert, die Straße von Prag nach Marienbad führe in Wellentäler hinunter und dann wieder hinauf bis dorthin, wo Böhmen angrenzt an das Baltische Meer. Nicht auszuschließen – die Chronologie spricht nicht dagegen -, daß Marie de Verneuil unter dem Namen Mila Stern das Buch selbst verfaßt hat und im Rheinexpreß das einzige Exemplar des ansonsten nicht veröffentlichten Werkes liest. Was aber, muß man sich fragen, könnte sie bewogen haben, nun ausgerechnet in Bonn aus dem Zug auszusteigen. Sicher ist nur, daß man von Bonn aus gleichermaßen leicht nach Paris oder Prag weiterreisen kann.

Die Frage, warum Böhmen ein Schauplatz des Buches ist, wird man zunächst unbedacht damit beantworten, daß Austerlitz in Prag geboren wurde und Agáta in Theresienstadt ums Leben kam. Austerlitz aber ist ein Geschöpf des Dichters und Todesstätten hatten die Deutschen in großer Zahl überall in Europa errichtet. Feststeht dagegen, daß Prag Kafkas Stadt ist, der Name Austerlitz aus seinem Tagebuch stammt und auch die Abschiedszene am Prager Bahnhof mit den fliegenden Taschentüchern und dem Zug, der nicht eigentlich wegfährt, sondern nur die kurze Bahnhofstrecke fährt, um uns ein Schauspiel zu geben, und dann versinkt, - auch diese Szene also geht auf seine Aufzeichnungen zurück. Unstrittig ist auch, daß die Suche nach Mila Stern und die Frage des an das Meer angrenzenden Binnenlandes den Dichter unweigerlich nach Böhmen führen mußten.

Die drei böhmischen Städte Prag, Terezín und Marienbad werden jede für sich behandelt. In Marienbad sehen wir bei der Rückkehr ins Hotel Kafka halbverdeckt hinter einer roten Fahne an einem Balkontischchen sitzen, beschäftigt mit einer für ihn viel zu großen Portion Kaiserfleisch. Dieses Verlangen, das er fast immer hatte, wenn er einmal seinen Magen gesund fühlte, Vorstellungen von schrecklichen Wagnissen mit Speisen in sich zu häufen.

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