Dienstag, 7. August 2012

Seidenvogel

Zehnter Teil

Thomas Brownes Musaeum Clausum leitet den zehnten und letzten Teil der Ringe des Saturn ein wie ein musikalisches Vorspiel, bei dem man lange nicht wissen kann, in welche Richtung es gehen soll. Tausend Themen werden für jeweils einige Takte nur angeschlagen, die altsächsische Sprache, das Anlegen künstlicher Berge, Molinea von Sedan und Maria Schurmann im Briefwechsel, ein verschollenes Poem des Ovid -, bis die gesuchte Melodie sich zeigt. Wir erkennen sie sogleich, die Melodie des Seidenwurms, denn sie ist schon verschiedentlich angeklungen im Buch, vor allem im Sechsten Teil, der uns nach China geführt hat. Wenn es Nacht wurde, saß die Kaiserin mit besonderer Vorliebe ganz für sich nur zwischen den Stellagen und lauschte hingebungsvoll auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kam. Diese blassen, beinahe transparenten Wesen, die bald ihr Leben lassen würden für den feinen Faden, den sie spannen, betrachtete sie als ihre wahren Getreuen. – Es scheint ein seltsames Einverständnis zu bestehen zwischen der Kaiserin und dem wandernden Selysses, der zum einen eine enge Verbindung zum Spinnen und Weben unterhält und zum anderen auch immer wieder seinen Überdruß am Menschen in der Welt durchblicken läßt.

Sebalds vier Prosabücher teilen sich leicht ersichtlich in zwei Gruppen, deren Unterscheidung sich auf verschiedene Weise beschreiben läßt. Dem spontanen Reisen und Wandern des Selysses, so kann man etwa sagen, in den Schwindel.Gefühlen und in den Ringen des Saturn steht in den Ausgewanderten und in Austerlitz ein Selysses gegenüber, der in Verfolgung des Lebensschicksals anderer reist; Austerlitz ist dabei eigentlich nur die fünfte, überlange Erzählung eines Ausgewanderten. Tiefer greift womöglich die Unterscheidung von kosmologischen und humanistischen Büchern, nicht in der Weise, daß der Autor sich einmal als Welten- und das andere Mal als Menschendichter gibt, sondern so, daß er als kosmologischer Humanist uns einmal stärker die eine und dann wieder die andere Seite zuwendet. Was ist gemeint mit der Klassifizierung als kosmologischer Humanist?
Der kosmologische Humanismus mindert nicht die absolute, wohl aber die relative Bedeutung des Menschen. Es ist eine Frage der Perspektive und der Blickebene. Der humanistische Humanismus, wenn man so sagen kann, beschwört in exzessiver Weise die Ebene gleicher Augenhöhe unter den Menschen – wie sie auch zwischen den Sebaldmenschen besteht - mit der Maßgabe, daß nicht in allzu weite Fernen geschaut werden kann, nicht in die Tiefe des Alls und nicht auf unsere kleineren Brüder. Dem kosmologischen Humanisten hingegen geht es auch um die Ebene knapp unterhalb des von Gott geräumten Platzes. Immer wieder finden sich bei Sebald die verschiedensten Bilder eines Aufschwungs in größere Höhe. In Wahrheit ist van Ruisdael beim Malen natürlich nicht auf den Dünen gestanden, sondern auf einem künstlichen, ein Stück über der Welt imaginierten Punkt, Mrs. Ashbury verschwindet wie eine auffahrende Heilige im Bibliotheksplafond, die Flieger sind in monomaner Weise an nichts als der Höhe interessiert, der Seidenwurm selbst, bevor er noch zum Schmetterling geworden ist, strebt gegen die Höhe und gleichsam, die niedere Welt verachtend, gegen den Himmel an, Tiepolo, der wie alle Welt bis zum Endsieg der europäischen Moderne von einer menschengerechten Kosmologie ausgehen konnte, wußte noch einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht, und die seit nahezu siebenhundert Jahren über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln Giottos sind das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können. Beim Blick aus der Höhe bis in die Ferne Chinas erscheinen der Kaiserhof und der Lebenszyklus des Seidenspinners wie zwei uns gleichermaßen verschlossene und ineinander verschlungene fremde Welten. Der noch weitere und tiefere, in die Mythenzeit zurückreichende Blick auf den Beginn der Seidenzucht ist dann idyllisch eingefärbt. Dreitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung habe der Kaiser Hoang-ti, der mehr als ein Jahrhundert regierte, seine Gemahlin Si-ling-chi bewogen, den Seidenwürmern ihre Aufmerksamkeit zu widmen und unter ihrer Obhut seien sie so gut gediehen, daß in der Folge die sogenannte Hausseidenzucht zur vornehmlichen Beschäftigung aller Kaiserinnen wurde und aus deren Händen überging in die Hände des gesamten weiblichen Geschlechts. Die chinesische Idylle dauerte an bis in die Zeit des Justinian, als zwei persische Mönche die ersten Eier der Seidenraupe über die Reichsgrenzen und in den westlichen Weltteil brachten. Auch beim Zwischenaufenthalt in Byzanz liegt über dem Seidenbau noch das angenehme Dämmerschatten der Frühgeschichte. Dann aber muß sich der Seidenbau dem Licht der anbrechenden Neuzeit stellen.

Frankreich wurde gegen den erbitterten Widerstand des Ministers Heinrichs des Vierten Maximilien de Béthune Duc de Sully serikultiviert, nachzulesen in dessen Memoiren, die das Lexikon unserer Tage als in Stil und Form ungenießbar ausweist, wohingegen Selysses sie zu seinen liebsten Lektüren zählt; man mag rätseln wie er das im einzelnen meint, Logis im Landhaus hat er dem Duc jedenfalls nicht angeboten. Die Hugenotten tragen den Seidenbau nach England, wo er seine frühe europäische Blüte erlebt, und auch im damaligen, eher rückständigen Deutschland, wo man in manchen Residenzstädten am Abend noch die Schweine über den Schloßplatz trieb, werden bald die größten Anstrengungen zum Emporbringen des Seidenbaus unternommen, allerdings ohne durchgreifenden Erfolg. Als sich dann das Dritte Reich der Sache annimmt, sieht es einerseits so aus, als solle auf dem Obersalzberg eine Teezeremonie abgehalten werden, andererseits aber lagen Zuchtauswahl und die letztendliche Tötung der Raupen naturgemäß in den besten Händen. Die Abtötung der Raupen, als letzter Schritt ihrer Zucht, geschieht dadurch, daß man die Kokons über einen beständig am Sieden gehaltenen eingemauerten Wasserkessel schiebt. Drei Stunden müssen sie in flachen Körben ausgebreitet über dem aus dem Schaff aufsteigenden Wasserdampf liegenbleiben, und wenn man mit einer Menge fertig ist, so fährt man mit der nächsten fort, so lange, bis das ganze Tötungsgeschäft vollendet ist.
Der Lebenszyklus des Seidenspinners ist extrem kurz, eher nach Wochen denn nach Monaten bemessen, ein Leben nur knapp oberhalb der Grenze zum Tod, möchte man sagen. Der voll ausgebildete Seidenvogel ist nur eine unscheinbare Motte. Ihr einziges Geschäft ist die Fortpflanzung. Das Männchen stirbt bald nach der Begattung, das Weibchen legt mehrere Tage hintereinander drei- bis fünfhundert Eier und stirbt dann gleichfalls. Damit ist der Seidenvogel eine wahre Bewährungsprobe für das Programm, allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen. Das Versprechen wird in einer Zeit allgemeiner Daseinsverachtung dadurch eingelöst, daß die Sprachhaltung eine isomorphe Struktur des Tötungsgeschäftes an Menschen, Heringen und Seidenraupen ans Licht bringt.

Fortpflanzung und vielleicht noch ein kurzer Augenblick zwecklosen Flatterns und Fliegens anspruchsloser Schönheit. Die einzig wirkliche Freiheit, die wir, vom Selbstmord abgesehen, vor anderen Tieren und damit auch vor den Seidenvögeln haben, ist ja die, uns nicht fortzupflanzen, so urteilen bei Sebald die Flieger. Sie steigen auf und kehren schließlich von einem ihrer Flüge nicht mehr zurück und haben, anders als die Seidenvögel, keine Nachfahren. Nur so kann dem allem Leben innewohnenden Tötungsgeschäft Einhalt geboten werden.

Selysses selbst rechnet sich nicht den Fliegern, sondern den Seidenwebern zu, die zur Melancholie und allen aus ihr entspringenden Übeln neigen, das versteht sich bei einer Arbeit, die einen zwingt zu beständigen krummen Sitzen und zu andauernden scharfen Nachdenken. Man macht sich nicht leicht einen Begriff davon, in welche Ausweglosigkeiten und Abgründe das ewige, auch am sogenannten Feierabend nicht aufhörende Nachsinnen, das bis in die Träume hineindringende Gefühl, den falschen Faden erwischt zu haben einen Treiben kann. Mit dem Elend teilt der Dichter aber auch den Glanz der Weber. Die Kehrseite ist es, und auch das verdient festgehalten zu werden, das manche der Gewebe von wahrhaft phantastischer Vielfalt und einer mit Worten kaum zu beschreibenden Schönheit sind, ganz als seien sie hervorgebracht von der Natur selber. – Welcher Leser der Ringe des Saturn und der anderen Bücher wollte das bestreiten.

Durch fünftausend Jahre Menschengeschichte hat Selysses den feinen Faden und das prekäre Leben der Seidenraupe gesponnen, aber die beinahe nur aus Kalamitäten bestehende Geschichte taugt nicht für ein sinnvolles Gewebe. Am letzten Tag der Wanderschaft und des Buches bricht die Kakophonie aus, die offenen Fäden zeigen wirr in alle Richtung. Es ist Gründonnerstag, Namensfest der Heiligen Agathon, Carpus, Papylus und Hermengild, vor genau dreihundert Jahren wurde das Edikt von Nantes erlassen, vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren Warren Hastings zum Gouverneur von Bengalen ernannt, vor einhundertdreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet &c &c. Allein der Tod verhilft dann doch zu einem ordentlich Schlußakkord in Gestalt eines fein gewebten Seidentuchs: Zu Brownes Zeit ist es in Holland Sitte gewesen, im Hause eines Verstorbenen alle Spiegel und alle Bilder, auf denen Landschaften, Menschen oder die Früchte der Felder zu sehen waren, mit seidenem Trauerflor zu verhängen, damit nicht die den Körper verlassende Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren eigenen Anblick, sei es durch den ihrer bald für immer verlorenen Heimat.

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