An der Grenze
ed ero partito per Vienna
Der Grund für die erste Reise wird erläutert. Eine Ortsveränderung soll über eine besonders ungute Zeit hinweghelfen. Warum die Wahl dabei auf Wien fällt, wird allerdings nicht offenbart und der gewünschte Heileffekt stellt sich nicht ein. Wien ist leer, menschenleer, Selysses kommt mit niemandem ins Gespräch so wie er später mit Malachio in Venedig ins Gespräch kommt, kein Bekannter wie Salvatore in Verona stellt sich ein. Obwohl Selysses in einem Hotel wohnt und Kaffeehäuser und Gastwirtschaften aufsucht, gewinnt niemand aus dem großen Reich des Hotelpersonals, der Empfangsdamen, der Mitreisenden und Lesegefährten Kontur. Er hat es nur mit Schemen zu tun, Menschen, die mit Sicherheit nicht mehr am Leben sind, wie die Mathild Seelos, der einarmige Dorfschreiber Fürgut oder, in der Gonzagagasse der aus seiner Heimatstadt verbannte Dichter Dante. Auch die Versuche telephonischer Kontaktaufnahme, ohnehin sehr untypisch für unseren Reisenden, scheitern. Bloß mit den Dohlen redet er einiges und mit einer weißköpfigen Amsel. Auch findet Selysses, anders als in Padua, Verona oder auch in London, keinen Halt bei der Betrachtung alter Meister.
Die einzige Beschäftigung in Wien besteht für Selysses aus ebenso endlosen wie leeren Gängen, die aber über ein eher enges Areal nicht hinausführen, einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich, dessen Rand zugleich die Grenze seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft ist. Jahre später wird er in der Heide von Dunwich ein ähnliches Erlebnis von Carte intérieure et territoire extérieur haben: Im Traum sah ich das Labyrinth, den hellen Sandboden, die scharf abgezirkelten Linien der mehr als mannshohen, fast schon nachtschwarzen Hecken, ein einfaches Muster, von dem ich mit absoluter Sicherheit wußte, daß es einen Querschnitt darstellte durch mein Gehirn. Selysses überschreitet die Grenze, die offenbar die zum Wahnsinn ist, nicht, nähert sich ihr aber gefährlich an. Er wird zum Billigesser mit der zunehmenden Neigung, Gaststätten zu vermeiden, und hält seine Mahlzeit, wie es sich ergibt, an einem Stehimbiß oder verzehrt einfach etwas aus dem Papier. Er führt in einer Plastiktasche allerlei unnütze Dinge mit sich herum und entsetzt sich schließlich angesichts des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks selbst über die immer deutlicher werdenden Zeichen der Verwahrlosung. Nachdem er den Entschluß zur Abreise gefaßt hat, überschreitet er die Grenze und besucht den Dichter Ernst Herbeck, der auf der anderen Seite wohnt. Das scharfe Denken seines Vaters habe ihm, so Herbeck selbst, die Nerven zersetzt.
Herbeck ist nicht der einzige auf der anderen Seite. Ein Hund wirft sich an ein grüngestrichenes eisernes Gartentor, völlig außer sich, als sei er um den Verstand gekommen. Es war ein großer schwarzer Neufundländer, dessen angeborene Sanftmut durch Mißhandlungen, lange Einsamkeit oder das glasklare Wetter zerstört worden war; - auch ein Hoch, eine klare Wetterlage kann, ähnlich wie ein allzu scharfes Denken des Vaters, schon hinreichen für den Grenzübertritt. Naturgemäß ist zu hoffen, daß dem Tier außer Sonnenschein nichts Schlimmes widerfahren ist, und vielleicht wäre es bei geöffneter Tür für eine Weile freundlich mitgegangen. Anna Goldsteiner, eine andere Bewohnerin der anderen Seite, leidet an einer extremen Vergeßlichkeit, die ihr auch die einfachsten täglichen Arbeiten unmöglich macht. Zuletzt bringt sie zu ihrer eigenen Verwunderung nicht einmal die Namen der drei Ehemänner zusammen, die sie überlebt hat.
Sebalds Prosa hat eine solide realistische Außenhaut, eine erste Lektüre von All’estero hinterläßt den Eindruck, hier werde eine recht chaotisch verlaufende Reise mehr oder weniger so geschildert, wie sie tatsächlich stattgefunden hat. Warum wird das überhaupt erzählt und warum sollen wir es lesen, mag man fragen und spürt, soeben sich noch auf dem ein wenig faden aber festen Boden der Realität wähnend, wie der Grund unter den Füßen schwankt und das Wasser bis zum Hals steht, wie sich untergründige Sinnmengen immer neu ordnen. Das Wasserelement ist in dem Wienkapitel überraschend stark ausgeprägt und nicht allein der schönen blauen Donau geschuldet. Als ich die Augen aufmachte, sah ich mich die Gangway eines großen Fährschiffes herunterkommen. Draußen im Inundationsgebiet Weiden, Pappeln, Erlen und Eschen. Es war als blicke man auf ein wogendes Meer. Das Festland war bereits hinter dem Horizont versunken. Ein Nebelhorn dröhnte. Weiter und weiter zog das Schiff auf das Wasser hinaus. Ja, wenn einer gelehnt steht an den Strom der Zeit. Das Nebelhorn ertönte wieder. Andererseits möchte man entfliegen hoch in die Luft. Luftwellen durchliefen die Bäume, und einzelne losgelöste Blätter fanden den Aufwind und stiegen so hoch, daß sie allmählich den Augen entschwanden. Viel hätte nicht gefehlt an diesem Vormittag und wir hätten das Fliegen gelernt oder zumindest, was man braucht für einen anständigen Absturz. Auch das vierte der althergebrachten Elemente fehlt nicht, der Dichter steuert es bei von jenseits der Grenze: Die Zigarette ist ein Monopol und muß geraucht werden. Auf Dassie in Flammen aufgeht. Der Dichter diesseits der Grenze ist, wie oft bezeugt, der gleichen Ansicht und sieht die Welt dem Feuertod entgegengehen.
In Sebalds Werk treten kaum Kinder auf, im Wienkapitel aber gleich zweimal. Wir bekommen sie aber nicht zu sehen und hören sie lediglich singen, in beiden Fällen in gewisser Weise fehlerhaft. Die unsichtbaren Kinder im jüdischen Gemeindezentrum sangen in englischer Sprache seltsamerweise Jingle Bells und Silent Night. Ein paar Häuser weiter sangen die Kinder in der Volksschule, am schönsten die, denen es nicht recht gelang, den Bogen der Melodie einzuhalten. Olga gab der Versuchung nach, in die Schule, die sie als Kind besucht hatte, hineinzugehen. Allein in dem großen Vorraum, umgeben von den geschlossenen Türen, die ihr seinerzeit wie hohe Pforten erschienen waren, wurde sie von einem Weinkrampf ergriffen.
Die Begegnung mit der eigenen Kindheit führt bei Olga zu einem Gemütszustand, der den titelgebenden Schwindelgefühlen subsumiert werden kann. Im den Schwindel.Gefühlen nachfolgenden Prosawerk Die Ausgewanderten führt der Rückblick auf das eigene Leben in vier Fällen zur alternativen Form des Grenzübertritts, zum Selbstmord. Selysses wird während der gesamten ersten Reise in Grenznähe bleiben, der Entschluß, die Wasserstadt Venedig aufzusuchen, ist ohnehin eine Fehlentscheidung, wie soll er dort festen Boden gewinnen unter den Füßen. Der zweiten, alles in allem erfolgreicheren Reise dienen Wien und Venedig nur für einen kurzen Zwischenaufenthalt, das Bahnhofsgelände wird nicht verlassen.
Entscheidend für das bessere Gelingen der zweiten Reise ist aber weniger die Vermeidung feuchten Untergrunds als der Umstand, daß Selysses in jedem freien Augenblick über seinen Papieren liest und schreibt. Er schreibt über die vergangene erste Reise und auch über die noch stattfindende zweite, und was wir lesen, die Schwindel.Gefühle, sind das Ergebnis dieses Schreibens. Bei seinen Aufzeichnungen hat Selysses möglicherweise noch den gerade in seiner Unvollkommenheit schönen Kindergesang im Ohr. Zwar sind die Melodiebögen der einzelne Sätze immer tonsicher und rein, die größeren Textabschnitte aber scheinen sich der Willkür und den Zufällen des Reisens auszuliefern, und die vielfältigen und rastlosen semantischen Bewegungen unter der Oberfläche heben das nicht auf, sondern scheinen es im Gegenteil noch zu steigern.
Die Schwindel.Gefühle sind das erste Prosabuch des Dichters, das Schreiben hilft ihm jetzt und auch in der Zukunft, diesseits der Grenze zu bleiben. In Ritorno in patria kehrt Selysses wie Olga zurück in die eigene Kindheit und weit entfernt von einem Weinkrampf lächelt er beim erinnernden Betreten der Schule im Gedanken an das Fräulein Rauch, mit dem vor den Traualtar zu treten seine feste Absicht war. Das Schreiben ist aber keineswegs die Heilung vom Leben, sondern allenfalls ein Palliativ mit allerlei gefährlichen Nebenwirkungen. Die Grenze muß so oder so überschritten werden. Als Paul Bereyter sich nahe der Grenze zum Erblinden sieht, schreckt ihn die Idee eines Lebens im mausgrauen Prospekt nicht. Er entscheidet sich dann aber doch für die andere Form des Grenzübertritts.
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