Jakob Philipp Fallmerayer
Ci vediamo a Gerusalemme
Wer die Flügel des Altars der Pfarrkirche Lindenhardt zumacht und die geschnitzten Figuren in ihren Gehäuse verschließt, so daß ihm auf dem ins Licht gerückten Tafelbild die vierzehn Nothelfer entgegentreten, wähnt sich auf dem vertrauten Boden des christlichen Abendlands, der Dichter aber verliert die Realität nicht aus den Augen: Die drei Nothelferinnen stecken am linken Rand der Tafel ihre gleichförmigen orientalischen Köpfe zusammen. San Giorgio, der Grünewalds Bild verläßt, um in den Bildern Pisanellos wieder aufzutauchen, wird man angesichts seines rotgoldenen Haars nicht als Orientalen einordnen, aber es ist schließlich die Prinzessin von Trapezunt, der er gegen den Drachen hilft. Allerdings gelingt es ihm nicht, den Schwindel.Gefühlen, in denen er zu einem der Protagonisten aufsteigt, eine für alle sichtbare morgenländische Einfärbung zu verleihen.
In den Ringen des Saturn treffen wir auf Edward Fitzgerald, der die Rubai des persischen Dichters Omar Khayyám übersetzt hat, und auf Swinburne, der sich für Kublai Chan begeistert, der Faden des Seidenvogels führt uns bis nach China an den kaiserlichen Hof. Wir wollen uns aber nicht in diesem weiten Begriff des Orients bewegen und lassen den Faden fallen.
Im üblichen Sprachgebrauch ist der Orient eine Gegend mit ausgedehnten Wüstengebieten, als solcher kann er aber auch im Abendland überall auftreten, in Bala, Wales, etwa, das ganz der Wüste Sinai mit ihren kahlen, ineinander verschobenen Bergrücken gleicht, eine furchtbare Einöde, viele Tagseisen lang und breit, die die Kinder Israels durchqueren; in Manchester, wo eine Karawane aus der fernsten Tiefe heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegt; in Amerika, wo eine Karawane aus einem Palmenhain hervor auf die Bühne zieht und von dort in den Saal herunter, um mitten durch die voller Erstaunen ihre Köpfe wendenden Zuschauer hindurchzuziehen und so spukhaft, wie sie erschienen war, wieder zu verschwinden; in Den Haag, wo über einem Teppichladen eine durch die Wüste ziehende Karawane beobachtet werden kann, und in Scheveningen, wo ein Volk Rast auf dem Weg durch die Wüste hält; in Venedig, wo ein wahres Heer auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, dicht nebeneinander hingestreckt liegt wie sonst ein fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste; in London, wo die Bewohner nachts in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste; und in Paris schließlich, wo kleine Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai. Es scheint, als lägen Okzident und Orient geographisch nicht nebeneinander, als habe sich der Orient vielmehr unter den Okzident geschoben und scheine durch.
In Verona gibt Selysses sich als Jakob Philipp Fallmerayer aus, Autor der Geschichte des vom Drachen befreiten Kaisertums von Trapezunt und der Fragmente aus dem Orient. Tatsächlich ist es schon bald, als tue sich im soliden oberitalienischen Boden die eine oder andere Öffnung auf für den selbstberufenen Orientalisten, und der Wanderer berühre die verborgene morgenländische Schicht. Er sieht nicht einsame Wüstenwanderer, sondern Bilder fragwürdiger Begegnungen zwischen Ost und West, so als habe er den einen Fuß auf der oberen und den anderen auf der unteren Ebene. In Omdurman gilt der Tiroler Missionar Giuseppe Ohrwalder seit mehreren Wochen als verschollen. In der Arena von Verona wird die einen altägyptischen Stoffe behandelnde Oper Aida gegeben als exakte Nachschöpfung der Eröffnungsaufführung von 1913, dem Jahr als die Zeit sich wendete und, wie eine Natter durchs Gras, der Funken die Zündschnur entlanglief. La spettacolosa Aida, eine phantastische Nacht auf dem Nil, am Weihnachtsabend 1871 zur Feier des unaufhaltsamen Fortschritts im Opernhaus von Kairo uraufgeführt. Zum erstenmal erklingt die Ouvertüre, durch den Suezkanal gleitet das erste Schiff, Okzident und Orient vereint durch Kunst und Technik, aber jetzt bricht ein Brand aus im Opernhaus, ein prasselndes Feuer, krachend verschwindet die Bestuhlung des Parketts mit der gesamten Zuhörerschaft im Orchestergraben.
Bislang haben wir es mit Bildern des Morgenlands zu tun, mit offenen und verdeckten, mit Träumen und Halluzinationen, da ist es eine Art Erlösung, wenn Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth den Entschluß fassen, den Orient leibhaftig zu bereisen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die als Tagebuchaufzeichnung fingierte Orientreise der beiden ist innerhalb der langen Erzählung Ambros Adelwarth eine weitgehend selbständige kurze Erzählung von besonderer Dichte und Schönheit. Die Reise findet statt im Schicksalsjahr 1913, als die Zeit sich wendete und wie eine Natter durchs Gras der Funken die Zündschnur entlanglief. Die Reise beginnt in Venedig, führt von da nach Griechenland und im Mittelpunkt stehen zwei Städte des verblühenden osmanischen Reiches, Istanbul und Jerusalem.
Istanbul ist ein Baumparadies, Pinienkronen hoch in der Luft, Akazien, Korkeichen, Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. In dem dichten Gezweig nisten die türkischen Tauben. Ungezählte Störche verwandeln auf ihren Zug nach Norden den Himmel in einen schwarzweiß gemusterten bewegten Baldachin. Große Segler fahren vorbei in geringster Entfernung, umschwärmt von Hunderten wenn nicht Tausenden Delphinen. Minarette scheinen leicht zu schwanken wie die Masten der Schiffe. Architektonische Glanzstücke wie die Hagia Sophia und die osmanischen Großmoscheen geraten nicht in den Blick. Große Teile der Stadt sind ganz aus Holz, Häuser aus braun und grau verwitterten Balken und Brettern, mit flachen Giebeldächern und vorstehenden Altanen. Die Stadt ist auf eine rätselhafte Wiese verwinkelt und verschachtelt, du biegst ein in eine dustere, immer enger werdende Gasse, glaubst dich bereits gefangen, machst einen letzten Verzweiflungsschritt und überblickst unvermittelt von einer Art Kanzel das ausgedehnteste Panorama. Auf dem Platz neben einer alten Dorfmoschee macht viel Volk aus dem Hinterland auf dem Weg in die Stadt Station. Sie haben keinerlei Wagen oder sonstige Gefährte, so als sei das Rad noch nicht erfunden. Die eigentlichen Bewohner der Stadt sieht man nur sehr vereinzelt. Zwei Würfelspieler hocken am Kai, ansonsten keine Menschenseele. In der kleinen Moschee, im Dämmer einer Nische sitzt ein junger Mann und studiert den Koran. Auf der Galerie eines Minaretts erscheint ein zwergenhafter Muezzin. Als die beiden Reisenden die sandweiße Helligkeit des Hafenplatzes überqueren, wie Wüstenwanderer mit der Hand die geblendeten Augen beschattend, weist ihnen eine graue Taube den Weg in eine Gasse ein, in der sie auf einen zwölfjährigen Derwisch treffen. Als sie Tage später zurückkehren, treffen sie ihn am nämlichen Platz. - Kein Verkehrslärm, Pflanzen und Tiere, Menschen in geringen Mengen und angenehm verteilt, eine Stadt ganz nach dem Herzen des Dichters, von der er da liest im Tagebuch des Ambros Adelwarth.
Jerusalem ist eine ganz und gar andere Stadt. Schon die Anreise führt durch kein Baumparadies, über weite Strecken kein Baum, kein Strauch, kaum ein armseliges Büschelchen Kraut. Die neueren Bauten in der Stadt sind von unbeschreiblicher Häßlichkeit, in den Straßen liegen große Mengen Unrat, on marche sur des merdes. Die dereinstigen Teiche von Siloam sind nur mehr faule Tümpel und Senkgruben. Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.
Terre maudite und neun Zehntel des Glanzes der Welt: Im Traum gewinnt Jericho einen ähnlichen Doppelcharakter. Als er-Riha ist es ein von Staub umwehtes dreckiges Dorf, als Jericho eine Oase von so seltener Schönheit wie sonst nur der paradiesische Obstwald von Damaskus, mit allem sind die Menschen hier versorgt. Vom realen Ain Jidy am Toten Meer hatte man sich, anders als von Jerusalem, nichts Gutes erwartet. Kein Vogel, so hatte man gehört, könne über den See hinfliegen, ohne zu ersticken, und in mondhellen Nächten komme ein absinthfarbener Grabesschimmer aus seiner Tiefe heraus. Nichts von dem aber wird als bestätigt gefunden. Der See hat einen wunderbar durchsichtigen Wasserspiegel und murmelnd bricht sich die Brandung am Ufer. Im Ufergebüsch steigen Schnepfen herum, und der Gesang des braunblau gefiederten, rotschnabligen Vogels Bülbül ertönt.
Jeder Leser wird Sebald als einen Dichter Europas wahrnehmen, hier finden die Reisen und Wanderungen des Selysses statt, hier sind die Helden seiner Lebensgeschichtenerzählungen geboren und hier sterben die meisten von ihnen. Die immer wieder hörbaren leisen Orientanklänge wird er vielleicht ein wenig ratlos vernehmen und würde sie vielleicht verscheuchen, wäre nicht das Orienttagebuch des Ambros Adelwarth in seiner überwältigenden Dichte, Schönheit und Rätselhaftigkeit. Ein Dichter Europas muß nicht unbedingt ein sogenannter begeisterter Europäer sein. Rom, das die Niederlegung des Lebens nicht nur in Jerusalem planmäßig betrieben hat, steht für Europa, für das es in der Tat für Jahrtausende auf die eine oder andere mehr oder weniger fragwürdige Art gestanden ist, bevor Brüssel ihm den Rang abgenommen hat.
Die Orientreise findet statt in dem Jahr, als die Zeit sich wendete, in dieser Weltgegend aber scheint sie in den ewigen Stillstand eingetreten. Die heutige Riesenstadt am Bosporus wird uns in Sebalds Werk nicht vorgeführt und auch nicht das zwischen Juden und Palästinensern umstrittene Stadtgebiet Jerusalems. Was immer Malachio gemeint haben mag, als er Selysses zu Abschied zuruft: Ci vediamo a Gerusalemme, eine Verabredung zu einem zweiten Treffe, diesmal in Israel, ist es sicher nicht. Jerusalem ist eine ferne Idee in den Köpfen, die sich festmacht vor allem in der Erinnerung an dem Tempel. Alec Garrad arbeitet seit seiner Jugend schon an einem Modell des Tempels. Obwohl er mehrere Stunden täglich an dem Modell arbeitet, sind auch in Jahresabständen kaum Fortschritte bemerkbar. Selysses ist sich mit ihm einig darin, daß sein Tempeldienst in seiner Bedeutung weit hinausgeht über die der Dekrete des neuen Roms, etwa der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftpolitik, ist das Modell doch geeignet, eine ferne Idee vom verlorenen Jerusalem wachzuhalten in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner, von denen, nicht zuletzt, Sebalds Bücher handeln. Frohmann wiederum, eine Traumgestalt, hält ein aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe bereits fertiggestelltes Modell des Tempels auf dem Schoß und erläutert, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Aurach beugte sich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht; ein Kunstwerk der Erinnerung an das verlorene Jerusalem. Der Anspruch, das neue Jerusalem zu sein, hatte Manchesters, der Stadt, in der Aurach wohnt, nicht lange aufrecht erhalten können, Jerusalem ist keine Angelegenheit, keine Verheißung Europas und der Neuzeit.
Ci vediamo a Gerusalemme
In den Ringen des Saturn treffen wir auf Edward Fitzgerald, der die Rubai des persischen Dichters Omar Khayyám übersetzt hat, und auf Swinburne, der sich für Kublai Chan begeistert, der Faden des Seidenvogels führt uns bis nach China an den kaiserlichen Hof. Wir wollen uns aber nicht in diesem weiten Begriff des Orients bewegen und lassen den Faden fallen.
Im üblichen Sprachgebrauch ist der Orient eine Gegend mit ausgedehnten Wüstengebieten, als solcher kann er aber auch im Abendland überall auftreten, in Bala, Wales, etwa, das ganz der Wüste Sinai mit ihren kahlen, ineinander verschobenen Bergrücken gleicht, eine furchtbare Einöde, viele Tagseisen lang und breit, die die Kinder Israels durchqueren; in Manchester, wo eine Karawane aus der fernsten Tiefe heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegt; in Amerika, wo eine Karawane aus einem Palmenhain hervor auf die Bühne zieht und von dort in den Saal herunter, um mitten durch die voller Erstaunen ihre Köpfe wendenden Zuschauer hindurchzuziehen und so spukhaft, wie sie erschienen war, wieder zu verschwinden; in Den Haag, wo über einem Teppichladen eine durch die Wüste ziehende Karawane beobachtet werden kann, und in Scheveningen, wo ein Volk Rast auf dem Weg durch die Wüste hält; in Venedig, wo ein wahres Heer auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, dicht nebeneinander hingestreckt liegt wie sonst ein fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste; in London, wo die Bewohner nachts in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste; und in Paris schließlich, wo kleine Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai. Es scheint, als lägen Okzident und Orient geographisch nicht nebeneinander, als habe sich der Orient vielmehr unter den Okzident geschoben und scheine durch.
In Verona gibt Selysses sich als Jakob Philipp Fallmerayer aus, Autor der Geschichte des vom Drachen befreiten Kaisertums von Trapezunt und der Fragmente aus dem Orient. Tatsächlich ist es schon bald, als tue sich im soliden oberitalienischen Boden die eine oder andere Öffnung auf für den selbstberufenen Orientalisten, und der Wanderer berühre die verborgene morgenländische Schicht. Er sieht nicht einsame Wüstenwanderer, sondern Bilder fragwürdiger Begegnungen zwischen Ost und West, so als habe er den einen Fuß auf der oberen und den anderen auf der unteren Ebene. In Omdurman gilt der Tiroler Missionar Giuseppe Ohrwalder seit mehreren Wochen als verschollen. In der Arena von Verona wird die einen altägyptischen Stoffe behandelnde Oper Aida gegeben als exakte Nachschöpfung der Eröffnungsaufführung von 1913, dem Jahr als die Zeit sich wendete und, wie eine Natter durchs Gras, der Funken die Zündschnur entlanglief. La spettacolosa Aida, eine phantastische Nacht auf dem Nil, am Weihnachtsabend 1871 zur Feier des unaufhaltsamen Fortschritts im Opernhaus von Kairo uraufgeführt. Zum erstenmal erklingt die Ouvertüre, durch den Suezkanal gleitet das erste Schiff, Okzident und Orient vereint durch Kunst und Technik, aber jetzt bricht ein Brand aus im Opernhaus, ein prasselndes Feuer, krachend verschwindet die Bestuhlung des Parketts mit der gesamten Zuhörerschaft im Orchestergraben.
Bislang haben wir es mit Bildern des Morgenlands zu tun, mit offenen und verdeckten, mit Träumen und Halluzinationen, da ist es eine Art Erlösung, wenn Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth den Entschluß fassen, den Orient leibhaftig zu bereisen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die als Tagebuchaufzeichnung fingierte Orientreise der beiden ist innerhalb der langen Erzählung Ambros Adelwarth eine weitgehend selbständige kurze Erzählung von besonderer Dichte und Schönheit. Die Reise findet statt im Schicksalsjahr 1913, als die Zeit sich wendete und wie eine Natter durchs Gras der Funken die Zündschnur entlanglief. Die Reise beginnt in Venedig, führt von da nach Griechenland und im Mittelpunkt stehen zwei Städte des verblühenden osmanischen Reiches, Istanbul und Jerusalem.
Istanbul ist ein Baumparadies, Pinienkronen hoch in der Luft, Akazien, Korkeichen, Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. In dem dichten Gezweig nisten die türkischen Tauben. Ungezählte Störche verwandeln auf ihren Zug nach Norden den Himmel in einen schwarzweiß gemusterten bewegten Baldachin. Große Segler fahren vorbei in geringster Entfernung, umschwärmt von Hunderten wenn nicht Tausenden Delphinen. Minarette scheinen leicht zu schwanken wie die Masten der Schiffe. Architektonische Glanzstücke wie die Hagia Sophia und die osmanischen Großmoscheen geraten nicht in den Blick. Große Teile der Stadt sind ganz aus Holz, Häuser aus braun und grau verwitterten Balken und Brettern, mit flachen Giebeldächern und vorstehenden Altanen. Die Stadt ist auf eine rätselhafte Wiese verwinkelt und verschachtelt, du biegst ein in eine dustere, immer enger werdende Gasse, glaubst dich bereits gefangen, machst einen letzten Verzweiflungsschritt und überblickst unvermittelt von einer Art Kanzel das ausgedehnteste Panorama. Auf dem Platz neben einer alten Dorfmoschee macht viel Volk aus dem Hinterland auf dem Weg in die Stadt Station. Sie haben keinerlei Wagen oder sonstige Gefährte, so als sei das Rad noch nicht erfunden. Die eigentlichen Bewohner der Stadt sieht man nur sehr vereinzelt. Zwei Würfelspieler hocken am Kai, ansonsten keine Menschenseele. In der kleinen Moschee, im Dämmer einer Nische sitzt ein junger Mann und studiert den Koran. Auf der Galerie eines Minaretts erscheint ein zwergenhafter Muezzin. Als die beiden Reisenden die sandweiße Helligkeit des Hafenplatzes überqueren, wie Wüstenwanderer mit der Hand die geblendeten Augen beschattend, weist ihnen eine graue Taube den Weg in eine Gasse ein, in der sie auf einen zwölfjährigen Derwisch treffen. Als sie Tage später zurückkehren, treffen sie ihn am nämlichen Platz. - Kein Verkehrslärm, Pflanzen und Tiere, Menschen in geringen Mengen und angenehm verteilt, eine Stadt ganz nach dem Herzen des Dichters, von der er da liest im Tagebuch des Ambros Adelwarth.
Jerusalem ist eine ganz und gar andere Stadt. Schon die Anreise führt durch kein Baumparadies, über weite Strecken kein Baum, kein Strauch, kaum ein armseliges Büschelchen Kraut. Die neueren Bauten in der Stadt sind von unbeschreiblicher Häßlichkeit, in den Straßen liegen große Mengen Unrat, on marche sur des merdes. Die dereinstigen Teiche von Siloam sind nur mehr faule Tümpel und Senkgruben. Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.
Terre maudite und neun Zehntel des Glanzes der Welt: Im Traum gewinnt Jericho einen ähnlichen Doppelcharakter. Als er-Riha ist es ein von Staub umwehtes dreckiges Dorf, als Jericho eine Oase von so seltener Schönheit wie sonst nur der paradiesische Obstwald von Damaskus, mit allem sind die Menschen hier versorgt. Vom realen Ain Jidy am Toten Meer hatte man sich, anders als von Jerusalem, nichts Gutes erwartet. Kein Vogel, so hatte man gehört, könne über den See hinfliegen, ohne zu ersticken, und in mondhellen Nächten komme ein absinthfarbener Grabesschimmer aus seiner Tiefe heraus. Nichts von dem aber wird als bestätigt gefunden. Der See hat einen wunderbar durchsichtigen Wasserspiegel und murmelnd bricht sich die Brandung am Ufer. Im Ufergebüsch steigen Schnepfen herum, und der Gesang des braunblau gefiederten, rotschnabligen Vogels Bülbül ertönt.
Jeder Leser wird Sebald als einen Dichter Europas wahrnehmen, hier finden die Reisen und Wanderungen des Selysses statt, hier sind die Helden seiner Lebensgeschichtenerzählungen geboren und hier sterben die meisten von ihnen. Die immer wieder hörbaren leisen Orientanklänge wird er vielleicht ein wenig ratlos vernehmen und würde sie vielleicht verscheuchen, wäre nicht das Orienttagebuch des Ambros Adelwarth in seiner überwältigenden Dichte, Schönheit und Rätselhaftigkeit. Ein Dichter Europas muß nicht unbedingt ein sogenannter begeisterter Europäer sein. Rom, das die Niederlegung des Lebens nicht nur in Jerusalem planmäßig betrieben hat, steht für Europa, für das es in der Tat für Jahrtausende auf die eine oder andere mehr oder weniger fragwürdige Art gestanden ist, bevor Brüssel ihm den Rang abgenommen hat.
Die Orientreise findet statt in dem Jahr, als die Zeit sich wendete, in dieser Weltgegend aber scheint sie in den ewigen Stillstand eingetreten. Die heutige Riesenstadt am Bosporus wird uns in Sebalds Werk nicht vorgeführt und auch nicht das zwischen Juden und Palästinensern umstrittene Stadtgebiet Jerusalems. Was immer Malachio gemeint haben mag, als er Selysses zu Abschied zuruft: Ci vediamo a Gerusalemme, eine Verabredung zu einem zweiten Treffe, diesmal in Israel, ist es sicher nicht. Jerusalem ist eine ferne Idee in den Köpfen, die sich festmacht vor allem in der Erinnerung an dem Tempel. Alec Garrad arbeitet seit seiner Jugend schon an einem Modell des Tempels. Obwohl er mehrere Stunden täglich an dem Modell arbeitet, sind auch in Jahresabständen kaum Fortschritte bemerkbar. Selysses ist sich mit ihm einig darin, daß sein Tempeldienst in seiner Bedeutung weit hinausgeht über die der Dekrete des neuen Roms, etwa der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftpolitik, ist das Modell doch geeignet, eine ferne Idee vom verlorenen Jerusalem wachzuhalten in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner, von denen, nicht zuletzt, Sebalds Bücher handeln. Frohmann wiederum, eine Traumgestalt, hält ein aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe bereits fertiggestelltes Modell des Tempels auf dem Schoß und erläutert, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Aurach beugte sich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht; ein Kunstwerk der Erinnerung an das verlorene Jerusalem. Der Anspruch, das neue Jerusalem zu sein, hatte Manchesters, der Stadt, in der Aurach wohnt, nicht lange aufrecht erhalten können, Jerusalem ist keine Angelegenheit, keine Verheißung Europas und der Neuzeit.