Freitag, 28. September 2012

Morgenland

Jakob Philipp Fallmerayer

Ci vediamo a Gerusalemme

Wer die Flügel des Altars der Pfarrkirche Lindenhardt zumacht und die geschnitzten Figuren in ihren Gehäuse verschließt, so daß ihm auf dem ins Licht gerückten Tafelbild die vierzehn Nothelfer entgegentreten, wähnt sich auf dem vertrauten Boden des christlichen Abendlands, der Dichter aber verliert die Realität nicht aus den Augen: Die drei Nothelferinnen stecken am linken Rand der Tafel ihre gleichförmigen orientalischen Köpfe zusammen. San Giorgio, der Grünewalds Bild verläßt, um in den Bildern Pisanellos wieder aufzutauchen, wird man angesichts seines rotgoldenen Haars nicht als Orientalen einordnen, aber es ist schließlich die Prinzessin von Trapezunt, der er gegen den Drachen hilft. Allerdings gelingt es ihm nicht, den Schwindel.Gefühlen, in denen er zu einem der Protagonisten aufsteigt, eine für alle sichtbare morgenländische Einfärbung zu verleihen.

In den Ringen des Saturn treffen wir auf Edward Fitzgerald, der die Rubai des persischen Dichters Omar Khayyám übersetzt hat, und auf Swinburne, der sich für Kublai Chan begeistert, der Faden des Seidenvogels führt uns bis nach China an den kaiserlichen Hof. Wir wollen uns aber nicht in diesem weiten Begriff des Orients bewegen und lassen den Faden fallen.

Im üblichen Sprachgebrauch ist der Orient eine Gegend mit ausgedehnten Wüstengebieten, als solcher kann er aber auch im Abendland überall auftreten, in Bala, Wales, etwa, das ganz der Wüste Sinai mit ihren kahlen, ineinander verschobenen Bergrücken gleicht, eine furchtbare Einöde, viele Tagseisen lang und breit, die die Kinder Israels durchqueren; in Manchester, wo eine Karawane aus der fernsten Tiefe heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegt; in Amerika, wo eine Karawane aus einem Palmenhain hervor auf die Bühne zieht und von dort in den Saal herunter, um mitten durch die voller Erstaunen ihre Köpfe wendenden Zuschauer hindurchzuziehen und so spukhaft, wie sie erschienen war, wieder zu verschwinden; in Den Haag, wo über einem Teppichladen eine durch die Wüste ziehende Karawane beobachtet werden kann, und in Scheveningen, wo ein Volk Rast auf dem Weg durch die Wüste hält; in Venedig, wo ein wahres Heer auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, dicht nebeneinander hingestreckt liegt wie sonst ein fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste; in London, wo die Bewohner nachts in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste; und in Paris schließlich, wo kleine Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai. Es scheint, als lägen Okzident und Orient geographisch nicht nebeneinander, als habe sich der Orient vielmehr unter den Okzident geschoben und scheine durch.

In Verona gibt Selysses sich als Jakob Philipp Fallmerayer aus, Autor der Geschichte des vom Drachen befreiten Kaisertums von Trapezunt und der Fragmente aus dem Orient. Tatsächlich ist es schon bald, als tue sich im soliden oberitalienischen Boden die eine oder andere Öffnung auf für den selbstberufenen Orientalisten, und der Wanderer berühre die verborgene morgenländische Schicht. Er sieht nicht einsame Wüstenwanderer, sondern Bilder fragwürdiger Begegnungen zwischen Ost und West, so als habe er den einen Fuß auf der oberen und den anderen auf der unteren Ebene. In Omdurman gilt der Tiroler Missionar Giuseppe Ohrwalder seit mehreren Wochen als verschollen. In der Arena von Verona wird die einen altägyptischen Stoffe behandelnde Oper Aida gegeben als exakte Nachschöpfung der Eröffnungsaufführung von 1913, dem Jahr als die Zeit sich wendete und, wie eine Natter durchs Gras, der Funken die Zündschnur entlanglief. La spettacolosa Aida, eine phantastische Nacht auf dem Nil, am Weihnachtsabend 1871 zur Feier des unaufhaltsamen Fortschritts im Opernhaus von Kairo uraufgeführt. Zum erstenmal erklingt die Ouvertüre, durch den Suezkanal gleitet das erste Schiff, Okzident und Orient vereint durch Kunst und Technik, aber jetzt bricht ein Brand aus im Opernhaus, ein prasselndes Feuer, krachend verschwindet die Bestuhlung des Parketts mit der gesamten Zuhörerschaft im Orchestergraben.

Bislang haben wir es mit Bildern des Morgenlands zu tun, mit offenen und verdeckten, mit Träumen und Halluzinationen, da ist es eine Art Erlösung, wenn Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth den Entschluß fassen, den Orient leibhaftig zu bereisen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die als Tagebuchaufzeichnung fingierte Orientreise der beiden ist innerhalb der langen Erzählung Ambros Adelwarth eine weitgehend selbständige kurze Erzählung von besonderer Dichte und Schönheit. Die Reise findet statt im Schicksalsjahr 1913, als die Zeit sich wendete und wie eine Natter durchs Gras der Funken die Zündschnur entlanglief. Die Reise beginnt in Venedig, führt von da nach Griechenland und im Mittelpunkt stehen zwei Städte des verblühenden osmanischen Reiches, Istanbul und Jerusalem.

Istanbul ist ein Baumparadies, Pinienkronen hoch in der Luft, Akazien, Korkeichen, Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. In dem dichten Gezweig nisten die türkischen Tauben. Ungezählte Störche verwandeln auf ihren Zug nach Norden den Himmel in einen schwarzweiß gemusterten bewegten Baldachin. Große Segler fahren vorbei in geringster Entfernung, umschwärmt von Hunderten wenn nicht Tausenden Delphinen. Minarette scheinen leicht zu schwanken wie die Masten der Schiffe. Architektonische Glanzstücke wie die Hagia Sophia und die osmanischen Großmoscheen geraten nicht in den Blick. Große Teile der Stadt sind ganz aus Holz, Häuser aus braun und grau verwitterten Balken und Brettern, mit flachen Giebeldächern und vorstehenden Altanen. Die Stadt ist auf eine rätselhafte Wiese verwinkelt und verschachtelt, du biegst ein in eine dustere, immer enger werdende Gasse, glaubst dich bereits gefangen, machst einen letzten Verzweiflungsschritt und überblickst unvermittelt von einer Art Kanzel das ausgedehnteste Panorama. Auf dem Platz neben einer alten Dorfmoschee macht viel Volk aus dem Hinterland auf dem Weg in die Stadt Station. Sie haben keinerlei Wagen oder sonstige Gefährte, so als sei das Rad noch nicht erfunden. Die eigentlichen Bewohner der Stadt sieht man nur sehr vereinzelt. Zwei Würfelspieler hocken am Kai, ansonsten keine Menschenseele. In der kleinen Moschee, im Dämmer einer Nische sitzt ein junger Mann und studiert den Koran. Auf der Galerie eines Minaretts erscheint ein zwergenhafter Muezzin. Als die beiden Reisenden die sandweiße Helligkeit des Hafenplatzes überqueren, wie Wüstenwanderer mit der Hand die geblendeten Augen beschattend, weist ihnen eine graue Taube den Weg in eine Gasse ein, in der sie auf einen zwölfjährigen Derwisch treffen. Als sie Tage später zurückkehren, treffen sie ihn am nämlichen Platz. - Kein Verkehrslärm, Pflanzen und Tiere, Menschen in geringen Mengen und angenehm verteilt, eine Stadt ganz nach dem Herzen des Dichters, von der er da liest im Tagebuch des Ambros Adelwarth.

Jerusalem ist eine ganz und gar andere Stadt. Schon die Anreise führt durch kein Baumparadies, über weite Strecken kein Baum, kein Strauch, kaum ein armseliges Büschelchen Kraut. Die neueren Bauten in der Stadt sind von unbeschreiblicher Häßlichkeit, in den Straßen liegen große Mengen Unrat, on marche sur des merdes. Die dereinstigen Teiche von Siloam sind nur mehr faule Tümpel und Senkgruben. Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.
Terre maudite und neun Zehntel des Glanzes der Welt: Im Traum gewinnt Jericho einen ähnlichen Doppelcharakter. Als er-Riha ist es ein von Staub umwehtes dreckiges Dorf, als Jericho eine Oase von so seltener Schönheit wie sonst nur der paradiesische Obstwald von Damaskus, mit allem sind die Menschen hier versorgt. Vom realen Ain Jidy am Toten Meer hatte man sich, anders als von Jerusalem, nichts Gutes erwartet. Kein Vogel, so hatte man gehört, könne über den See hinfliegen, ohne zu ersticken, und in mondhellen Nächten komme ein absinthfarbener Grabesschimmer aus seiner Tiefe heraus. Nichts von dem aber wird als bestätigt gefunden. Der See hat einen wunderbar durchsichtigen Wasserspiegel und murmelnd bricht sich die Brandung am Ufer. Im Ufergebüsch steigen Schnepfen herum, und der Gesang des braunblau gefiederten, rotschnabligen Vogels Bülbül ertönt.

Jeder Leser wird Sebald als einen Dichter Europas wahrnehmen, hier finden die Reisen und Wanderungen des Selysses statt, hier sind die Helden seiner Lebensgeschichtenerzählungen geboren und hier sterben die meisten von ihnen. Die immer wieder hörbaren leisen Orientanklänge wird er vielleicht ein wenig ratlos vernehmen und würde sie vielleicht verscheuchen, wäre nicht das Orienttagebuch des Ambros Adelwarth in seiner überwältigenden Dichte, Schönheit und Rätselhaftigkeit. Ein Dichter Europas muß nicht unbedingt ein sogenannter begeisterter Europäer sein. Rom, das die Niederlegung des Lebens nicht nur in Jerusalem planmäßig betrieben hat, steht für Europa, für das es in der Tat für Jahrtausende auf die eine oder andere mehr oder weniger fragwürdige Art gestanden ist, bevor Brüssel ihm den Rang abgenommen hat.

Die Orientreise findet statt in dem Jahr, als die Zeit sich wendete, in dieser Weltgegend aber scheint sie in den ewigen Stillstand eingetreten. Die heutige Riesenstadt am Bosporus wird uns in Sebalds Werk nicht vorgeführt und auch nicht das zwischen Juden und Palästinensern umstrittene Stadtgebiet Jerusalems. Was immer Malachio gemeint haben mag, als er Selysses zu Abschied zuruft: Ci vediamo a Gerusalemme, eine Verabredung zu einem zweiten Treffe, diesmal in Israel, ist es sicher nicht. Jerusalem ist eine ferne Idee in den Köpfen, die sich festmacht vor allem in der Erinnerung an dem Tempel. Alec Garrad arbeitet seit seiner Jugend schon an einem Modell des Tempels. Obwohl er mehrere Stunden täglich an dem Modell arbeitet, sind auch in Jahresabständen kaum Fortschritte bemerkbar. Selysses ist sich mit ihm einig darin, daß sein Tempeldienst in seiner Bedeutung weit hinausgeht über die der Dekrete des neuen Roms, etwa der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftpolitik, ist das Modell doch geeignet, eine ferne Idee vom verlorenen Jerusalem wachzuhalten in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner, von denen, nicht zuletzt, Sebalds Bücher handeln. Frohmann wiederum, eine Traumgestalt, hält ein aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe bereits fertiggestelltes Modell des Tempels auf dem Schoß und erläutert, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Aurach beugte sich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht; ein Kunstwerk der Erinnerung an das verlorene Jerusalem. Der Anspruch, das neue Jerusalem zu sein, hatte Manchesters, der Stadt, in der Aurach wohnt, nicht lange aufrecht erhalten können, Jerusalem ist keine Angelegenheit, keine Verheißung Europas und der Neuzeit.

Mittwoch, 19. September 2012

Wüstenmenschen

Trugbilder

Nur vom Dichter bemerkt gehen in unseren Städten  Menschen durch Wüstensand. In Bala, Wales, erfährt Austerlitz, als Dafydd Elias noch, religiöse Erziehung von Seiten seines Ziehvaters, des Predigers, sowie auch vom Schuster Evan, am weitesten auf dem Weg der Theologie aber bringt ihn wohl das Selbststudium der kymrischen Kinderbibel. Besonders hat ihn der Bericht angezogen, wie die Kinder Israels eine furchtbare Einöde durchqueren, viele Tagseisen lang und breit. Er hat versucht, die Wolkensäule sich vorzustellen, die dem wandernden Volk voran des Wegs ging, und er hatte sich in die ganzseitige Illustration vertieft, in der die Wüste Sinai mit ihren kahlen, ineinander verschobenen Bergrücken ganz der heimischen Gegend glich. Unter den winzigen Figuren, die das Lagerbevölkerten, wußte er sich an seinem richtigen Ort. Jeden Quadratzoll des Bildes hat er durchforscht, die abstürzende Bergseite zur Rechten und die Linien darunter, in der er die Geleise einer Bahn zu erkennen glaubte. Am meisten aber gab ihm der umzäunte Platz in der Mitte zu denken und der zeltartige Bau am hinteren Ende, über dem sich eine weiße Rauchwolke erhebt.

Tatsächlich scheint die Illustration dem biblischen Geschehen nicht in der vertrauten Weise Dorés und anderer Buchausstatter angemessen, unkommentiert möchte man eher an ein neuzeitliches Militärcamp denken. Die kindliche Phantasie, die sich auch mit der Möglichkeit einer Eisenbahn im biblischen Land anfreunden konnte, hat daran offenbar keinen Anstoß genommen. Dafydd, der sich, ähnlich dem Waschbären ganz zu Beginn des Buches, in Bala in einer falschen Welt fühlt, sieht sich im in seinen Augen äußerlich ganz ähnlichen biblischen Wüstengelände in eigenartiger und ihm selbst nicht ganz verständlichen Weise wohl verwahrt.

In der Erzählung Max Aurach wird eine weiteres künstlerisch nicht hochstehendes Wüstenbild Gegenstand der Deutung. Unter völliger Mißachtung des grauenhaften Charakters der vom eines Tages aus dem Nomadisieren im Sudan in sein jetziges Gewerbe übergewechselten Kochs bereiteten Speisen nimmt der in Manchester ansässige Maler Aurach seine Mahlzeit allabendlich im Wadi Halfa ein. Ein von unbekannter Hand gemaltes Fresko an der Wand des Lokals zeigte eine Karawane, die aus der fernsten Tiefe des Bildes heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegte. Infolge der Ungeschicklichkeit des Malers und der schwierigen Perspektive wirkten die menschlichen Figuren sowohl als die Lasttiere in ihren Umrissen leicht verzerrt, so daß es, wenn man die Lider halb senkte, tatsächlich war, als erblicke man eine in der Helligkeit und Hitze des Tages zitternde Fata Morgana, und an den Tagen, an denen Aurach mit Kohle gearbeitet und der pudrig feine Staub seine Haut mit einem metallischen Glanz imprägniert hatte, schien es, als sei er soeben aus dem Wüstenbild herausgetreten oder gehöre in es hinein. Das ist nicht die Deutung Aurachs, sondern die seines Begleiters. Die Deutung des Bildes ist aber nur eine Intensivierung des Umstandes, daß Aurach allabendlich die Gesellschaft der Nomaden – neben dem Koch auch dessen zwölf als Kellner im Lokal beschäftigten Söhne - aufsucht, deren Gründe für die Aufgabe des Nomadenlebens im einzelnen nicht bekannt sind. Daß er dort am richtigen Ort sei, würde Aurach, der im Unterschied zu Dafydd Elias die Kindheit längst hinter sich hat, vielleicht nicht behaupten, das Wadi Halfa ist aber neben der Malerwerkstatt, die er in eine Staubwüste verwandelt hat, so gut wie sein einziger Ort.

Mit dem Amerikaner Cosmo Solomon wendet sich das Wüstenthema von der bildenden der darstellenden Kunst zu. Aus dem Bühnenhintergrund tauchte das Trugbild einer Oase auf. Eine Karawane kam aus einem Palmenhain hervor auf die Bühne und von dort in den Saal herunter, um mitten durch die voller Erstaunen ihre Köpfe wendenden Zuschauer hindurchzuziehen und so spukhaft, wie sie erschienen war, wieder zu verschwinden. Er, so Cosmo Solomon, habe mit dieser Karawane den Saal verlassen und könne nun nicht mehr sagen, wo er sich befinde.

Austerlitz, Aurach, Solomon, drei Kinder Israel, die imaginativ von ihrer Wüstenheimat aufgenommen oder aber verschlungen werden. Während Austerlitz in die Bibelillustration gleichsam einsteigt und sich dort am richtigen Ort weiß, sieht Solomon sich von einer phantasmagorischen Karawane fortgerissen und verschleppt.
Aber auch Selysses, nach allem was wir wissen kein Kind Israel, hat ein ganz ähnliches Erlebnis. Beim Eintritt in die Stadt Den Haag wird er gleich auf semitische, teils islamitische und teils israelitische Verhältnisse eingestimmt. Er bemerkt eine islamitische Metzgerei, daneben den Massada-Grill, auch ein Minarett und über einem Teppichladen das primitive vierteilige Fresko einer durch die Wüste ziehenden Karawane. Auf den Trottoirs versammeln sich in kleinen Gruppen morgenländische Männer Als er am Strand von Scheveningen ausruht, ist ihm, als halte rings um ihn sein Volk Rast auf dem Weg durch die Wüste und halb im Traum noch glaubt er sich zum erstenmal in seinem Leben angekommen, zuhause. Die Fassade des Kurhauses ragt vor ihm auf wie eine große Karawanserei. Daß er hier zuhause sei, ist insofern eine unerwartete Wende, als er am Strand von Scheveningen nur den Schlaf nachholt, den er in der Nacht nach verschiedenen verstörenden Erlebnissen im semitischen Den Haag auf dem Bett in seinem Hotelzimmer liegend nicht hatte finden können. Dabei ist die gesamte Textpassage durch das Fassadengemälde der Karawane zu Beginn und das als Karawanserei erscheinende Kurhaus am Schluß eindeutig zu einer Einheit geklammert. Welches ist denn nun sein Volk, das da mit ihm am Strand von Scheveningen ruht, wo er doch an anderer Stelle bekundet hatte, am liebsten würde er keiner Nation, keinem Volk angehören. Eigentlich können die da lagern, wenn er in Wirklichkeit nicht einsam am Strand liegt, nur Feriengäste sein.

Das Ferienvolk aber, bestehend unter anderem aus verkleideten Hunden und Lemurengesichtern, ist, trotz seiner offenkundigen nomadisierenden Züge, eindeutig nicht das Volk des Selysses. In der Bahnhofshalle lagert hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, dicht nebeneinander hingestreckt wie sonst ein fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Wider Erwarten erhebt sich der eine oder andere und wandert herum zwischen den noch an der Erde liegenden Brüdern und Schwestern, als müßte er sich einüben in die Mühseligkeiten der nächsten Etappe einer endlosen Reise. Da muß zusätzlich nur noch ein mit Bergen von Müll beladener Kahn vorbeikommen, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzt, und Selysses verläßt Venedig fluchtartig.

Der Boden der großen Vorhalle in der neuen Pariser Nationalbibliothek, einem den Bedürfnissen jedes wahren Lesers kompromißlos entgegengesetztes, eigens zu seiner Verunsicherung und Erniedrigung erdachtes Gebäude, ist ausgelegt mit einem rostroten Teppich, auf dem weit voneinander entfernt ein paar niedrige Sitzgelegenheiten aufgestellt sind, Posterbänke ohne Rückenlehne und klappstuhlartige Sesselchen, auf denen die Bibliotheksbesucher nur so hocken können, daß die Knie ungefähr so hoch sind wie der Kopf und es schien, daß diese in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten, um ihre Heimstatt gebrachte Leser, sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai.

Bei den Nomaden in Paris nicht weniger als in Venedig handelt es sich um sekundäre Wüstenwanderer, Täter und Opfer zugleich der VerWÜSTung unserer Welt durch die Neuzeit, durch das Ferienvolk, durch lieb- und respektloses Bauen und andere Mittel, die uns zur Verfügung stehen.

Das in auffälliger Häufigkeit und unerwarteten Kontexten auftauchende Bild der Wanderer in der Wüste hat naturgemäß keine fixierte Bedeutung, bewegt sich aber in einem beschreibbaren Bedeutungsfeld mit den widersprüchlichen Zügen von Beglückung und Ängstigung, Anziehung und Abstoßung, Aufnahme und Verschlingen. In der Wüste hat das Volk Israel und wir mit ihm seinen Ursprung und in der Wüste sind wir unserem Ende nah. In dieser zweiten Bedeutung ist die Wüste nur einen Schritt vor den bei Sebald so häufig erscheinenden Bildern vom Ende der Welt.

Tief eingegraben hat sich dem Dichter das Wüstenbild offenbar bei der Lektüre der Erzählung Nachts. Kafkas Nacht ist in Austerlitz verwandelt in die Nacht der Bewohner Londons, die in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Als Austerlitz Selysses zu sich einlädt, steht auf der Rückseite einer Ansichtskarte aus den zwanziger oder dreißiger Jahren, die eine weiße Zeltkolonie zeigt in der ägyptischen Wüste, nichts als Saturday 19 March Alderney Street, ein Fragezeichen und ein großes A.

Ganz und gar unvergeßlich aber war Austerlitz Adelas Frage geblieben, als sie in Andromeda Lodge nach dem Federballspiel in die im Abendlicht erlöschende Welt hinausschauten: Siehst du die Wipfel der Palmen und siehst du die Karawane, die dort durch die Dünen kommt?

Mittwoch, 12. September 2012

Damenmode

Multiversum

Die Frauen in Sebalds Büchern stellt man sich nicht in Hosenkleidern vor. Photos, die anderes belegen könnten, sind nicht beigegeben, überhaupt finden sich so gut wie keine Photos von Frauen, die handelnde Personen im Text sind. Wie den meisten seiner Generation waren Selysses in der Kindheit Frauen in Beinröhren unbekannt. Die Weiber der amerikanischen Besatzungsmacht gingen in Hosen herum, undenkbar, daß eine Autochthone dem erschreckenden und abstoßenden Beispiel gefolgt wäre. Beifall dürfen sie für diese Zurückhaltung vom Dichter aber nicht erwarten, die Weiberschaft von W. bestand in seinen Augen ausnahmslos fast aus kleinen, dunklen, dünnzopfigen und bösen Bäuerinnen und Mägden. Auf der Tiroler Seite sieht es bis auf den heutigen Tag nicht besser aus. Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der inzwischen alt gewordenen Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. In Tracht und Gestalt entsprachen sie den Regendächern vollkommen. Die sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich verabscheuende Frau des Pächters im Engelwirt Sallaba ist ebensowenig zu den dünnzopfigen indigenen Bewohnerinnen des Ortes zu zählen wie die blasse Frau des Dr. Rambousek. In jeder Hinsicht unterscheidet sich von ihnen aber auch die einheimische Bauerstochter Romana in ihrer auffälligen Schönheit. Über die Art ihrer Schönheit und ihren Kleidungsstil werden wir nicht unterrichtet. In der Tracht den Tirolerinnen auf den ersten Blick ähnlich scheint die Mathild, die wir uns gleichwohl als schön vorstellen. Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Ihr Äußeres scheint etwas von Parodie oder Hohn auf die Weiberschaft mit sich zu tragen.

Mit den Jahren und vor allem durch zahlreiche Reisen weitet Selysses naturgemäß seinen Horizont. Ein Frauentyp, auf den er immer wieder stößt, ist blaß und beinahe transparent, von einer beängstigend zierlichen Statur oder gar körperhaft kaum noch vorhandenen. Gekleidet sind die Frauen dieser Richtung wohl alle wie die Tante Otýlie in ein schwarzseidenes plissiertes Überkleid mit einem abnehmbaren Kragen aus weißer Spitze oder in ein ähnliches Gewand, um so das Geheimnis ihres möglicherweise fehlenden Körpers zu wahren. Genauer unterrichtet über den Schnitt des Kleides werden wir allerdings längst nicht in allen Fällen.
Andererseits bedarf es nur einer Winzigkeit, um weibliche Körperlichkeit, wenn man es so ausdrücken will: sinnenfällig zu machen. Una fantesca, hörte ich sie leis sagen, und es ist mir gewesen, als spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin, aber immer hat dieses unvermutete Angerührtwerden etwas Gewichtsloses, Geisterhaftes, mir durch und durch Gehendes gehabt. Von Luciana Michelotti wird des weiteren gesagt, sie sei an sich resolut und lebensfroh, am Tag ihres 44. Geburtstages aber schwermütig, wenn nicht gar untröstlich gewesen. Wie sie sich kleidet, erfahren wir nicht.

Wenig später nur die Franziskanerin und das junge Mädchen im Zug nach Mailand, beide von vollendeter Schönheit. Bei der Franziskanerin erübrigt sich längeres Grübeln über die Tracht, wenn auch der Habit der Ordensschwestern wohl nicht ganz einheitlich ist. Das junge Mädchen trägt eine aus vielen farbigen Flecken geschneiderte Jacke um die Schultern, ob die Jacke ergänzt wird durch einen Rock oder vielleicht durch Jeans, erfahren wir nicht. Die Winterkönigin ist eine junge Frau mit lockigem Haar und braunem Samtbarett, alles andere wird mit gutem Grund verschwiegen, denn wenn wir einerseits nicht glauben können, sie sei von oben bis unten in der Weise des 17. Jahrhunderts gekleidet, so würde ein Hinweis etwa auf rote Chinohosen die Illusion, an der dem Dichter gelegen ist, erheblich stören.

Über Mme Landaus äußere Erscheinung erfahren wir nichts. Sie, die in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männern des näheren kennengelernt hat, gehört aber in keinem Fall zu den transparenten und körperlosen, das Gefühl ihrer Hand an der Schulter geht durch und durch. Über das Äußere von Marie de Verneuil, eine der weiblichen Lichtgestalten im Werk, erfahren wir am allerwenigsten und wenig mehr nur von ihrer Vorgängerin, wenn man so will, Adela Fitzpatrick: Ja, ich sehe Adela noch so schön wie sie damals war. Nicht selten, am Ende der langen Sommertage, spielten wir Badminton miteinander in dem seit langem ausgeräumten Ballsaal. Schlag für Schlag flog das gefiederte Geschoß hin und her. Die Bahn, die es durchsauste, und in der es sich jedesmal umwendete, ohne daß man gesehen hätte, wie, war ein weiß durch die Abendstunde gezogener Streifen, und Adela schwebte, wie ich hätte schwören können, viel länger oft, als es die Schwerkraft erlaubte, ein paar Spannen über dem Parkettboden in der Luft. Im lichtdurchfluteten Abermaw sehen wir sie beim Badminton mit unseren Augen in weißer Bluse und langem weißen Rock.

Die moderne physikalische Kosmologie erzählt uns von zahllosen Welten, die möglicherweise hinter der uns vertrauten, von Newton beschriebenen Welt verborgen sind, Welten, für die es vorerst nur mathematische Chiffren gibt und die Hoffnung auf Spuren im Teilchenbeschleuniger. Sebalds Figuren, Menschen sowohl wie Waschbären, die immer wieder das Gefühl überkommt, sie seien in eine andere, falsche Welt geraten, scheinen von einer ähnlichen Intuition geleitet. Parallele Empfindungen hat der Leser. San Giorgio, der diese Welt verlassen hat, kehrt, den Strohhut, den Pisanello ihm einst verpaßt hatte, noch immer in der Hand, als Giorgio Santini in sie zurück, in welcher Welt er in der Zwischenzeit war, kann niemand wissen. Vielleicht waren es sogar mehrere Welten, denn im Werk ist er in mehr als einer mehr oder weniger deutlichen Spiegelung vertreten. Mme Gherardi ist an der Seite Stendhals aus einer fremden Welt in die unsere übergewechselt, für wie lange, weiß man nicht. Luciana Michelotti sieht sich in einer anderen Welt mit Selysses getraut, ohne daß sie es weiß, oder weiß sie es? Dem Lehrerfräulein Rauch ergeht es nicht anders.
Weniger um fremde Welten, in die die Figuren entschwinden und aus denen sie gegebenenfalls auch wieder zurückkehren, soll es aber gehen als um Welten, die, ganz wie es die Stringtheorie postuliert, in ihren unbekannten Dimensionen eingefaltet am Wegrand liegen. Fast jede auftretende Frauengestalt scheint eine solche Welt zu sein. Zwei Merkmale ermöglichen diesen Eindruck, zum einen das Fehlen einer Romanintrige, die ihre Gestalten sei es als Hauptdarstellern sei es als Komparsen verbrauchen würde, und zum anderen die betörende Unbestimmtheit der weiblichen Figuren.

Wer möchte nicht erkunden, ob Tereza Ambrosovás Leben, zumal das außerhalb des Archivs, so transparent verläuft, wie ihre Erscheinung verheißt; erfahren, wie Amélie Cerfs Leben verlaufen ist, bevor sie ihre Körperhaftigkeit verlor; mit Luciana Michelotti nicht noch ein wenig mehr Zeit verbringen in ihrer zweiten Welt nach der Trauung; das Leben des Lehrerfräuleins Rauch nicht in der Weise erzählen wie Siegfried Lenz seine Schweigeminute erzählt hat, nur noch deutlich schöner und natürlich mit gutem Ende. Am Mailänder Bahnhof muß man sich entscheiden, ob man der Franziskanerin oder dem Mädchen mit der bunten Jacke folgen will, sie werden kaum längere Zeit in die gleiche Richtung gehen. Hinsichtlich der Winterkönigin wurde schon erwogen, ob sie identisch sei mit Marie de Verneuil, sicher eine kühne Hypothese, gemessen an den Zumutungen der Stringtheorie aber durchaus noch bodenständig. Gern würde man nicht nur Austerlitz von sich und Marie de Verneuil erzählen hören, sondern auch Marie de Verneuil über sich und Austerlitz, und Mme Landau sollte den kurzen Hinweis zu den ziemlich vielen Männern doch ein wenig präzisieren. Bei der Mathild hatten wir uns schon gefragt ob Sebald sie zur Protagonistin des geplanten Buches zur Münchener Räterepublik gemacht hätte.

Montag, 10. September 2012

Bunte Röcke

Farben der Zeit

Mit offenkundigem Beifall berichtet Sebald von Michael Parkinsons Anspruchslosigkeit in Kleiderfragen. Jahraus, jahrein trug er abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchwetzt waren, hat er selbst zu Nadel und Faden gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Austerlitz hält es ähnlich, er trägt schwere Wanderstiefel, eine Art Arbeitshose aus verschossenem blauen Kattun, sowie ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett. Im Hintergrund steht, so kann man mutmaßen, der Lebensstil Wittgensteins, den Sebald, wie er sagt, zu seinen ständigen Begleitern zählt. Auch Sebald selbst neigte, soweit wir das den Photographien ablesen können, nicht zu Extravaganz in der Bekleidung, wenn auch ein höherer Grad von Gediegenheit als bei Michael Parkinson erkennbar scheint. Selysses wiederum, so wie er etwa an die libanesischen Zeder im Park von Ditchingham gelehnt ist, scheint es noch etwas legerer zu lieben als sein Doppelgänger im realen Leben, aber das mag auch daran liegen, daß die meisten Photos, die wir kennen, Sebald bereits in einem reiferen Alter zeigen.

Aber längst nicht alle Figuren im Werk sind zur Wittgensteinfraktion zu rechnen. Stendhal kauft sich, als er nach Volterra fährt, einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen. Daß ihm diese mutige Ausstattung nicht zum Heil gereicht, ist eine andere Frage. Von der verschreckten Geliebten bleibt ihm fortan nur der farblose Gipsabdruck der linken Hand, der allerdings, und insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers, bei ihm Emotionen von einer Heftigkeit hervorrufen, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte. Goethe schreitet gedankenversunken in einem zimtbraunen Rock durch die Flucht der drei nach Südwesten hinausgehenden Zimmer. Zimtbraun ist wenn schon nicht gerade gelb, so doch modisch anspruchsvoll, und auch die Marienbader Affäre endet bekanntlich elegisch.
Man mag annehmen, daß der Wittgensteinstil des unauffälligen Sakkos - die Farben werden im Fall Michael Parkinsons nur zum Zweck der Unterscheidbarkeit genannt - und des offenen Hemdkragens Kennzeichen einer sich rationalisierenden Welt ist, dies unter Leitung der Wissenschaft, deren Vertreter Parkinson, Austerlitz und auch Sebald sind. Im neunzehnten Jahrhundert hatte sich der Wissenschaftler im Auftreten stilistisch von der Gesellschaft noch nicht abgesetzt, während in der Kunst, wie bei Stendhal zu beobachten, dandy- und pfauenhafte Absetzbewegungen feststellbar waren.

Le Strange ist weder Künstler noch Wissenschaftler, sondern Soldat in einer Zeit, als der Waffenrock längst nicht mehr bunt ist. Welche Ausbildung er hat und ob er zunächst einen zivilen Beruf ausgeübt hatte, erfahren wir nicht. Nach der Quittierung des Dienstes bringt er auf seinen Gütern nahezu jede Berufsausübung zum Erliegen. Die einzige Berufsgruppe, an der er sich in gewisser Weise noch orientiert, ist die der Heiligen. Ohne genaueres zu wissen, kann man annehmen, daß er bekleidungsmäßig der Wittgensteingruppe zuzurechnen ist. Seine diesbezügliche Konsumunlust ähnelt der des Michael Parkinson, eben das aber bringt ihn in einer überraschenden Volte auf die Seite Stendhals. Weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen mochte, holte es sich das Notwendige aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervor, und so konnte man ihn gelegentlich sehen in einem kanarienfarbenen Gehrock oder in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen: Ein Dandy der Askese halber.

Daß Le Strange mit dieser Prachtausstattung Florence Barnes betreffend ähnliches im Sinn gehabt hätte wie Stendhal bei Métilde Dembowska, kann guten Gewissens ausgeschlossen werden, ebenso aber auch, daß es sich bei den bunten Röcken um eine vom Autor sinnfrei eingeflochtene Arabeske handeln sollte. Über die Kleidung des anderen reichen Exzentrikers im Werk, Cosmo Solomon, erfahren wir wenig. Vom Klang des ganz dem Vokal O vorbehaltenen Namens her vermutet man schwarze Kleidung. Zum Sanctum der Spieler in der Salle de la Cuvette hatten ohnehin nur Herren im Smoking Zutritt. Auf dem Polofeld wird er das vorgesehene Dreß getragen haben. Wir wissen nicht, was er trug, als er nach Tagen im obersten Stock des Hauses in seinem alten Kinderzimmer gefunden wird, von wo er, mit bewegungslos herabhängenden Armen auf einem Schemelchen stehend, hinausschaute auf das Meer und die langsam vorbeiziehenden Dampfschiffe nach Boston und Halifax.
Mit dem Rückgriff auf die bunten Röcke vom Dachboden geht Le Strange in der Zeit zurück zu einem Punkt, als Röcke dieser Art weder auffällig noch unüblich waren, auch wenn selbst nach diesen Maßstäben der liebestolle Stendhal über das Ziel hinausschossen war. Bevor Stendhal zum papageienhaften Zivilisten wurde, hatte er die Pflichten und Freuden des bunten Waffenrocks erfahren, komplettiert durch hirschlederne Hosen, einen vom Nacken bis zum Scheitel mit gestutzten Roßhaar besetzten Helm, Stiefel, Sporen, Gürtelschnallen, Brustriemen, Epauletten, Knöpfe und Rangabzeichen. George Le Strange aber, der in den Wald bei Bergen Belsen eingedrungen war, um den bösen Drachen zu besiegen, hatte das Werk eines anderen Soldaten fortgeführt, das des Georgius Miles, dessen aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung allen Abendschein auf sich versammelt hatte.

Als zweifelsfreie Reinkarnation des San Giorgio ist Giorgio Santini zu erkennen, der nicht nur den Namen des Heiligen weiter trägt, sondern auch dessen formvollendeten weitkrempigen Strohhut, von dem Pisanello uns berichtet hat, in der Hand hält und der die weiße Rüstung des Ritters, den Anforderungen der Zeit nachkommend, in einen weißen Sommeranzug verwandelt hat mit ihn ergänzenden überaus eleganten steifleinenen Schuhen mit Lederbesatz. Santinis Anzug leuchtet für einen Augenblick nur auf in Le Stranges kanarienfarbenem Gehrock, bevor er sich in den Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft verwandelt. Schließlich bleiben von der schimmernden Wehr an einer auf dem Dachboden vergessenen alten Schneiderpuppe zwei hechtgraue Beinkleider und ein hechtgrauer Rock, dessen Kragen, Aufschläge und Vorstöße einmal von grasgrüner, die Knöpfe aber von goldgelber Farbe gewesen sein mochten, und auf dem Kopfholz der Puppe ein gleichfalls hechtgrauen Hut mit einem grünen Hahnenfederbusch. Als ich näher herantrat und an einen der leer herunterhängenden Uniformärmel rührte, ist dieser in Staub zerfallen.

Donnerstag, 6. September 2012

Paris

Die Gans der Gaukler

Thomas Bernhard schimpft über alles in der Welt, nicht zuletzt über Städte vom Norden bis zum Süden und vom Osten zum Westen. Ein eigener Band unter dem Titel Städtebeschimpfungen ist herausgegeben worden. Wenn Bernhard dann plötzlich die Stadt Warschau als dunkel und schön preist, ist man, ohne Anlaß zum Widerspruch zu haben, überrascht. Eine gewisse Willkür scheint zu herrschen. Sebald ist im Umgang mit Städten ausgeglichener und subversiver. Offene Beurteilungen der Städte, im Guten oder im Schlechten, gibt es nicht, es gibt nur den Wanderer, den Reisenden, der die Städte betritt und erlebt. In Venedig reicht ein mit Bergen von Müll beladener Kahn, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzt, um gleich wieder abzureisen.
Ginge es nach Austerlitz, gäbe es wohl gar keine Städte. Als Bauwerke läßt er gelten allein die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, den Aussichtspavillon und die Kindervilla im Garten, eine auf diese architektonischen Formen reduzierte städtische Ansiedlung ist schwer vorstellbar. Wahrscheinlich aber muß auf der Ebene des Städtebaus die Beurteilung neu einsetzten. Jeder hat Ortschaften vor Augen, die, erbaut zumeist aus den Materialien der nahen Umgebung, in ein Flußtal eingeschmiegt oder angelehnt an einen Berghang wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesenstadt wie beispielsweise Paris niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß sie rundum und in allen Einzelheiten ihm gefalle: so mag Austerlitz urteilen.

Der touristische Impetus ist bei der Lektüre der Bücher Sebalds angesprochen. Man sieht vertraute Städte wie Prag oder Paris wieder, ohne sich erneut auf eine reale Reise mit den immer vielfältigen Widrigkeiten begeben zu müssen. Wir fühlen uns wohl in Verona, Prag und Paris und fragen zunächst nicht, ob mit oder gegen den Willen des Dichters. Wie erleben wir Städte, was bringt den einen oder anderen dazu, Warschau als dunkel und schön zu sehen, ist es der Gesamteindruck oder sind es Einzelheiten. Um eine große Stadt insgesamt zu würdigen, muß man Höhe gewinnen. Austerlitz sieht Paris vom 18. Stock des Südostturms der neuen Nationalbibliothek aus, er sieht eine im Laufe der Jahrtausende aus dem jetzt völlig ausgehöhlten Untergrund herausgewachsene Stadtagglomeration, ein fahles Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz. Aus der Luft betrachtet sind Riesenstädte immer abstoßend und furchterregend, man denke an den Schrecken des Landeanflugs auf Los Angeles oder Chicago, wo es scheint, als müsse man bis an das Ende der Tage über die Häuserwüste dahingleiten.

Die Paris nach breiter Übereinkunft zuerkannte Schönheit muß also, da in der Gesamtschau nicht feststellbar, in den Einzelheiten gesucht werden. Die Austerlitz beigegebenen Bildausschnitte sind bei dieser Suche nicht hilfreich, sie sind von ausgesuchter Häßlichkeit, das krank und invalid wirkende Haus mit der Werbung für einen Enzianaperitif, der Blick vom Friedhof auf die dümmlich dastehende Tour Montparnasse, der delinquente Blickwinkel auf den ohnehin schon monströsen Bibliotheksbau. Die in Filmen immer wieder zitierten Vorzeigestücke, die Seine mit ihren Brücken und Ufern, die Île de la Cité, die Champs-Élysées bleiben in Bild und Wort unerwähnt. Die unförmige Betonmasse des Pont Mirabeau, sicher nicht der zierlichste Flußübergang, in dessen Nähe er in seiner ersten Pariser Zeit ausgangs der fünfziger Jahre gewohnt hatte, sieht Austerlitz, wie er sagt, noch heute manchmal in seinen Angstträumen.
Drei Zeitebenen des Buches sind in Paris zu unterscheiden, die Gegenwartszeit der Erzählung, die erwähnte Zeit des ersten Aufenthalts und die vierziger Jahre, als der Vater Maximilian Aychenwald hier seinen Fluchtort gefunden hatte. Paris scheint damit in der Erzählung gegenüber Prag* mit der dort verbrachten frühen Kindheit und dem Besuch in den neunziger Jahren eine zusätzliche Zeitebene aufzuweisen. Das ist bei genauer Betrachtung aber nicht richtig, Austerlitz hatte Prag schon im Jahre 1972 besucht, allerdings ohne es zu betreten, da er vom Flughafen aus mit Marie de Verneuil sogleich in einer schwarzen Tatra-Limousine nach Marienbad weitergefahren war. Eine größere Annäherung an die böhmische Hauptsstadt war unter Wahrung des realistischen Anspruchs der Erzählung nicht möglich, sofern der quälende Vorgang der Wiedererkennung vollständig dem zweiten Aufenthalt in den neunziger Jahren vorbehalten bleiben sollte. Schon so ist schwer zu verstehen, wie die Wiederbegegnung mit der tschechischen Sprache während des mehrtägigen Aufenthalts in Marienbad so gänzlich ohne Spuren bleiben konnte. Das Prag der Mutter und das Paris des Vaters haben im Buch gleiches Gewicht.

Der wichtigste Pariser Schauplatz in den fünfziger Jahren ist für Austerlitz die alte Nationalbibliothek in der rue Richelieu, wo er unter der Woche tagtäglich meist bis in den Abend hinein in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an seinem Platz gesessen ist, um nur für die Nacht in sein bei Amélie Cerf, einer körperhaft kaum noch vorhandenen Person, gemietetes Quartier in der Rue Emile Zola nahe dem Pont Mirabeau zurückzukehren. Hier, in der Bibliothek, lernt er Marie de Verneuil kennen. Mit Marie macht er dann lange Spaziergänge im Luxemburggarten, in den Tuilerien und im Jardin des Plantes. Wenn sie nicht in Paris ist, macht er sich regelmäßig auf, die Randbezirke der Stadt zu erkunden und fährt mit der Métro nach Montrueil, Malakoff, Charenton, Bobigny und zu anderen Orten hinaus. In Maisons-Alfort besucht er das Veterinärmedizinische Museum und erleidet auf der Rückfahrt einen Herzfall. Er wird in die Salpêtrière eingeliefert, wo Marie dann stunden- und tagelang an seinem Bett sitzt. Auf einem der wiederaufgenommenen Spaziergänge stoßen sie in der Gegend der Gare d’Austerlitz und des Quai d’Austerlitz auf das kleine Zelt des Wanderzirkus Bastiani. Die weiße Gans, die am Ende der Vorstellung mit vorgestrecktem Hals und gesenkten Lidern dem Vortrag der musizierenden Schausteller lauscht, kennt womöglich nicht nur ihr eigenes Los, sondern auch das derjenigen, in deren Gesellschaft sie sich befand, also auch das der Zuschauer, also auch das von Marie und Austerlitz.

Bei seinem Parisaufenthalt in der aktuellen Erzählzeit des Buches nimmt Austerlitz Wohnung in der Rue des cinq Diamants im dreizehnten Bezirk, dort wo sein Vater, in der rue Barrault, seine letzte Adresse hatte. Mit Selysses trifft er sich in der unweit entfernten Bistrobar Le Havane am Boulevard Auguste Blanqui, nahe der Métrostation Glacière, um ihm über den neuesten Stand seiner Ermittlungen zu berichten und auch von seiner frühen Zeit in Paris. An die Stelle der geschlossenen alten Nationalbibliothek in der rue Richelieu ist jetzt die neue am Quai François-Mauriac getreten, gar nicht weit von der Gare d’Austerlitz entfernt. Es handelt sich in Austerlitz' Augen um ein den Bedürfnissen jedes wahren Lesers kompromißlos entgegengesetztes, eigens zu seiner Verunsicherung und Erniedrigung erdachtes Gebäude. Undenkbar, daß er hier seine den Vater betreffenden Recherchen vorantreiben könnte, ganz undenkbar auch, daß er hier erneut Marie de Verneuil lesend antreffen würde.
Die vierziger Jahre, genauer die Zeit der deutschen Besetzung, sind durch keine Figur auf der Handlungsebene des Buches vertreten, sie leben fort unter den verschiedenen Orten und Plätzen der Stadt und treten jäh hervor. So richtig es ist, die verschiedenen Zeitebenen zu trennen, so richtig ist es auch, sie als eine ineinander verschlungene Einheit zu sehen. Es ist als spüre man im 18. Stock des Südostturms der Bibliothek die Strömungen der Zeit um seine Schläfen und seine Stirn, aber es ist nur ein Reflex des Bewußtseins von den verschiedenen Schichten, die dort drunten auf dem Grund der Stadt übereinandergewachsen sind. Maximilian Aychenwald mag bereits nach der ersten Pariser Razzia 1941 in Drancy interniert worden sein, oder erst im Juli des folgenden Jahres, vielleicht aber auch hat er Paris rechtzeitig verlassen, ist südwärts gefahren und zu Fuß über die Pyrenäen gegangen. Auf dem Friedhof Montparnasse erinnert ein Gedenktäfelchen an Hugo und Lucie Sussfeld, auf dem es heißt, daß die Eheleute 1944 bei der Deportation umgekommen sind. Unter einem Werbeplakat, das den Wintersportort Chamonix anpreist, schaut noch 1958 am oberen Rand ein vergilbter Anschlag der Pariser Stadtverwaltung aus dem Juli des Jahres 1943 hervor.

Der letzte Pariser Schauplatz des Buches ist die Gare d’Austerlitz. Daß sich das Schicksal des Titelhelden an dem, wie man meinen möchte, nach ihm benannten Bahnhof erfüllt, ist eine so weitgehende Koinzidenz, daß sie gar nicht einmal als solche benannt wird. Schon Ende der fünfziger Jahre war Austerlitz unweit der Gare auf die seine Zukunft lesende weiße Gans der Gaukler gestoßen; von diesem seiner Wohnung zunächst gelegenen Bahnhof könnte der Vater bald nach dem Einmarsch der Deutschen Paris verlassen haben. Jedenfalls ist ihm dieser Bahnhof immer der rätselhafteste aller Pariser Bahnhöfe gewesen. Nicht weit vom Bahnhof stapelten sich auf dem Lagerplatz Austerlitz-Tolbiac in den Jahren ab 1942 die den Internierten abgenommenen Güter. Über siebenhundert Eisenbahnzüge vollbeladen mit Beutestücken sind von hier abgefahren in die zerstörten Städte des Reichs. Von hier aus wird Austerlitz weitersuchen nach dem Vater und nach Marie de Verneuil.

Was den touristischen Impetus anbelangt, so ist nicht klar, ob Selysses Kafka tadelt oder feiert, wenn er mutmaßt, der habe auf seiner unter Schwindelgefühlen vollzogenen Italienreise nicht viel gesehen von all dem Sehenswürdigen. Kafka hat im übrigen auch Paris besucht. Im Café Biard fand er, daß man abgesehen vom Genuß des feinen Gebäcks zum deutlichen Genuß des eigentlichen Vorteils dieses Cafés kommt, nämlich des vollständigen Unbeachtetseins bei ziemlich leerem Lokal, guter Bedienung, nahe allen Menschen hinter dem Pult und vor der immer geöffneten Ladentür. Thomas Bernhard hat diese frühe Kaffeehauskette nicht mehr kennengelernt.