Donnerstag, 6. September 2012

Paris

Die Gans der Gaukler

Thomas Bernhard schimpft über alles in der Welt, nicht zuletzt über Städte vom Norden bis zum Süden und vom Osten zum Westen. Ein eigener Band unter dem Titel Städtebeschimpfungen ist herausgegeben worden. Wenn Bernhard dann plötzlich die Stadt Warschau als dunkel und schön preist, ist man, ohne Anlaß zum Widerspruch zu haben, überrascht. Eine gewisse Willkür scheint zu herrschen. Sebald ist im Umgang mit Städten ausgeglichener und subversiver. Offene Beurteilungen der Städte, im Guten oder im Schlechten, gibt es nicht, es gibt nur den Wanderer, den Reisenden, der die Städte betritt und erlebt. In Venedig reicht ein mit Bergen von Müll beladener Kahn, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzt, um gleich wieder abzureisen.
Ginge es nach Austerlitz, gäbe es wohl gar keine Städte. Als Bauwerke läßt er gelten allein die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, den Aussichtspavillon und die Kindervilla im Garten, eine auf diese architektonischen Formen reduzierte städtische Ansiedlung ist schwer vorstellbar. Wahrscheinlich aber muß auf der Ebene des Städtebaus die Beurteilung neu einsetzten. Jeder hat Ortschaften vor Augen, die, erbaut zumeist aus den Materialien der nahen Umgebung, in ein Flußtal eingeschmiegt oder angelehnt an einen Berghang wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesenstadt wie beispielsweise Paris niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß sie rundum und in allen Einzelheiten ihm gefalle: so mag Austerlitz urteilen.

Der touristische Impetus ist bei der Lektüre der Bücher Sebalds angesprochen. Man sieht vertraute Städte wie Prag oder Paris wieder, ohne sich erneut auf eine reale Reise mit den immer vielfältigen Widrigkeiten begeben zu müssen. Wir fühlen uns wohl in Verona, Prag und Paris und fragen zunächst nicht, ob mit oder gegen den Willen des Dichters. Wie erleben wir Städte, was bringt den einen oder anderen dazu, Warschau als dunkel und schön zu sehen, ist es der Gesamteindruck oder sind es Einzelheiten. Um eine große Stadt insgesamt zu würdigen, muß man Höhe gewinnen. Austerlitz sieht Paris vom 18. Stock des Südostturms der neuen Nationalbibliothek aus, er sieht eine im Laufe der Jahrtausende aus dem jetzt völlig ausgehöhlten Untergrund herausgewachsene Stadtagglomeration, ein fahles Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz. Aus der Luft betrachtet sind Riesenstädte immer abstoßend und furchterregend, man denke an den Schrecken des Landeanflugs auf Los Angeles oder Chicago, wo es scheint, als müsse man bis an das Ende der Tage über die Häuserwüste dahingleiten.

Die Paris nach breiter Übereinkunft zuerkannte Schönheit muß also, da in der Gesamtschau nicht feststellbar, in den Einzelheiten gesucht werden. Die Austerlitz beigegebenen Bildausschnitte sind bei dieser Suche nicht hilfreich, sie sind von ausgesuchter Häßlichkeit, das krank und invalid wirkende Haus mit der Werbung für einen Enzianaperitif, der Blick vom Friedhof auf die dümmlich dastehende Tour Montparnasse, der delinquente Blickwinkel auf den ohnehin schon monströsen Bibliotheksbau. Die in Filmen immer wieder zitierten Vorzeigestücke, die Seine mit ihren Brücken und Ufern, die Île de la Cité, die Champs-Élysées bleiben in Bild und Wort unerwähnt. Die unförmige Betonmasse des Pont Mirabeau, sicher nicht der zierlichste Flußübergang, in dessen Nähe er in seiner ersten Pariser Zeit ausgangs der fünfziger Jahre gewohnt hatte, sieht Austerlitz, wie er sagt, noch heute manchmal in seinen Angstträumen.
Drei Zeitebenen des Buches sind in Paris zu unterscheiden, die Gegenwartszeit der Erzählung, die erwähnte Zeit des ersten Aufenthalts und die vierziger Jahre, als der Vater Maximilian Aychenwald hier seinen Fluchtort gefunden hatte. Paris scheint damit in der Erzählung gegenüber Prag* mit der dort verbrachten frühen Kindheit und dem Besuch in den neunziger Jahren eine zusätzliche Zeitebene aufzuweisen. Das ist bei genauer Betrachtung aber nicht richtig, Austerlitz hatte Prag schon im Jahre 1972 besucht, allerdings ohne es zu betreten, da er vom Flughafen aus mit Marie de Verneuil sogleich in einer schwarzen Tatra-Limousine nach Marienbad weitergefahren war. Eine größere Annäherung an die böhmische Hauptsstadt war unter Wahrung des realistischen Anspruchs der Erzählung nicht möglich, sofern der quälende Vorgang der Wiedererkennung vollständig dem zweiten Aufenthalt in den neunziger Jahren vorbehalten bleiben sollte. Schon so ist schwer zu verstehen, wie die Wiederbegegnung mit der tschechischen Sprache während des mehrtägigen Aufenthalts in Marienbad so gänzlich ohne Spuren bleiben konnte. Das Prag der Mutter und das Paris des Vaters haben im Buch gleiches Gewicht.

Der wichtigste Pariser Schauplatz in den fünfziger Jahren ist für Austerlitz die alte Nationalbibliothek in der rue Richelieu, wo er unter der Woche tagtäglich meist bis in den Abend hinein in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an seinem Platz gesessen ist, um nur für die Nacht in sein bei Amélie Cerf, einer körperhaft kaum noch vorhandenen Person, gemietetes Quartier in der Rue Emile Zola nahe dem Pont Mirabeau zurückzukehren. Hier, in der Bibliothek, lernt er Marie de Verneuil kennen. Mit Marie macht er dann lange Spaziergänge im Luxemburggarten, in den Tuilerien und im Jardin des Plantes. Wenn sie nicht in Paris ist, macht er sich regelmäßig auf, die Randbezirke der Stadt zu erkunden und fährt mit der Métro nach Montrueil, Malakoff, Charenton, Bobigny und zu anderen Orten hinaus. In Maisons-Alfort besucht er das Veterinärmedizinische Museum und erleidet auf der Rückfahrt einen Herzfall. Er wird in die Salpêtrière eingeliefert, wo Marie dann stunden- und tagelang an seinem Bett sitzt. Auf einem der wiederaufgenommenen Spaziergänge stoßen sie in der Gegend der Gare d’Austerlitz und des Quai d’Austerlitz auf das kleine Zelt des Wanderzirkus Bastiani. Die weiße Gans, die am Ende der Vorstellung mit vorgestrecktem Hals und gesenkten Lidern dem Vortrag der musizierenden Schausteller lauscht, kennt womöglich nicht nur ihr eigenes Los, sondern auch das derjenigen, in deren Gesellschaft sie sich befand, also auch das der Zuschauer, also auch das von Marie und Austerlitz.

Bei seinem Parisaufenthalt in der aktuellen Erzählzeit des Buches nimmt Austerlitz Wohnung in der Rue des cinq Diamants im dreizehnten Bezirk, dort wo sein Vater, in der rue Barrault, seine letzte Adresse hatte. Mit Selysses trifft er sich in der unweit entfernten Bistrobar Le Havane am Boulevard Auguste Blanqui, nahe der Métrostation Glacière, um ihm über den neuesten Stand seiner Ermittlungen zu berichten und auch von seiner frühen Zeit in Paris. An die Stelle der geschlossenen alten Nationalbibliothek in der rue Richelieu ist jetzt die neue am Quai François-Mauriac getreten, gar nicht weit von der Gare d’Austerlitz entfernt. Es handelt sich in Austerlitz' Augen um ein den Bedürfnissen jedes wahren Lesers kompromißlos entgegengesetztes, eigens zu seiner Verunsicherung und Erniedrigung erdachtes Gebäude. Undenkbar, daß er hier seine den Vater betreffenden Recherchen vorantreiben könnte, ganz undenkbar auch, daß er hier erneut Marie de Verneuil lesend antreffen würde.
Die vierziger Jahre, genauer die Zeit der deutschen Besetzung, sind durch keine Figur auf der Handlungsebene des Buches vertreten, sie leben fort unter den verschiedenen Orten und Plätzen der Stadt und treten jäh hervor. So richtig es ist, die verschiedenen Zeitebenen zu trennen, so richtig ist es auch, sie als eine ineinander verschlungene Einheit zu sehen. Es ist als spüre man im 18. Stock des Südostturms der Bibliothek die Strömungen der Zeit um seine Schläfen und seine Stirn, aber es ist nur ein Reflex des Bewußtseins von den verschiedenen Schichten, die dort drunten auf dem Grund der Stadt übereinandergewachsen sind. Maximilian Aychenwald mag bereits nach der ersten Pariser Razzia 1941 in Drancy interniert worden sein, oder erst im Juli des folgenden Jahres, vielleicht aber auch hat er Paris rechtzeitig verlassen, ist südwärts gefahren und zu Fuß über die Pyrenäen gegangen. Auf dem Friedhof Montparnasse erinnert ein Gedenktäfelchen an Hugo und Lucie Sussfeld, auf dem es heißt, daß die Eheleute 1944 bei der Deportation umgekommen sind. Unter einem Werbeplakat, das den Wintersportort Chamonix anpreist, schaut noch 1958 am oberen Rand ein vergilbter Anschlag der Pariser Stadtverwaltung aus dem Juli des Jahres 1943 hervor.

Der letzte Pariser Schauplatz des Buches ist die Gare d’Austerlitz. Daß sich das Schicksal des Titelhelden an dem, wie man meinen möchte, nach ihm benannten Bahnhof erfüllt, ist eine so weitgehende Koinzidenz, daß sie gar nicht einmal als solche benannt wird. Schon Ende der fünfziger Jahre war Austerlitz unweit der Gare auf die seine Zukunft lesende weiße Gans der Gaukler gestoßen; von diesem seiner Wohnung zunächst gelegenen Bahnhof könnte der Vater bald nach dem Einmarsch der Deutschen Paris verlassen haben. Jedenfalls ist ihm dieser Bahnhof immer der rätselhafteste aller Pariser Bahnhöfe gewesen. Nicht weit vom Bahnhof stapelten sich auf dem Lagerplatz Austerlitz-Tolbiac in den Jahren ab 1942 die den Internierten abgenommenen Güter. Über siebenhundert Eisenbahnzüge vollbeladen mit Beutestücken sind von hier abgefahren in die zerstörten Städte des Reichs. Von hier aus wird Austerlitz weitersuchen nach dem Vater und nach Marie de Verneuil.

Was den touristischen Impetus anbelangt, so ist nicht klar, ob Selysses Kafka tadelt oder feiert, wenn er mutmaßt, der habe auf seiner unter Schwindelgefühlen vollzogenen Italienreise nicht viel gesehen von all dem Sehenswürdigen. Kafka hat im übrigen auch Paris besucht. Im Café Biard fand er, daß man abgesehen vom Genuß des feinen Gebäcks zum deutlichen Genuß des eigentlichen Vorteils dieses Cafés kommt, nämlich des vollständigen Unbeachtetseins bei ziemlich leerem Lokal, guter Bedienung, nahe allen Menschen hinter dem Pult und vor der immer geöffneten Ladentür. Thomas Bernhard hat diese frühe Kaffeehauskette nicht mehr kennengelernt.

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